HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2005
6. Jahrgang
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Schrifttum

Urs Kindhäuser, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Nomos Verlag (Nomos Lehrbuch), Baden-Baden 2005, ISBN 3-8329-0840-4, 390 Seiten, 22,- Euro.

Mit dem Allgemeinen Teil des Strafrechts ist nun das letzte Werk der dreibändigen Lehrbuchreihe von Urs Kindhäuser zum materiellen Strafrecht in der noch jungen Reihe "Nomos Lehrbuch" erschienen. Es ergänzt und komplettiert die beiden bereits veröffentlichten Bände zum Strafrecht, Besonderer Teil I (Straftaten gegen Persönlichkeitsrechte, Staat und Gesellschaft, 2. Auflage 2004), und Strafrecht, Besonderer Teil II (Straftaten gegen Vermögensrechte, 4. Auflage 2004).

Nun ist kein Geheimnis, dass der strafrechtliche Markt mit Büchern zum Allgemeinen Teil reichlich gesegnet ist. Welchen Platz bzw. welche Nische eine Neuerscheinung hier einnehmen möchte, ergibt sich aus den Zielen und Anliegen des Verfassers. Im Vorwort führt Kindhäuser dazu aus, dass sich das Buch "als eine komprimierte, den Examensstoff abdeckende Darstellung der allgemeinen Straftatlehre [verstehe], die sich gleichermaßen zur Einführung wie auch Wiederholung eignet." Das Augenmerk des Verfassers gebührt somit dem Studenten, sein Werk soll der Ausbildungsliteratur angehören. Demzufolge ist es vornehmlich nach den Kriterien der Verständlichkeit und der Fähigkeit zur Stoffvermittlung zu bewerten.

Über den Inhalt eines Lehrbuchs zum Allgemeinen Teil müssen freilich nur wenige Worte verloren werden. In sieben Kapiteln auf netto 349 Seiten befasst sich Kindhäuser zunächst (Kapitel 1: Das Strafgesetz; Kapitel 2: Allgemeine Straftatlehre) mit den für das Verständnis des Allgemeinen Teils des Strafrechts unerlässlichen Grundlagen. Sodann werden die verschiedenen Deliktsarten erläutert, die den Studenten in den Veranstaltungen zum Allgemeinen Teil erwarten. So werden nacheinander das vorsätzliche Begehungsdelikt (einschließlich der Versuchsstrafbarkeit), das fahrlässige Begehungsdelikt und die Unterlassungsdelikte erörtert, bevor sich der Verfasser schließlich der Beteiligung und den Konkurrenzen widmet.

In dieser groben Inhaltsübersicht wird bereits deutlich, dass Kindhäuser - wie er selbst in seinem Vorwort erwähnt - viel Wert auf die "einzelnen Prüfungsschritte nach Maßgabe der Logik des Deliktsaufbaus" legt. Auch auf den nächsten Überschriftenebenen ist demgemäß eine systematisch orientierte Unterteilung zu bemerken. Der Rückgriff auf insgesamt 48 Paragraphen und eine ungleich größere Anzahl an Überschriften auf der nächsten Gliederungsebene erlauben es dem Verfasser, beinahe jeder eigenen Rechtsfigur, jedem eigenen Prüfungspunkt bzw. jeder grundlegenden Differenzierung einen eigenen Abschnitt zu widmen. Dadurch wird dem Leser auch ohne Zuhilfenahme des erschöpfenden Stichwortverzeichnisses das gezielte Nachschlagen konkreter Probleme und Fragestellungen ermöglicht. Dem Buch wird somit nahezu ein Lexikoncharakter verliehen, der eine zügige Erarbeitung bzw. Wiederholung bestimmter Problembereiche erlaubt.

Für den Wert eines Buches, das dem Studenten den examensrelevanten Stoff eines Rechtsgebiets vermitteln soll, ist eine gelungene und handhabbare Gliederung freilich nur ein Indiz. Umso mehr von Bedeutung ist dagegen die Art und Weise, in der die notwendigen Kenntnisse aufbereitet werden. Hier ist Kindhäuser zunächst die Fähigkeit zu konstatieren, seinen Lesern einen anschaulichen Überblick zu jedem Kapitel zu verschaffen, indem er die einzelnen Paragraphen regelmäßig mit einer Einführung zu dem jeweiligen Bereich (oftmals in einem Gliederungspunkt "Allgemeines", je nach Themengebiet auch "Systematik" oder "Voraussetzungen") beginnt. Erst nach Vermittlung und auf Basis dieses Grundlagenwissens schreitet der Verfasser sodann zu den speziellen Problembereichen bzw. einzelnen Prüfungspunkten fort. Auch hierbei zeichnet sich das Buch durch einen klaren und wortgewandten Schreibstil aus, dessen Lesbarkeit und Verständlichkeit durch die Heranziehung zahlreicher erläuternder Beispiele zusätzlich gefördert wird.

