HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2005
6. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zur Wirksamkeit eines absprachebedingten Rechtsmittelverzichts und deren Auswirkungen im Hinblick auf die Wiedereinsetzung

Anmerkung zum Beschluss des - Großen Senats für Strafsachen vom 03. März 2005 GSSt 1/04 = BGH HRRS 2005 Nr. 310.

Von Dr. Christina Koch, Berlin

I. Zulässigkeit von Rechtsmittelverzichtserklärungen

Auf ein Rechtsmittel kann unter den Voraussetzungen des § 302 Abs. 1 StPO verzichtet werden, sobald und solange ein Rechtsmittel eingelegt werden kann, also nicht vor Erlass der Entscheidung aber schon vor Bekanntgabe der Urteilsgründe.[1] Der Verzicht führt grundsätzlich[2] zur Unzulässigkeit sämtlicher gegen die Entscheidung möglichen Rechtsmittel und schließt in der Regel die Wiedereinsetzung aus.

II. Zulässigkeit von Absprachen

Dass Absprachen - sogenannte deals - mittlerweile Rechtswirklichkeit sind,[3] zeigt sich nicht zuletzt durch das gesetzgeberische Bedürfnis, die Zulässigkeit von Absprachen und deren Grenzen zu regeln, wie aus dem Diskussionsentwurf der Bundesregierung und des Bundesjustizministeriums[4] hervorgeht. Aber auch die StPO sieht, trotz ihrer grundsätzlich vergleichsfeindlichen Ausrichtung, vereinzelt Absprachen vor; explizit zum Beispiel in §§ 265 a, 470 S. 2 oder aber stillschweigend wie in § 153 a. Dem Adhäsions- und Privatklageverfahren sowie der Nebenklage sind Vergleiche ebenfalls nicht fremd. Es haben jedoch auch die vom Gesetz nicht vorgesehenen Absprachen - außerhalb der Hauptverhandlung, im Ermittlungsverfahren zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft oder zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht - in den letzten Jahren stark zugenommen,[5] sodass sich hier gleichsam die Frage nach deren Wirksamkeit stellt.

Das BVerfG hat Absprachen nicht für grundsätzlich unzulässig erklärt, sondern verbietet sie nur insoweit, als sie sich als "Handel mit der Gerechtigkeit"[6] darstellen. Ihre Wirksamkeit sei daher von der Einhaltung bestimmter Grundsätze wie der in §§ 136a, 244 Abs. 2 StPO festgelegten, abhängig zu machen.[7] So sollen Absprachen beispielsweise in der Hauptverhandlung und nicht vertraulich getroffen werden, ferner seien sie im Sitzungsprotokoll niederzulegen.[8]

Findet eine Absprache statt - sei es nun im Ermittlungs-, Vor- oder im Hauptverfahren - bietet das Gericht in der Regel die Verhängung einer milden Strafe, die Strafaussetzung zur Bewährung, die Einstellung von Nebenverfahren nach § 154 StPO oder die Anwendung des § 154 a StPO im laufenden Verfahren an. Als "Gegenleistung" nimmt es bevorzugt einen Rechtsmittelverzicht des Angeklagten entgegen.

III. Fortbestehendes Regelungsbedürfnis für absprachebedingte Rechtsmittelverzichts-erklärungen

Ob ein solcher nach Urteilsverkündung[9] vom Angeklagten erklärter Rechtsmittelverzicht, der im Rahmen einer Absprache vereinbart wurde, Wirksamkeit erlangen könne, wurde auch unter den Strafsenaten kontrovers behandelt. Der von der Unwirksamkeit einer solchen Erklärung ausgehende 3. Senat hat im Hinblick auf die entgegenstehende Rechtsprechung des 2. Senats,[10] des 1. Senats[11] und des 5. Strafsenats[12] angefragt, ob an dieser Rechtsprechung festgehalten werde. Während der 4. Senat und

der 5. Senat[13] mitteilten, dass sie den im Anfragebeschluss bezeichneten Rechtssätzen zustimmen und die eigene Rechtsprechung nicht entgegenstehe bzw. aufgegeben werde, haben der 1. Strafsenat[14] und der 2. Strafsenat[15] ausgeführt, an ihrer entgegenstehenden Rechtsprechung festhalten zu wollen. Nachdem der 2. Senat die bisherige Rechtsprechung des BGH zur Unzulässigkeit eines auf einer Absprache basierenden Verzichts in Zweifel gezogen hatte, legte der 3. Senat diese Rechtsfrage als Vorlegungsfrage 1 gemäß § 132 IV GVG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dem großen Senat vor.

