HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2005
6. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

543. BGH 5 StR 129/05 - Beschluss vom 14. Juni 2005 (LG Hamburg)

BGHR; Fristsetzung zur Außerkraftsetzung des § 246 Abs. 1 StPO und des § 246 Abs. 6 StPO nach extremer Verzögerung der Verhandlung und zur Prozessverschleppung gestellten Beweisanträgen (Beweisantragsrecht; rechtsmissbräuchliches Verteidigerverhalten; Bescheidung durch Gerichtsbeschluss bei vorheriger Information über die angewendeten Gründe; Beweisanregung; faires Verfahren; Missbrauchsverbot; Recht auf Verfahrensbeschleunigung und Beschleunigungsgebot; legitime Verteidigeraufgaben; Präklusion; Hilfsbeweisantrag; funktionsfähige Strafrechtspflege; Beruhen); Anforderungen an die Vortragspflicht gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO bei Großverfahren (Monatsfrist); Recht auf das letzte Wort (ausgeschlossener Angeklagter; von vornherein untauglicher Versuch der Rechtsgewährung); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 244 Abs. 3 Satz 2, Abs. 6 StPO; § 246 Abs. 1 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 345 Abs. 1 StPO; § 337 StPO; § 258 StPO; § 231b StPO

1. Wurde eine Hauptverhandlung extrem verzögert, namentlich durch zum Zweck der Prozessverschleppung gestellte Beweisanträge, ist zur Verhinderung weiterer Verfahrensverzögerung die prozessuale Möglichkeit in Betracht zu ziehen, den Verfahrensbeteiligten eine Frist zu setzen und nach deren Ablauf gestellte Beweisanträge grundsätzlich nicht mehr durch gesonderten Gerichtsbeschluss, sondern erst in den Urteilsgründen zu bescheiden. (BGHR)

2. Folgende Verfahrensweise hält der Senat für erwägenswert: Es wird den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Entgegennahme von Beweisanträgen gesetzt und - mit eingehender Begründung - die pauschale Ablehnung nach Fristablauf gestellter Anträge wegen Verschleppungsabsicht vorab beschlossen; hernach überprüft das Gericht die Anträge, ohne sie allerdings jeweils durch Gerichtsbeschluss nochmals gesondert individuell zu bescheiden, und zwar vornehmlich unter Aufklärungsgesichtspunkten, zudem bescheidet es sie wie Hilfsbeweisanträge in den Urteilsgründen; hierbei ist dann freilich der Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht nicht ausgeschlossen. (Bearbeiter)

3. Die Wahrnehmung legitimer Verteidigungsaufgaben besteht sowohl darin, den Angeklagten vor einem materiellen Fehlurteil zu schützen, als auch in dem Schutz des Angeklagten vor einem prozessordnungswidrigen Urteil

(vgl. BGH NStZ 2005, 341). Nicht davon umfasst ist ein Verhalten, mit dem vorrangig die Verhinderung eines Verfahrensabschlusses in angemessener Zeit durch die massive Beeinträchtigung von Verfahrensherrschaft und Arbeitsfähigkeit des Strafgerichts betrieben wird. (Bearbeiter)

4. Die Anforderungen an die Vortragspflicht gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO sind bei mehrjährigen umfangreichen Verfahren im Lichte der nicht verlängerbaren Monatsfrist nach § 345 Abs. 1 StPO nachsichtiger zu beurteilen. (Bearbeiter)

5. Dem deutschen Strafprozessrecht ist eine Präklusion im Beweisantragsrecht grundsätzlich fremd (vgl. BGH StraFo 2005, 249). Das Gericht ist gemäß § 246 Abs. 1 StPO grundsätzlich verpflichtet, bis zum Beginn der Urteilsverkündung Beweisanträge entgegenzunehmen (st. Rspr., vgl. BGHSt 16, 389, 391; 21, 118, 123 f.; BGHR StPO § 238 Abs. 2 Beweisantrag 1). (Bearbeiter)

6. Das Gericht ist nicht befugt, der Verteidigung schlechthin und von vornherein die Stellung prozessual zulässiger Anträge zu verbieten (BGHSt 38, 111, 114). (Bearbeiter)