Bei der Lektüre des Werks fällt auf, dass sich Kindhäuser jenseits des fortlaufenden Texts in hohem Maße verschiedenster Mittel der Präsentation und Stoffvermittlung bedient. So sind häufig Aufzählungszeichen anzutreffen, die nicht nur für bloße Auflistungen als solche (z.B. der biologischen und psychologischen Kriterien der Schuldunfähigkeit, § 22 Rn. 6 f.; einzelner Rechtfertigungsgründe, § 15 Rn. 13; einzelner Ausformungen des Gesetzlichkeitsprinzips, § 3 Rn. 2), sondern auch zur Darlegung zu beachtender Differenzierungen (z.B. zur Unterscheidung von § 34 und § 35 StGB, § 17 Rn. 8 f.; zur

Abgrenzung eigenverantwortlicher Selbst- und einverständlicher Fremdgefährdung, § 12 Rn. 64 f.) bzw. einzelner Ansichten bei Meinungsstreitigkeiten (z.B. zum Nötigungsnotstand, § 17 Rn. 35 f.; zum Erfordernis des Vorliegens einer Straftat beim Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 S. 1 StPO, § 20 Rn. 3 ff.) sowie zur Schilderung von Prüfungsschemata (z.B. zu den Voraussetzungen der Einwilligung, § 12 Rn. 9 ff.; zu den Voraussetzungen der Selbsthilfe nach §§ 229 f. BGB, § 20 Rn. 12) herangezogen werden. Ebenso weist das Buch eine Vielzahl von graphischen Schaubildern (z.B. zum Notwehrexzess, § 25 Rn. 3 und 9; zu den unterschiedlichen Garantenstellungen, § 36 Rn. 24 f.), schematischen Überblicken (z.B. zur Beteiligung, § 38 Rn. 2; zu besonderen persönlichen Merkmalen, § 38 Rn. 32) sowie tabellarischen Übersichten (z.B. zum Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts, § 4 Rn. 13; zur Irrtumslehre, § 26 Rn. 18) auf.

Kindhäuser ist insgesamt ein sicherer Umgang mit diesen Gestaltungsmöglichkeiten zu bescheinigen. Trotz der enormen und sofort in den Blick des Lesers fallenden Anzahl solcher Mittel nehmen diese nicht überhand und werden nicht zu ihrem bloßen Selbstzweck eingesetzt. Zur Veranschaulichung des Stoffs wissen insbesondere die graphischen Schaubilder zur Erläuterung verschiedener Fallgestaltungen der Kausalität (§ 10 Rn. 19, 23, 25, 30, 32 und 38) sowie zur Prüfung der Konkurrenzen (§ 44 Rn. 12 f.) beizutragen. Ebenso lobenswert ist die Gestaltung und Auswahl der heutzutage für ein Lehrbuch obligatorischen, von Kindhäuser allesamt erfreulich kurz und knapp gehaltenen Fälle, die durch ihre pointierte Darstellung der Verdeutlichung aufgezeigter Differenzierungen dienen.

Für den Studenten hilfreich sind nicht zuletzt eine Reihe von Prüfungsschemata (z.B. zu verschiedenen Rechtfertigungsgründen, § 16 Rn. 4, § 17 Rn. 42 und 49; zur actio libera in causa, § 23 Rn. 25 ff.; zum Erlaubnistatbestandsirrtum, § 29 Rn. 27) und zahlreiche Hinweise für die Erörterung von Prüfungspunkten im Gutachtenstil, die vor allem für Erstsemester wichtig sind und gerne in geschriebener Form gelesen werden (z.B. zum Handlungsbegriff, § 5 Rn. 17; zur Indizwirkung des Tatbestands für die Rechtswidrigkeit der Tat, § 8 Rn. 4; zur objektiven Zurechnung, § 11 Rn. 60 ff.). Jeder Paragraph endet schließlich mit einigen Wiederholungs- und Vertiefungsfragen, die dem Leser im Wege der kritischen Selbstprüfung ein Repetitorium der zentralen Punkte gestatten.