Dieser hat sich[16] für die Zulässigkeit eines auf einer Absprache basierenden Verzichts jedenfalls insoweit ausgesprochen, als der Angeklagte dahingehend qualifiziert belehrt wurde, dass er ungeachtet der Absprache in seiner Entscheidung frei sei, gegen das abgesprochene Urteil binnen einer Frist Rechtsmittel einzulegen. Das gelte auch dann, wenn die Absprache keinen Rechtsmittelverzicht zum Gegenstand habe. Folglich sei "der nach einer Urteilsabsprache erklärte Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels unwirksam, wenn der Angeklagte nicht qualifiziert belehrt worden ist."

Das Problem des verständigungsbedingten Rechtsmittelverzichts wird durch die Überlastung der Strafjustiz, dem Bedürfnis nach zügiger Verfahrensbeendigung und Herbeiführung baldiger Rechtskraft auf der einen, und dem Gebot den staatlichen Strafanspruch, die Verfahrensgrundsätze und die Grundsätze der Strafbemessung nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen, auf der anderen Seite umgrenzt.

1. Bedenken gegen die Wirksamkeit absprachebedingter Verzichtserklärungen

Das Zurückziehen auf Verständigungen und dem Herbeiführen derart frühzeitig hergestellter Rechtskraft ist bei der Fülle der Verfahren und insbesondere bei langwierigen z.B. wirtschaftsstrafrechtlichen Verfahren nachvollziehbar und kann durchaus im Interesse aller Verfahrensbeteiligten liegen. Die gegen eine Wirksamkeit von auf Absprachen basierenden Rechtsmittelverzichterklärungen sprechenden Aspekte wiegen entgegen der Auffassung des Großen Senats aber in der Gesamtschau schwerer, sodass eine vom Gesetzgeber zu postulierende Unzulässigkeit eines solchen Verzichts, jedenfalls am Tag der Urteilsverkündung, vorzugswürdig erscheint.

Die Unwirksamkeit einer Rechtsmittelverzichtserklärung kommt beispielsweise bei schwerwiegenden Willensmängeln auf Seiten des Erklärenden[17]; allerdings auch durch die Art ihres Zustandekommens, z. B. wegen unzulässiger Einwirkung mit solchen Beeinflussungsmitteln, die nicht von § 136 a StPO verboten sind,[18] in Betracht. Bei einem aufgrund einer Absprache abgegebenen Verzicht gilt es besonders zu berücksichtigen, dass sich der hinsichtlich einer solchen Erklärung verhandlungsbereite Angeklagte in einer speziellen, das heißt stark beeinflussbaren Situation befindet. Er wird - die Höhe der Straferwartung stets im Blick - einen direkten oder indirekten Vorschlag des Gerichts zumeist schon deshalb annehmen, weil ihm dadurch die Furcht vor einer - unter Umständen nicht genau einschätzbaren - Straferwartung genommen wird. Uneingeschränkte Zustimmung hat in diesem Zusammenhang insbesondere der Beitrag von Schöch verdient, demnach ein solches "in die Enge treiben" nur zugunsten von der StPO gebilligter Ziele hinzunehmen sei. Dabei handele es sich unter anderem um den Beschleunigungsgrundsatz und den Zeugenschutz.[19] Anders verhalte es sich aber bei mit der Tat nicht konnexen - und daher nicht schützenswerten - Umständen wie der herbeigeführten Rechtskraft.[20] Ein Hinwirken darauf stelle eine unzulässige Verknüpfung der Rechtsmittelbefugnis mit der Höhe der Strafe dar. Der Verzicht müsse daher als eine für die Strafzumessung sachfremde Erwägung angesehen werden.[21]


Der eventuell mit der Entscheidung des Großen Senats geebnete Weg zu einem generell großzügigeren Umgang mit Absprachen könnte schließlich zur Zulässigkeit von Vereinbarungen für jedes aus Sicht des Gerichts gewünschte Verhalten führen. Dem ist als nicht wünschenswerte Entwicklung vorzubeugen.