7. Zwar muss auch bei einem wegen ordnungswidrigen Benehmens nach § 231b StPO ausgeschlossenen Angeklagten in aller Regel der Versuch gemacht werden, ihn für die Gewährung des letzten Worts wieder hinzuzuziehen. Ein von vornherein aussichtslos erscheinender Versuch ist im Hinblick auf die Ordnung der Verhandlung und das Ansehen des Gerichts indes nicht erforderlich (BGHSt 9, 77, 81). Die tatrichterliche Prognose der Aussichtslosigkeit eines erneuten Zulassungsversuchs ist vom Revisionsgericht jedenfalls dann hinzunehmen, wenn das Gericht die widerstreitenden Interessen anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls sorgfältig und nachvollziehbar abgewogen hat. (Bearbeiter)


Entscheidung

524. BGH 1 StR 326/04 - Urteil vom 7. April 2005 (LG Stuttgart)

BGHSt; Zeugnisverweigerungsrecht eines Notars und seines Gehilfen amtspflicht- und gesetzeswidriger Umsetzung eines dem Notar erteilten Auftrags (Einschränkung durch die Anzeigepflicht gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 GwG; mangelnde Entbindung durch den Notar); Vertrauensschutz im Strafverfahrensrecht (Rückwirkung; Recht auf ein faires Verfahren).

Art. 6 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO; § 53a StPO; § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 GwG).

1. Zeugnisverweigerungsrecht eines Notars und seines Gehilfen gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 53a StPO bei amtspflicht- und gesetzeswidriger Umsetzung eines dem Notar erteilten Auftrags. (BGHSt)

2. Das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO wird durch die Anzeigepflicht des § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 GwG eingeschränkt. (BGHSt)

3. Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO steht Notaren und Rechtsanwälten auch dann zu, wenn die Art und Weise der Auftragsdurchführung amtspflicht- und gesetzeswidrig war. Die bei Geldwäsche seit dem 15. August 2002 auch für Notare bestehende Anzeigepflicht gemäß § 11 GwG betrifft zuvor abgeschlossene Vorgänge nicht. (Bearbeiter)

4. Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO bezieht sich auf Tatsachen, die einer der dort genannten Personen bei der Berufsausübung anvertraut oder bekannt geworden sind, die im unmittelbaren oder in einem inneren Zusammenhang mit ihr stehen. Dies ist weit auszulegen (BGH MDR 1978, 281; vgl. auch EGMR Urteil vom 25. März 1998 Kopp ./. Schweiz - 13/1997/797/1000, StV 1998, 683). (Bearbeiter)

5. Die Grenzen des Zeugnisverweigerungsrechts sind nur bei solchen Vorgängen überschritten, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der geschützten beruflichen Tätigkeit stehen, bei Handlungen und Wahrnehmungen lediglich bei Gelegenheit der Erledigung des Auftrags ohne zumindest inneren Bezug zur berufsbezogenen Arbeit. (Bearbeiter)

6. Das Vertrauen in den Fortbestand verfahrensrechtlicher Regelungen ist von Verfassungs wegen weniger geschützt als das Vertrauen in die Aufrechterhaltung materieller Rechtspositionen, denn das Verfahrensrecht enthält nicht selten nur bloße ordnungsrechtliche, technische Prozessführungsregeln. Es gewährt andererseits aber auch Rechtspositionen, die in ihrer Schutzwürdigkeit materiell-rechtlichen Gewährleistungen vergleichbar sind. Im Einzelfall können deshalb verfahrensrechtliche Regelungen ihrer Bedeutung und ihres Gewichts wegen in gleichem Maße schutzwürdig sein wie Positionen des materiellen Rechts (BVerfGE 87, 48, 63). (Bearbeiter)