Des Weiteren ist positiv zu bemerken, dass Kindhäuser trotz seiner komprimierten Aufbereitung Zeit und Platz dafür findet, dem Leser auch interessante rechtsgeschichtliche Fakten (z.B. zur Herkunft der Tatbestandslehre, § 8 Rn. 2) und für das Verständnis hilfreiche Hintergründe (z.B. zur Legitimation von Sanktionsnormen, § 2 Rn. 8 ff.) nahe zu bringen und somit den weiterführenden Blick über den Tellerrand des reinen Examensstoffs zu gewähren. Aus der Sicht des Studenten dürfte schließlich besonders erfreulich sein, dass Kindhäuser bei der Darstellung von Meinungsstreitigkeiten zwar auch eigene Ansichten darstellt, dabei aber niemals versäumt, auf die für die Klausurlösung "relevanteren" herrschenden Auffassungen und ihre Konsequenzen für die Fallbearbeitung hinzuweisen (z.B. bei der Einordnung von Regelbeispielen, § 8 Rn. 9; bei der Notwehrprovokation, § 16 Rn. 49 Fn. 86; beim Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts, § 33 Rn. 75 ff.).

Wer in dem Werk von Kindhäuser nach den für Erstauflagen typischen Lücken und Unstimmigkeiten sucht, wird enttäuscht werden. Dies scheint vor allem damit zusammenzuhängen, dass der nunmehr veröffentlichte Band zum Allgemeinen Teil keine Erstauflage im eigentlichen Sinne darstellt, sondern sich auf die gleichnamige Veröffentlichung in der Nomos-Reihe "STUD.JUR. - Grundlagenwissen" (2. Auflage 2002) zurückführen lässt. Umso interessanter und aufschlussreicher ist daher der Vergleich des "neuen" Lehrbuchs mit der inoffiziellen Vorauflage.

Eine alte Weisheit besagt, dass ein Buch nicht nach seinem Einband bewertet werden darf. Gleichwohl kommen aus Sicht und nach persönlichem Geschmack des Rezensenten bereits der Wechsel zu einem leicht größeren Buchformat und die neue (statt blassgrüne nun dunkelblau-schwarze) Farbgestaltung dem Erscheinungsbild des Buches zugute. Ungleich wichtiger sind freilich die Änderungen im Innern des Buches. Während der Aufbau sich noch im Wesentlichen (zu einem neuen Abschnitt wurde dagegen die Irrtumslehre beim vorsätzlichen Begehungsdelikt zusammengefasst, §§ 26-29) an den Vorgänger von 2002 anlehnt, wurde von der bisherigen Aufbereitung des Examensstoffs in einer reinen Frage-Antwort-Form zum klassischen Lehrbuchstil gewechselt. Damit verbunden war die Notwendigkeit einer kompletten und zusammenhängenden textlichen Ausformulierung, bei deren Gelegenheit der Text eine vollständige sowie geglückte Überarbeitung erfahren hat. Hinzu treten neben dem anderen Layout der neuen Nomos Lehrbuch-Reihe die bereits ausführlich angesprochenen Gestaltungsmöglichkeiten wie ausführliche Aufzählungen, Prüfungsschemata und graphische Schaubilder. Insofern ist es verständlich und gerechtfertigt, dass der Verlag - im Gegensatz zu den beiden Bänden Kindhäusers zum Besonderen Teil - von einer Fortführung seiner Zählung abgesehen hat und das Buch als Neuauflage herausgibt.