Die typische, den Angeklagten möglicherweise in Bedrängnis bringende Hauptverhandlungssituation ist aber noch aus weiteren Gründen zu berücksichtigen. Der Beschuldigte sieht sich gegenüber der Staatsanwaltschaft und dem Gericht in der Regel nicht als gleichberechtigter Verhandlungspartner. Daher ähnelt schon das bloße in Aussicht stellen einer Strafmilderung durch das Gericht einer Willensbeeinflussung. Von der Erklärungsfreiheit des Angeklagten kann in diesem Moment somit in der Regel nicht ausgegangen werden. Er soll sich aber seiner ohnehin auf einen schmalen Bereich eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten nicht zu einem zu frühen Zeitpunkt begeben.[22] Aus Nr. 142 II S. 1 RiStBV ergibt sich bereits, dass der Angeklagte zu solch einer Entscheidung nicht gedrängt werden soll, wobei ein Verstoß dagegen nicht automatisch zur Unwirksamkeit des Verzichts führt.

Für den Angeklagten aber wird es von der Wirkung her kaum einen Unterschied machen, ob er zu einem Verzicht gedrängt wurde - wobei sich hier die Frage stellt, ob ein solches Drängen nicht unweigerlich in die Nähe der Methoden des § 136 a StPO rückt - oder ob das Gericht eine entsprechende Anregung der Staatsanwalt-

schaft aufnimmt oder selbst eine solche gibt.[23] Das Gericht kann sich kaum dagegen verwehren, seine Stellung gegenüber den anderen Verfahrensbeteiligten zu funktionalisieren.[24] Ohnehin ist zu erwarten, dass die Praxis Möglichkeiten finden wird, nach außen unverbindlich, aber für den Angeklagten spürbar, auf einen Konsens hinzuwirken.[25]

Rechtsbelehrungen, die in solchen Fällen in die Richtung gehen könnten wie "bei der Wahrnehmung durch die Verfassung garantierter Verteidigungsrechte riskiere der Beschuldigte Freiheitsentzug" seien jedenfalls der Auffassung von Hamm zufolge mit den nach § 136a StPO verbotenen Methoden vergleichbar.[26]

Das vorrangige - wenn nicht sogar einzige - Interesse der meisten Angeklagten ist eine geringe Strafe. Zeigt doch die Praxis, dass manche dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft erst dann Beachtung schenken, wenn es um die Höhe des beantragten Strafmaßes geht. So wird auch das Versprechen oder in Aussicht stellen von milder oder geringer Strafe den Angeklagten zu unüberlegten Erklärungen veranlassen können und dies unabhängig davon, ob er qualifiziert oder gar nicht belehrt wird oder ob er einen auf ihn einwirkenden Verteidiger hat oder nicht. Die Freiheit des Angeklagten zur Willensentscheidung und Willensbetätigung kann daher allein schon durch die Situation eingeschränkt und somit durch die Vereinbarung eines Verzichts im Rahmen einer Verständigung in rechtsstaatlich bedenklicher Erheblichkeit beeinträchtigt werden. Ein so entstandener Verzicht ist mit derselben Berechtigung unwirksam wie jede andere unter schweren Willensmängeln zu Stande gekommene Prozesserklärung.[27] Auch wenn nicht jede Beeinflussung zwingend zu Erklärungsmängeln führt, sollte in diesem bedeutsamen Bereich - der Angeklagte begibt sich schließlich aller weiterer Verteidigungsmöglichkeiten - die bloße Möglichkeit der Willensbeeinflussung zur generellen Unzulässigkeit solcher Erklärungen ausreichen. Dass die vom Großen Senat geforderte Belehrung, die nach einer Aufforderung zur freien Willensbildung anmutet, in der Tat zu größerer Willensfreiheit seitens des Beschuldigten führt, darf angezweifelt werden.


Ein weiterer unschöner Effekt des Belehrungsmodells ist, dass das Gericht mit der Belehrung zum Ausdruck bringen muss, dass sämtliches vorausgegangenes prozessuales Tun keinerlei Wirkung oder Bindung entfaltet. Es muss sich also befremdlicherweise von seinem eigenen Verhalten distanzieren.[28]