7. Unter § 53a StPO fallen auch gelegentlich oder auch nur einmalig - gefälligkeitshalber ohne Dienstverpflichtung - mithelfende Familienmitglieder, sofern deren Tätigkeit Bezug zur geschützten Betätigung des Hauptgeheimnisträgers hat, wie Aktensortieren im Gegensatz zu Putzarbeiten. Darauf, ob der als Bürogehilfe beschäftigte Zeuge als berufsmäßig tätiger Gehilfe im Sinne von § 203 Abs. 3 StGB handelte, kommt es bei § 53a StPO nicht an. Entscheidend ist, dass der Berufshelfer ausschließlich aufgrund seiner Tätigkeit zum Zweck der Unterstützung des Hauptgeheimnisträgers bei dessen beruflicher Arbeit in das Vertrauensverhältnis zwischen dem Berufsgeheimnisträger mit dem, der sich dessen Dienste bedient, einbezogen ist. (Bearbeiter)


Entscheidung

512. BGH 3 StR 269/04 - Urteil vom 9. Juni 2005 (HansOLG)

Fall Mzoudi; 11. September; Aufklärungsrüge (Begründungsanforderungen; Zulässigkeit); Aufklärungspflicht bei der Ladung von Auslandszeugen (Verbot der Beweisantizipation; Ermessensentscheidung; besondere Beweisbedeutung; Ermessensreduktion); Zweifelssatz (Beweisregel; Entscheidungsregel; Indiztatsache; Beru-

hen); Freispruch (Urteilsgründe).

§ 211 StGB; § 129a StGB; § 27 StGB; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 261 StPO; § 337 StPO

1. Bei der Prüfung, ob die Aufklärungspflicht die Ladung eines benannten Auslandszeugen gebietet, sind das Gewicht der Strafsache, die Bedeutung und der Beweiswert des Beweismittels vor dem Hintergrund des bisherigen Beweisergebnisses, der zeitliche und organisatorische Aufwand der etwaigen Beweisaufnahme und die damit verbundenen Nachteile durch die Verzögerung des Verfahrens unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gegeneinander abzuwägen. In diesem Rahmen ist der Tatrichter von dem sonst geltenden Verbot der Beweisantizipation befreit. Er darf daher bei seiner Entscheidung prognostisch berücksichtigen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten sind und wie diese zu würdigen wären.

2. Das Revisionsgericht ist darauf beschränkt, die Ermessensentscheidung des Tatrichters im Sinne von § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO auf Rechtsfehler zu überprüfen, und kann daher nicht etwa dessen rechtlich nicht zu beanstandende Ermessensentscheidung durch seine gegebenenfalls abweichende Einschätzung ersetzen. Die Erwägungen, mit denen der Tatrichter seine Einschätzung begründet, dass die Vernehmung eines Auslandszeugen zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei, müssen tragfähig und nachvollziehbar, jedoch nicht unbedingt zwingend sein.

3. Selbst eine potentiell besonders große Bedeutung des Beweismittels hat nicht zur Folge, dass das dem Tatrichter durch § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO eingeräumte Ermessen bei der Beurteilung der in Rede stehenden Beweisanträge von vornherein auf Null reduziert wäre und es den benannten Zeugen notwendig zu vernehmen hätte.

4. Der Zweifelssatz ist eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen vermag. Auf einzelne Elemente im Rahmen der erst vorzunehmenden Beweiswürdigung ist er hingegen grundsätzlich nicht anzuwenden, jedenfalls nicht auf entlastende Indiztatsachen. Ist eine derartige Indiztatsache nicht aufzuklären, so hat dies daher nicht zur Folge, dass sie zugunsten des Angeklagten als bewiesen anzusehen wäre. Vielmehr ist sie mit der verbleibenden Ungewissheit in die Gesamtwürdigung des für die unmittelbar entscheidungserhebliche Tatsache gewonnenen Beweisergebnisses einzustellen.

5. Auf nicht zweifelsfrei festgestellte belastende Indizien darf - auch in der Summe (BGH bei Dallinger MDR 1969, 194) - ein Urteil nicht gestützt, sie dürfen zu dessen Begründung nicht einmal ergänzend herangezogen werden (BGH JR 1954, 468). Danach ist es dem Tatrichter auch verwehrt zu erörtern, wie sich das zweifelhaft gebliebene Belastungsindiz in das sonstige Beweisergebnis einfügt, oder gar zu prüfen, ob der zweifelhaft gebliebene indizielle Sachverhalt für sich - im Rahmen der angeklagten Tat (§ 264 Abs. 1 StPO) - auf von der Anklage abweichender tatsächlicher Grundlage eine Verurteilung tragen könnte.