Dass der Rezensent seine Begeisterung über das neue Werk von Kindhäuser nur schwerlich verbergen kann, bedeutet nicht, dass es nichts zu kritisieren oder auszusetzen gäbe. Vornehmlich die komprimierte Darstellung des Stoffs erscheint an mancher Stelle zu dicht, was den Studenten mehr zum Lernen als zum Verstehen anregen könnte. So geraten nach Auffassung des Rezensenten die Ausführungen zum Irrtum über den Kausalverlauf bei vermeintlich vorzeitigem Erfolgseintritt (dolus generalis-Problematik, § 27 Rn. 50 ff.) etwas zu kurz und wird bei der Notwehrprovokation die von der herrschenden Meinung im Ergebnis vorgenommene Unterscheidung zwischen absichtlichem und sonst vorwerfbarem Vorverhalten nicht in letzter Klarheit dargestellt (§ 16 Rn. 48 ff.). Wie diese Beispiele zeigen, beschränken sich die Kritik-

punkte aber lediglich auf Nebensächlichkeiten, namentlich rein subjektiv zu beantwortende Fragen der Schwerpunktsetzung und Ausführlichkeit im Einzelnen, über die sich bei einer bewusst komprimierten Darstellung des alles andere als umfangarmen Examensstoffs Meinungsverschiedenheiten kaum vermeiden lassen. Die Grundkonzeption des Buches und seine konkrete Umsetzung sind dagegen durchweg gelungen und vermögen vollends zu überzeugen.

Das Lehrbuch von Kindhäuser zum Allgemeinen Teil des Strafrechts bildet somit einen gelungenen Abschluss seiner dreibändigen Reihe zum materiellen Strafrecht. Es zeichnet sich aus durch eine komprimierte, gleichwohl verständliche Aufbereitung der examensrelevanten Kenntnisse, die in Ausarbeitung und äußerer Gestaltung konsequent an den Bedürfnissen der Studenten ausgerichtet wurde. Damit hat der Verfasser neue Maßstäbe in der strafrechtlichen Ausbildungsliteratur gesetzt. Sein Buch ist daher jedem Studenten, sei es dem Studiumsanfänger im ersten Semester oder dem kurz vor dem Examen stehenden Prüfling, uneingeschränkt zu empfehlen.

Wiss. Mitarb. Dr. Brian Valerius, Universität Würzburg

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Marco Mansdörfer: Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht, Schriften zum Strafrecht, Band 155, Duncker & Humblot, Berlin 2004, 273 Seiten, broschiert, ISBN 3-428-11486-8, 76 Euro.

Die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem ist heute als innerstaatliche Maxime in den Strafverfahrensrechten der europäischen Staaten unumstritten. In der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland hat der Grundsatz durch Art. 103 Abs. 3 GG sogar Verfassungsrang erhalten, hat aber nach ganz herrschender Meinung immer noch allein innerstaatliche Bedeutung. Art. 103 Abs. 3 GG verhindert also nicht, dass ein Beschuldigter, nachdem er im Ausland wegen einer Tat verfolgt worden ist, in Deutschland nochmals verfolgt wird. Das geltende Recht der Bundesrepublik Deutschland sieht zwar vor, dass eine im Ausland verhängte Strafe, wenn sie vollstreckt wurde, auf die im nachfolgenden deutschen Verfahren verhängte Sanktion anzurechnen ist (§ 51 Abs. 3 StGB). Abgesehen davon, dass diese Regelung von vornherein nicht greift, wenn das ausländische Verfahren mit einer Einstellung oder einem Freispruch geendet hat, ist der Ansatz, eine im Ausland erfolgte Verurteilung nicht als abschließende Beurteilung anzuerkennen, schwerlich damit zu vereinbaren ist, dass die Staatengemeinschaft Europas nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und juristisch zu einer Einheit zusammen wachsen soll.

Wenn man, was in einer echten Rechtsgemeinschaft eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, Vertrauen in die sachgerechte Arbeit der Strafverfolgungsorgane der jeweils anderen Staaten hat, wird man sich im Übrigen auch nicht mit einer Norm begnügen dürfen, die, wie § 153c StPO, die Anerkennung ausländischer Entscheidungen in das weitgehend freie und stets einer neuen Beurteilung zugängliche Einzelfallermessen der Strafverfolgungsbehörden stellt. Vielmehr wird man - sozusagen als Gegenstück zu der jüngst durch die Europäische Kommission propagierten Verkehrsfähigkeit von Beweismitteln - die grundsätzliche Verkehrsfähigkeit verfahrensbeendender Entscheidungen anstreben müssen (vgl. hierzu auch die Ausführungen des Generalwalts Ruíz-Jarabo Colomer im Rahmen seiner Schlussanträge vom 19. September 2002 in den Rechtssachen C-187/01 und C-385/01, §§ 120 ff. = EuGRZ 2002, 556, 565 f.). Mit den Art. 54 ff. SDÜ und den inhaltlich identischen Bestimmungen des EG-ne-bis-in-idem Übereinkommens sind nun tatsächlich Normen in Kraft getreten, die dem Grundsatz des ne bis in idem zumindest für einen - jeweils etwas unterschiedlich zugeschnittenen - Kernbereich europäischer Staaten transnationale Bedeutung vermitteln. Auch wenn die Auslegung dieser Normen noch Schwierigkeiten bereitet, kann doch andererseits die Bedeutung dieser Entwicklung kaum überschätzt werden.