Darüber hinaus ist im Interesse des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Justiz zu bedenken, dass sich das Gericht unter Umständen durch das Verlangen eines Rechtsmittelverzichts in den Verdacht begibt, sich die Urteilbegründung leicht machen zu wollen, weil eine rechtliche Überprüfung dadurch ausgeschlossen wird.[29] Während dem Gericht hierbei eventuell die Möglichkeit des verkürzten Urteils nach § 267 IV StPO entgegen kommt, stellt das Vermeiden der Revision auch für die Staatsanwaltschaft eine Arbeitserleichterung dar.[30] In England ist dieser Gleichklang der Interessen des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und unter Umständen auch des Verteidigers an einer schnellen Erledigung des Verfahrens als bedeutsames Rechtsproblem bereits bekannt.[31] Aber auch hier wird davon gesprochen, ein solcher deal habe sogar den Zweck die revisionsrechtliche Kontrolle von Strafurteilen zu vermeiden.[32] Eine solche Kontrolle kann aber erforderlich sein, um unter unklaren Umständen zustande gekommene Absprachen einer Überprüfung zuzuführen.[33] Ein Verbot von verfahrensbeendenden Absprachen soll daher gerade auch verhindern, dass es die Verfahrensbeteiligten in dem Bewusstsein, die Entscheidung werde nicht mehr überprüft, an der erforderlichen Sorgfalt bei der Ermittlung des Sachverhalts und der Festlegung einer schuldangemessenen Strafe mangeln lassen.[34] Der wirksamste Schutz dagegen bestehe in der Unsicherheit darüber.[35] Im Übrigen kann davon ausgegangen werden, dass ein sach- und interessengerechtes Urteil in der Regel ohnehin nicht angefochten wird.[36] Und für eine formgerechte Praxis erschließt sich ein Bedürfnis nach einem Rechtsmittelverzicht ohnehin nicht.[37]

Auch im Hinblick auf die immer wieder zu tagende tretende Diskussion um die Reduzierung der Gerichtsbarkeit um eine ganze Instanz, die mit demselben Argument der Prozessökonomie vorangetrieben wird, sollte auch hier der Unmöglichkeit der rechtlichen Überprüfung Einhalt geboten werden. Auch wenn nicht unterstellt werden kann, die Gerichte oder Staatsanwaltschaften tendierten zu Lasten des ordnungsgemäßen Verfahrens zu verfahrensbeendenden Maßnahmen, wird das Vertrauen in die Gerichtspraxis durch eine eindeutige Handhabung verstärkt bzw. wiederhergestellt.

Geht man also mit guten Gründen von der Unwirksamkeit eines vereinbarten Verzichts aus, stellt sich dann die Frage, wie festgestellt werden kann, dass ein tatsächlich abgegebener, vermeintlich nicht auf einem deal basierender Verzicht nicht doch durch eine - gegebenenfalls im Vorfeld stattgefundene - Absprache entstanden ist.[38]

Eine einheitliche Linie der Rechtssprechung zur Vermeidung von solchen heimlichen deals, wie auch von Meyer-Goßner gefordert,[39] ermöglicht der Beschluss des Großen Senats jedenfalls nicht. Zumindest sollte daher bei jeder vorausgegangenen unzulässige Absprache von einer die Erklärung zumindest mit-motivierenden Wirkung ausgegangen und der Verzicht auch dann für unwirksam gehalten werden.[40] Letztlich setzt ein solches Vorgehen aber auch die Annahme der generellen Unzulässigkeit eines Verzichts basierend auf einem deal voraus. Auch die Einhaltung der vor dem Beschluss des Großen Senats durch die Rechtsprechung entwickelten anderen Regulative, wie das Festhalten im Protokoll oder das Erfordernis der Öffentlichkeit der Absprache unter Mitwirkung aller Beteiligten, gebieten keine andere Bewertung. Vielmehr kann der Umstand der Gegenwart aller Verfahrensbeteiligten - auch wenn es den Prinzipien der Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und Öffentlichkeit dienen mag - für den Angeklagten selbst eher eine einschüchternde Wirkung haben. Auch die positive und negative Beweiskraft des Protokolls nach § 274 Satz 1 StPO vermag für die Einschätzung, ob die Erklärung willensmängelfrei ist oder auf einer im Vorfeld stattgefundenen heimlichen Absprache basiert, wenig herzugeben.

Gegen die Erweiterung der Zulassung von Absprachen im Allgemeinen sprechen auch die neuen Unterbrechungsvorschriften. Gemäß § 229 I, II StPO kann die Hauptverhandlung zehn bzw. dreißig Tage unterbrochen werden.[41] Durch die längere Unterbrechungsmöglichkeit laufen die Gerichte und Verfahrensbeteiligten weniger Gefahr den bereits verhandelten Teil wiederholen zu müssen. Ferner ist der Vorteil der herbeigeführten Rechtskraft in Anbetracht der kurzen Fristen für die Wiedereinsetzung und die Revision nur ein geringer.