6. Insbesondere bei einem Freispruch aus subjektiven Gründen ist es nicht in allen Fällen erforderlich, den äußeren Tatbestand umfassend aufzuklären und festzustellen, sofern nur die Urteilsgründe die tatsächlichen oder rechtlichen Überlegungen soweit verdeutlichen, dass sie umfassender revisionsgerichtlicher Prüfung offen stehen. Allerdings darf kein objektiver Umstand offen bleiben, der Rückschlüsse auf den Wissensstand bzw. die Vorstellungen des Angeklagten und damit auf die subjektive Tatseite zulassen würde.

7. Die Würdigung der Beweise ist vom Gesetz dem Tatrichter übertragen (§ 261 StPO). Das Revisionsgericht ist demgegenüber auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters mit Rechtsfehlern behaftet ist, etwa weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht oder an die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten überzogene Anforderungen stellt. Dies gilt unabhängig von der Bedeutung und dem Gewicht des strafrechtlichen Vorwurfs des jeweiligen Verfahrens, denn diese vermögen eine unterschiedliche Handhabung der Grundsätze revisionsgerichtlicher Rechtsprüfung nicht zu rechtfertigen.


Entscheidung

520. BGH 1 StR 158/05 - Beschluss vom 31. Mai 2005 (LG Stuttgart)

Wirksamer Rechtsmittelverzicht bei reinem Motivirrtum; unwirksamer Rechtsmittelverzicht, der Bestandteil einer vorherigen Urteilsabsprache ohne qualifizierte Belehrung war; keine Widereinsetzung in den vorigen Stand bei Unkenntnis über Rechtsprechung des BGH; Recht auf ein faires Verfahren.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 302 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 44 Satz 1 StPO

In der Unkenntnis des Angeklagten oder seines Verteidigers von bisheriger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Wirksamkeit des abgesprochenen Rechtsmittelverzichts (einschließlich des Beschlusses des Großen Senats für Strafsachen) liegt keine Verhinderung im Sinne des § 44 Satz 1 StPO.


Entscheidung

523. BGH 1 StR 198/05 - Beschluss vom 7. Juni 2005 (LG Passau)

Antragsauslegung: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (eigenes Verschulden nach Rechtsmittelbelehrung; außergewöhnliche Fälle).

§ 300 StPO; § 44 Abs. 1 StPO

1. Wer eine ihm vom Gericht erteilte Rechtsmittelbelehrung nicht "mitkriegt", handelt regelmäßig nicht ohne eigenes Verschulden, wenn er die Frist, über die er belehrt wurde, nicht einhält.

2. Das Vorbringen der Angeklagten, sie sei wegen des Urteils "am Boden zerstört" gewesen, ändert daran nichts. Rechtsmittelbelehrung wird regelmäßig unmittelbar im Anschluss an eine Urteilsverkündung erteilt. Ob ungewöhnliche Ausnahmefälle vorstellbar sind, in denen sich allein aus dem Verfahrensablauf in Verbindung mit dem konkreten Inhalt des Urteils etwas anderes ergeben kann, kann offen bleiben.


Entscheidung

483. BGH 2 StR 160/05 - Beschluss vom 13. Mai 2005 (LG Aachen)

Steuerungsfähigkeit bei Alkoholkonsum (verminderte; völlig aufgehobene; BAK; Nachtrunk; Alkoholgewöhnung); Überzeugungsbildung (Grundlage in den Feststellungen; bloße Vermutung); Änderung eines Sachverständigengutachtens in der Hauptverhandlung; Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang).

§ 21 StGB; § 261 StPO; § 72 StPO; § 64 StGB

Zwar kann die abschließende Beurteilung eines Sachverständigen in der Hauptverhandlung von seinem vorbereitenden Gutachten abweichen. Dann müssen sich jedoch in der Hauptverhandlung weitere Aspekte ergeben haben, die diese Abweichung begründen können.