Mit seiner von Frisch betreuten, im Wintersemester 2003/2004 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg im Breisgau als Dissertation angenommenen und für die Drucklegung auf den Stand von Anfang 2004 aktualisierten Abhandlung legt Mansdörfer eine sehr angenehm zu lesende und gleichzeitig inhaltlich höchst informative und anregende Untersuchung vor, die sowohl den einschlägigen Meinungsstand umfassend und klar analysiert als auch eine gut vertretbare eigenständige Konzeption des transnationalen ne bis in idem entwickelt.

Die Abhandlung ist in 6. Hauptabschnitte gegliedert: Im ersten Abschnitt (S. 15-52) wird der Leser zunächst in die Problematik eingeführt und dann eine rechts- und normtheoretische Grundkonzeption des Prinzips des ne bis in idem als notwendige Konsequenz des Gedankens systemorganisierter Freiheit entwickelt. Im zweiten Abschnitt (S. 53-98) werden zunächst - beginnend mit dem römischen und kanonischen Recht - die historischen Wurzeln des Prinzips und sodann dessen aktuelle Ausgestaltung in den traditionellen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen (deutschsprachiger Rechtsraum, Frankreich, Benelux-Staaten, Spanien, Italien und Skandinavien) sowie in den Rechtsordnungen des common law aufgezeigt und ein erster Überblick über die Regelungen im transnationalen europäischen Recht gegeben. Auf dieser Basis wird dann im dritten Abschnitt (S. 99-134) im Einzelnen auf die Ausgestaltung des auf eine innerstaatliche Geltung beschränkten ne bis in idem durch Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK eingegangen, bevor dann im vierten und fünften Abschnitt die transnationale Wirkung des Prinzips thematisiert wird. Im vierten Abschnitt (S. 135-192) wird die horizontale transnationale Wirkung analysiert, die das Prinzip durch die Art. 54 ff. SDÜ erfahren hat. Der fünfte Abschnitt (S. 193-243) ist der vertikalen transnationalen Wirkung des Prinzips in Bezug auf Verfahren gewidmet, die parallel oder sukzessiv von den Mitgliedsstaaten und den Organen der Europäischen Gemeinschaft durchgeführt werden. Die Unter-

suchung schließt mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse (S. 244-251).

Gegenstand des dritten Abschnitts ist im Wesentlichen das durch Art. 4 des 7. ZP-ERMK gewährleistete supranationale Prinzip eines systemintern wirkenden ne bis in idem, das Mansdörfer als ein "in seinen Rechtsfolgen einer Abwägung zugängliches Menschenrecht" interpretiert. Den Vorteil dieser Interpretation sieht er darin, dass einerseits von einem "umfassenden Verbot der Doppelverfolgung" ausgegangen werden kann, andererseits aber die Möglichkeit besteht, den auch innerhalb des europäischen Rechtsraumes immer noch mehr oder weniger stark divergierenden "tradierten nationalen Verfahrensgestaltungen hinreichend Rechnung" zu tragen (S. 125 f.). Beeinträchtigungen des in einem ersten Schritt umfassend interpretierten Verbots der Doppelverfolgung sollen - abgesehen von Eingriffen in den Kernbereich des Doppelverfolgungs- und -bestrafungsverbots - dann zulässig sein, wenn die jeweils betroffene nationale Rechtsordnung Instrumentarien zur Verfügung stellt, mit denen die durch das Zweitverfahren bewirkte Belastung im weiteren Verlauf des Verfahrens hinreichend kompensiert werden kann (vgl. S. 126, 128 f.).