2. Alternativer Lösungsansatz - zwingende Überlegenszeit zur Abgabe einer Verzichterklärung

Wie bis hierhin dargelegt, ist der übliche Zeitpunkt, unmittelbar nach der Urteilsverkündung, nicht prädestiniert dem Verzichtenden eine wohlüberlegte Erklärung unter Einbeziehung aller Konsequenzen abzuverlangen.[42] Da sich der Beschuldigte bei der übereinstimmend herbeigeführten Rechtskraft aufgrund einer Absprache aller Verteidigungsmöglichkeiten begibt, wiegt dieser Eingriff in die Rechte des Angeklagten besonders schwer. Zu seinem Schutz ist es daher angezeigt, eine in einer solchen Situation abgegebene Erklärung noch mal einer Prüfung unterziehen zu können, also eine über die Unwirksamkeit der Verzichtserklärung mögliche Wiedereinsetzung zu gewährleisten.

Begrüßenswert ist daher auch der Vorschlag der Strafverteidigervereinigung,[43] den auf einer Absprache basierenden Verzicht entweder ganz oder zumindest für den Tag der Urteilsverkündung zu verbieten.[44] Damit könnte eine nicht disponible Überlegenszeit eingeräumt werden, durch welche die oben genannten Bedenken hinsichtlich des Überrumplungseffekts für den Angeklagten und die Druckausübung auf denselben ausgeräumt werden können. Auch dem Gedanken von Nr. 142 II S. 1 RiStBV, demnach eine Verzichtserklärung unmittelbar nach der Urteilsverkündung vermieden werden soll, würde dadurch Rechnung getragen. Befürchtungen wegen gegebenenfalls mangelnder Sorgfalt der Verfahrensbeteiligten könnte dadurch ebenfalls begegnet werden, da bei der Hauptverhandlung und Vorbereitung eventueller Absprachen für einen später zu erklärenden Verzicht, die auch von Salditt[45] geforderte Unsicherheit hinsichtlich einer Überprüfung bestehen bliebe.

Allerdings bleibt damit die Frage unbeantwortet, wie man informellen Absprachen zu begegnen haben wird. Der Diskussionsentwurf der Bundesregierung und des Bundesjustizministeriums, der in § 257 b Abs. 2 S. 4 ein solches Verbot von absprachebedingten Verzichtserklärungen vorsieht,[46] führt wohl lediglich zur Nicht-Protokollierung einer solchen Absprache, verhindert sie aber nicht. Sinnvoll ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag, nach § 273 StPO nicht nur die abgesprochene Strafobergrenze, sondern auch die in Aussicht gestellte Alternativstrafe zu protokollieren.[47]

IV. Folgen für die Wiedereinsetzung - auch hier Überlegensfrist als Alternative

Ist der Verzicht unwirksam, kann dies die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen unverschuldeter Fristversäumnis begründen. Wenn auch nicht Bestandteil der Vorlegungsfrage, kommt der Behandlung dieses Problems praktische Tragweite zu. Und zwar für die Wiedereinsetzung und damit auch für das diesbezügliche Verteidigerverhalten, weil vorhersehbar ist, dass erst nach Ablauf der kurzen Rechtsmitteleinlegungsfrist das Bedürfnis nach Überprüfung einer irregulären Absprache entstehen kann.[48] Hier ist das Merkmal des Wegfall des

Hindernisses gemäß § 45 I 1 StPO und die Beurteilung der Verschuldensfrage nach § 44 S. 1 StPO von zentraler Bedeutung. Voraussetzung ist natürlich, dass Wiedereinsetzung nicht bereits nach § 44 S. 2 StPO wegen mangelhafter Belehrung zu gewähren ist.

Dem Großen Senat zufolge komme § 44 S. 2 StPO jedenfalls für den Fall der unterbliebenen qualifizierten Belehrung nicht zur Anwendung. Die Vermutung gelte im Sinne der Rechtssicherheit allein für die nach § 35 a S. 1 StPO unterblieben Belehrung. Nur demjenigen, der ohne gesetzliche Vermutung glaubhaft machen könne (§ 45 Abs. 2 StPO), aufgrund unstatthafter Einwirkungen auf Rechtsmittel verzichtet und das Rechtsmittel folglich nicht fristgerecht eingereicht zu haben, weil er sich unverschuldet zu Unrecht daran gebunden hielte, könne nach § 44 Satz 1 StPO Wiedereinsetzung zu gewähren sein. Das sei namentlich der Fall, weil er entgegen bestehender Informationspflichten des Gerichts, gar wider besseres Wissen, vom Beschreiten eines vorhandenen, von ihm gewünschten Rechtsweges abgebracht worden sei.[49] Die Glaubhaftmachung werde in Fällen dieser Art nicht selbstverständlich gelingen. Insbesondere liege in der Unkenntnis des Angeklagten oder seines Verteidigers von bisheriger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs oder von der vorliegenden Entscheidung keine Verhinderung im Sinne des § 44 Satz 1 StPO.[50]

 

Dem wird entgegengehalten, dass bei Vorliegen eines Dissens bzw. wenn das Gericht oder die Staatsanwaltschaft die Absprache im Nachhinein nicht erfülle, Wiedereinsetzung zugelassen werden müsse.[51] Es sei in diesen Fällen davon auszugehen, dass der Angeklagte deshalb an der Fristbeachtung unverschuldet verhindert war, weil er davon ausgehen musste, dass die Absprache erfüllt werde. Auch wenn kein Rechtsmittelverzicht erklärt wurde, eröffne das dem Angeklagten die Wiedereinsetzungsmöglichkeit bei der Nichteinhaltung einer Absprache.[52] Das Hindernis für die Fristwahrung liege darin, dass der Anfechtungsberechtigte den Verzicht zunächst für wirksam gehalten habe.[53] Das wird in der Regel auch bei Vorhandensein eines Verteidigers unverschuldet sein, da im Strafverfahren das Verteidigerverhalten nicht zugerechnet wird. Die Voraussetzungen des § 44 I 1 StPO könnten unter diesen Voraussetzungen leichter zu erfüllen sein als vom Großen Senat angenommen. Bezüglich der Wochenfrist des § 45 I 1 StPO muss dann geklärt werden, auf welchen Zeitpunkt abzustellen ist.

Der 4. Senat hatte den für den Angeklagten günstigen Zeitpunkt seiner eigenen Kenntnis gewählt,[54] die in der dort zugrunde liegenden Konstellation mit Zugang des Gerichtsschreibens bei der Verteidigerin angenommen wurde. Allerdings ist der Urteilsanmerkung von Rieß[55] dahingehend zuzustimmen, dass der hier entschiedene Fall, bei dem die Absprache sich im Nachhinein als dissensbehaftet darstellte und der Rechtsmittelführer letztlich deshalb Wiedereinsetzung beantragte, weil die Absprache nicht seinen Vorstellungen von derselben entsprach, nicht der herkömmlich von § 45 I 1 StPO erfasste ist.[56]

Es ist grundsätzlich einzuräumen, dass die Gewährung von Wiedereinsetzung in solchen Fällen, sowohl die Rechtssicherheit als auch die Wahrung der kurzen Rechtsmittelfristen gefährden kann. Schwerer wiegt meines Erachtens aber die Konsequenz der Nichtgewährung in Form der oben bereits dargestellten Unüberprüfbarkeit auf diesem Weg entstandener Entscheidungen. Ob mit dem Großen Senat tatsächlich davon auszugehen ist, dass eine solche Überprüfung in der Regel nicht gewünscht werde, erscheint fraglich. Gelingt es hier, abgrenzbare Fallgruppen, samt der maßgeblichen Zeitpunkte herauszuarbeiten, könnte die Wiedereinsetzung ein taugliches Kontrollinstrument der Absprachen darstellen und eine Entscheidung über deren Wirksamkeit vereinfachen.[57]

Denkbar wäre hier bei Vorhandensein eines Verteidigers darauf abzustellen, dass er in Kenntnis der eventuellen Unwirksamkeit eines Verzichts binnen einer Woche auf Beantragung der Wiedereinsetzung hinwirkt. Eine diesbezüglich falsche Beratung würde dann die Anwaltshaftung auslösen. Das liefe allerdings der grundsätzlichen Unzurechenbarkeit des Anwaltverschuldens im Strafverfahren entgegen. Hat der Angeklagte keinen Anwalt muss es auf seine eigene positive Kenntnis ankommen. Diese wird in der Regel dadurch entstehen, dass ihm seitens des Gerichts Abweichungen der Vereinbarungen mitgeteilt werden.