Die in einem ersten Schritt weit ausgreifende Bestimmung des Anwendungsbereichs des Art. 4 des 7. ZP-EMRK hat ihren Ausgangspunkt in einer "einbahnig-autonomen" Auslegung des Begriffs der strafbaren Handlung (S. 108). Erfasst sind nach Mansdörfer zum einen alle strafbaren Handlungen, die vom jeweiligen nationalen Recht dem Kriminalstrafrecht im formellen Sinne zugeordnet werden, zum anderen aber auch die sonstigen Sanktionen, deren Funktion - wie z.B. bei bestimmten Verwaltungssanktionen und im Recht der Ordnungswidrigkeiten - darin besteht, einen staatlichen Strafanspruch zu verwirklichen (S. 109 ff.). Im Rahmen der Bestimmung des Begriffs der Identität der Tat analysiert Mansdörfer zunächst die in sich nicht ohne weiteres konsistente Rechtsprechung des EGMR, die zwischen einem faktisch orientierten und einem eher normativ determinierten Tatbegriff hin und her geschwankt und sich dann - in der Entscheidung Fischer vs. Österreich - auf das inhaltlich immer noch weitgehend unbestimmte Kriterium festgelegt hat, wonach Tatidentität dann gegeben sein soll, wenn der Verfahrensgegenstand durch "the same essential elements" gekennzeichnet sei (S. 114). Mansdörfer selbst befürwortet einen faktisch orientierten weiten Tatbegriff: Tat sei das als Einheit aufzufassende historische Geschehen, das Gegenstand des Verfahrens sei (S. 117 ff.). Als rechtskräftige Entscheidung will Mansdörfer grundsätzlich jede verfahrensabschließende Entscheidung anerkennen. Einschränkungen für Entscheidungen mit qualitativ beschränkter Rechtskraft sollen "im Rahmen des abschließenden Abwägungsvorgangs erfolgen, in dem aufgearbeitet werden müsste, inwieweit das Rechtssystem seine Erkenntnismittel bereits eingesetzt hat und in welchem Maße das Individuum darauf vertrauen durfte, dass keine weiteren Maßnahmen ergriffen werden" (S. 120). Gleiches soll schließlich auch für den zeitlichen Anwendungsbereich gelten: Die Auffassung, nach der Art. 4 des 7. ZP-EMRK schon der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens trotz positiven Wissens um das vorhergehende Verfahrens entgegen stehen soll, geht nach Mansdörfers zu weit, wenn man das Prinzip gleichzeitig als striktes Verbot interpretiert. Folge man dagegen der von ihm entwickelten Interpretation des Grundsatzes "als ein in seinen Rechtsfolgen einer Abwägung zugängliches Menschenrecht", sei es möglich, "den Schutzbereich von Art. 4 7. ZPEMRK für den gesamten Geltungsbereich der EMRK schon auf das Vorverfahren auszudehnen, und zugleich den berechtigen Einwänden Rechnung zu tragen, die zunächst gegen ein solch weites Verständnis zu sprechen scheinen" (S. 125).

Wie bereits erwähnt, thematisiert der vierte Abschnitt die Problematik des horizontal-transnationalen Prinzips des ne bis in idem. Mansdörfer tritt zunächst Ansätzen entgegen, die eine zwischenstaatliche Wirkung unter pauschaler Bezugnahme auf den Gedanken der Gerechtigkeit begründen wollen oder ein "systemübergreifendes Menschenrecht" postulieren (S. 135 ff.). Seiner Auffassung nach ergibt sich ein horizontal-transnationales Doppelverfolgungsverbot als Konsequenz eines mit einem nationalen Souveränitätsverzicht einhergehenden "systemübergreifenden Konsenses" (S. 137).

Auf der Grundlage dieses, in der Sache weitgehend mit den eingangs erwähnten Ausführungen des Generalanwalts Ruíz-Jarabo Colomer kompatiblen Ansatzes analysiert Mansdörfer dann im Einzelnen die in diesem Zusammenhang derzeit wichtigste Norm: Art. 54 SDÜ (S. 141 ff.). Im Anschluss an eine informative Aufbereitung der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur (S. 143 ff.; 149 ff.) entwickelt Mansdörfer seine eigene Konzeption, nach der Art. 54 SDÜ als "intergouvernementales Recht" der Verzahnung der verschiedenen mitgliedsstaatlichen Hoheitsgewalten dienen soll (S. 159 f.), wobei die Koordinierung der verschiedenen Strafhoheiten dadurch erfolgt, dass Art. 54 SDÜ ein Verbot der Strafverfolgung "im Sinne eines nachträglichen Zuständigkeitsverlusts" begründet (S. 165). Mansdörfer vertritt eine den Anwendungsbereich der Norm ausweitende Interpretation, die er - insoweit wiederum mit den Ausführungen des Generalanwalts übereinstimmend - als "geradezu notwendiges Korrelat" (S. 186) zur sich entwickelnden europäischen Strafverfolgung versteht: Tat i.S.d. Art. 54 SDÜ sei das tatsächliche Geschehen, das Gegenstand der Entscheidung des Erstverfolgerstaates gewesen sei (S. 179); als rechtskräftige Aburteilung sei jede "qualifizierte Verfahrensbeendigung" anzuerkennen, aufgrund derer der Beschuldigte berechtigterweise auf den Ausschluss weiterer Verfolgung vertrauen dürfe (S. 166 ff.).

Im fünften Abschnitt wendet sich Mansdörfer den Fallgestaltungen zu, in denen Verfahren parallel oder sukzessiv von den Mitgliedsstaaten und von den Organen der Europäischen Gemeinschaft durchgeführt werden. Die Problematik des vertikal-transnationalen Verbots einer Doppelverfolgung wird seine volle Bedeutung dann erlangen, wenn den Europäischen Gemeinschaften die derzeit noch fehlende Kompetenz zum Erlass kriminalstrafrechtlicher Normen zukommt (S. 194 ff.). Die Anwendung klassischer strafrechtlicher Grundsätze ist aber

auch heute schon in dem ständig wachsenden Bereich geboten, in dem auf europäischer Ebene punitive Sanktionen angedroht und verhängt werden (S. 196 ff.). Ein Normierung des Doppelverfolgungsverbots ist auf europäischer Ebene nicht vorhanden. Auch der von Mansdörfer als "ansatzweise Regelung" angesehenen Art. 90 EGKS (S. 200) bringt - insoweit vergleichbar mit § 51 Abs. 3 StGB - weniger die Anerkennung des Prinzips als vielmehr die Vorbehalte diesem gegenüber zum Ausdruck. Gleiches gilt für das von der einschlägigen Rechtsprechung praktizierte und in der VO 2988/95 normierte Anrechnungsprinzip (vgl. S. 200 ff.).

Mansdörfer legt überzeugend die Notwendigkeit und Begründbarkeit eines vertikal-transnationalen ne bis in idem dar, mit dem inhaltlich die Gewährleistungen, die im nationalen Rahmen durch Art. 4 des 7. ZP-EMRK gewährleistet werden, auf das Verhältnis der Mitgliedsstaaten zu den Europäischen Institutionen zu übertragen sind (S. 214 ff.). Er fordert zu recht eine Einbeziehung der im supranationalen Recht vorhanden punitiven Sanktionen und das Abstellen auf einen faktisch orientierten Tatbegriff (S. 217). Problemen, die sich aufgrund der Verzahnung der nationalstaatlichen und supranationalen Rechtsordnung ergeben können, will er im Bereich des Direktvollzugs europäischer Normen durch organisatorische Maßnahmen begegnen (S. 218 ff.), im Bereich des indirekten Vollzugs durch eine Delegation der Verantwortung auf die nationalen Hoheitsträger sowie - nachrangig - dadurch, dass bereits verhängte Sanktionen anzurechnen bzw. zu berücksichtigen sind (vgl. S. 221 ff.). Beispielhaft konkretisiert wird dieser Ansatz dann an Beispielen aus dem Wettbewerbsrecht (S. 225 ff.) und dem Agrarrecht (S. 228 ff.). Abgerundet wird der sechste Teils durch einen Ausblick auf die Normierung des Prinzip des ne bis in idem in Art. 50 der Europäischen Grundrechtscharta (S. 234-243), die Mansdörfer überzeugend als Übertragung des durch Art. 4 des 7. ZP-EMRK nationalstaatlich systemintern gewährleisteten Prinzips auf den supranationalen Bereich interpretiert.

Insgesamt gesehen bleibt festzuhalten, dass die Abhandlung die Geltung des Prinzips des ne bis indem im europäischen Strafrecht in allen relevanten Facetten behandelt, einen gewichtigen Beitrag zur Durchdringung der Problematik leistet und eine Konzeption vorstellt, die im Rahmen der weiteren Diskussion Beachtung finden sollte.

Prof. Dr. Wolfgang Wohlers, Universität Zürich

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