Zu denken wäre auch an eine dem zivilrechtlichen Verfahren entsprechende Widerrufsfrist samt der damit verbundenen Möglichkeit den Rechtsmittelverzicht - untechnisch gesprochen - zu widerrufen, also nicht wirksam werden zu lassen. Allerdings ist die Nähe zum Vergleich, der im Strafverfahren eben nicht zugelassen, und Ausfluss der Dispositionsmaxime ist, eher unerwünscht bzw. ist ein "Vergleich im Gewand eines Urteils" gerade verboten.[58]

Vorzugswürdig erscheint auch hier ein Zurückgreifen auf die von der Strafverteidigervereinigung vorgeschlagene Überlegensfrist. Die Unzulässigkeit einer am Tag der Urteilsverkündung abgegebenen Verzichtserklärung vorausgesetzt, könnte dem Angeklagten eine Frist - beispielsweise von zwei Tagen - zur Verzichtserklärung eingeräumt werden. Begänne mit deren Ablauf die Wochenfrist des § 45 I StPO, bliebe es bei einer systemimmanenten kurzen Rechtsmittelfrist, die den Interessen des

Angeklagten dient und der Rechtssicherheit nicht im Wege steht. Hier könnte die Ansicht des Großen Senats modifiziert dergestalt zum Tragen kommen, dass das Fehlen einer qualifizierten Belehrung eben doch nach § 44 S. 2 StPO das Nichtverschulden der Fristsäumnis nach sich ziehen würde. Eine solche Belehrung müsste dem Angeklagten vor Augen führen, dass er - erklärt er im Rahmen der ihm eingeräumten Überlegungsfrist den Rechtsmittelverzicht - keine Handhabe gegen das Urteil mehr in Händen hält. Wurde er also ordnungsgemäß - qualifiziert hinsichtlich der Folgen seiner Erklärung bezüglich eines Rechtsmittels und im Hinblick auf die Wiedereinsetzung sowie über die Alternativen bei Nichterklären des Verzichts - belehrt, wäre die Wiedereinsetzung ausgeschlossen. Alles unter der Voraussetzung, dass der Tag der Urteilsverkündung aus Gründen des Beschuldigtenschutzes für den Verzicht nicht zugelassen ist. Einzige Möglichkeit für ein Wiedereinsetzungsverfahren wäre dann die fehlende Belehrung entsprechend § 44 S. 2 StPO. Damit entfiele natürlich nur das Verschuldenserfordernis. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Belehrungsmangel und Fristversäumnis bliebe auch hier erforderlich.[59]

Auch der Große Senat für Strafsachen appelliert an den Gesetzgeber, die Zulässigkeit und, bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. Es sei primär Aufgabe des Gesetzgebers, die grundsätzlichen Fragen der Gestaltung des Strafverfahrens und damit auch die Rechtsregeln, denen die Urteilsabsprache unterworfen sein soll, festzulegen. Dabei komme ihm - auch von Verfassungswegen - ein beachtlicher Spielraum zu.[60] Bis das geschieht, existiert eine Fortbildung von Richterrecht, die für weitere Diskussion sorgen wird.


[1] BGH 43, 195.

[2] Falls nicht ein Teilverzicht erklärt wurde oder sonstige Beschränkungen seitens des Erklärenden vorgenommen werden.

[3] Salditt, ZStW 2003, 570.

[4] Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens, Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag, Fraktion Bündnis 90/Die Grüne im Deutschen Bundestag, Bundesministerium der Justiz vom 18.02.2004

[5] Kleinknecht/Meyer-Goßner Einl. Rn. 119a.

[6] NJW 1987, 2662.

[7] NStZ 1987, 419.

[8] NJW 2001, 2643; eine die Praxis der heimlichen deals beendende Rechtsprechungsvereinheitlichung fordernd: Meyer-Goßner, StraFo 2003, 405.

[9] Eine zuvor abgegebene Verzichtserklärung ist ohnehin als gegenstandslos zu betrachten.

[10] BGH, NJW 1997, 2691; Beschl. v. 17.7.1991 - 2 StR 230/91; Beschl. v. 25.10.2000 - 2 StR 403/00; NStZ - RR 2001, 334; Beschl. v. 4.7.2001 - 2 StR 247/01.

[11] BGH, NStZ 2000, 386; NStZ-RR 2002, 114.

[12] BGH, Beschl. v. 5.9.2001 - 5 StR 386/01.

[13] Beide BGH, NJW 2004, 1335 = StV 2004, 4.

[14] BGH, NStZ 2004, 164 = StV 2004, 115.

[15] BGH, NJW 2004, 1336 = StV 2004, 196.

[16] Wie auch zuvor schon durch den vierten und fünften Senat vorgeschlagen: BHG StV 2004, 115, 117 f.; BGH StV 2004, 196, 197 f.

[17] BVerfG, NJW 1987, 2662; BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 - Rechtsmittelverzicht 12.

[18] BGHSt 45, 51 ff.

[19] Schöch, NJW 2004, 3463.

[20] Weider, NStZ 2004, 340.

[21] Ebenda.

[22] BGH, Beschl. v. 19.10.1999 4 StR 86/99 NStZ 2000, 97.

[23] Vgl. BGH, Vorlagebeschluss v. 15.06.2004 - 3 StR 368/02 und 3 StR 415/02, NJW 2004, 2538; Erb GA 2000, 524.

[24] Gaede/Rübenstahl, HRRS 2004, S. 346.

[25] Gaede/Rübenstahl, HRRS 2004, S. 345.

[26] Hamm, NJW 2004, Editorial Heft 41.

[27] Beulke, Strafprozessrecht, 8. Auflage, Rn. 396a.

[28] Gaede/Rübenstahl, HRRS 2004, S. 351.

[29] So auch Rieß, NStZ 2000, S. 99.

[30] BGH, NJW 2003, 3427

[31] Nachweise bei Gaede/Rübenstahl, HRRS 2004, S. 350, Fn. 76.

[32] Hamm, NJW 2004, Editorial Heft 41; ähnlich Satzger JuS 2000, 1158; Weider StV 2000, 540.

[33] Rieß, NStZ 2000, S. 99.

[34] BGH, Vorlagebeschluss v. 15.06.2004 - 3 StR 368/02 u. 3 StR 415/02, NJW, 2004, 2538.

[35] Salditt, ZStW, 2003, 580.

[36] So auch Gaede/Rübenstahl, HRRS 2004, S. 345.

[37] Gaede/Rübenstahl, HRRS 2004, S. 345.

[38] Schöch, NJW 2004, 3465.

[39] Meyer-Goßner, StraFo 2003, 401-406.

[40] So auch Rieß, NStZ 2000, 99.

[41] Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kann eine dreißigtätige Unterbrechung auch zwei- oder nach § 229 II S. 3 StPO dreimal erfolgen.

[42] So auch Gaede/Rübenstahl, HRRS 2004, S. 346.

[43] Auch wenn die Strafverteidigervereinigung die Regelung von sonstigen Verfahrensabsprachen grundsätzlich befürwortet.

[44] Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum Diskussionsentwurf der Regierungskoalition und des Bundesministeriums der Justiz zu einer Reform des Strafverfahrens vom 31.09.2004, S. 17.

[45] Salditt, ZStW 2003, 580.

[46] Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens, Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag, Fraktion Bündnis 90/Die Grüne im Deutschen Bundestag, Bundesministerium der Justiz vom 18.02.2004

[47] Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum Diskussionsentwurf der Regierungskoalition und des Bundesministeriums der Justiz zu einer Reform des Strafverfahrens vom 31.09.2004, S. 17. Der Diskussionsentwurf sieht in § 273 Abs. 1 eine entsprechende auf § 257 b Abs. 2 verweisende Regelung vor.

[48] Rieß, NStZ 2000, 100.

[49] Vgl. BGHSt 45, 227; 47, 238.

[50] Vgl. BGH bei Becker NStZ-RR 2002, 66; BGH NStZ 2004, 162.

[51] So auch Satzger und Höltkemeier, NJW 2004, 2489.

[52] Satzger und Höltkemeier, NJW 2004, 2489.

[53] BGH, NStZ 1995, 556; Dencker, Willensfehler bei Rechtsmittelverzicht und Rechtsmittelzurücknahme im Strafprozess, 1972, S. 45f.

[54] BGH, NStZ 2004, 98.

[55] NStZ, 2004, 98-100.

[56] So auch Rieß, NStZ 2000, 100.

[57] Rieß, NStZ 2000, 100.

[58] BVerfG, NJW 1987, 2662 = NStZ 1987, 419.

[59] Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 44 Rn. 22.

[60] BVerfGE 57, 250, 275 f.