HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2005
6. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

443. BGH 5 StR 147/05 - Beschluss vom 20. April 2005 (LG Berlin)

Versagung der Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB bei Alkoholisierung (Alkoholkrankheit: Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit des tatbestandlichen Verhaltens).

§ 21 StGB; § 49 StGB

Bei der Entscheidung, ob dem Angeklagten eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gewährt wird, können im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung aller schuldrelevanten Gesichtspunkte zwar auch einem alkoholkranken Straftäter schulderhöhende Verhaltensweisen angelastet werden, die den grundsätzlich schuldmindernden Gesichtspunkt einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufwiegen (vgl. BGH aaO S. 3352; BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 29). Voraussetzung ist jedoch nicht nur die Vorhersehbarkeit, sondern auch die Vermeidbarkeit entsprechenden Verhaltens (vgl. BGH NJW 2004, 3350, 3351). Gerade dem Alkoholkranken kann deshalb jedenfalls sein Alkoholkonsum in aller Regel nicht ohne weiteres schulderhöhend vorgeworfen werden.

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

458. BGH 2 StR 310/04 - Urteil vom 22. April 2005 (Landgericht Kassel)

BGHSt; Kannibalismus ("Kannibale von Rothenburg"); Mord (Befriedigung des Geschlechtstriebs; Tötung zur Ermöglichung einer anderen Straftat); Tötung auf Verlangen (Bestimmen zur Tötung; handlungsleitendes Motiv); Beweiswürdigung (Verstoß gegen Denkgesetze; Zirkelschluss); entlastende Einlassung des Angeklagten (Unwiderleglichkeit; Zweifelssatz); Störung der Totenruhe (geschütztes, unbedeutendes Rechtsgut; Pietätsgefühl der Allgemeinheit; postmortaler Persönlichkeitsschutz; Dispositionsmöglichkeit des Tatopfers; Einwilligung; Einverständnis; Menschenwürde; Paternalismus).

Art. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 211 StGB; § 216 StGB; § 261 StPO; § 168 SGB; § 131 StGB; § 184 Abs. 3 StGB; § 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO

1. Das Mordmerkmal "zur Befriedigung des Geschlechtstriebs" liegt auch dann vor, wenn der Täter diese Befriedigung erst bei der späteren Betrachtung der Bild-Ton-Aufzeichnung (Video) vom Tötungsakt und dem Umgang mit der Leiche finden will. (BGHSt)

2. Rechtsgut des § 168 Abs. 1 StGB ist nicht nur der postmortale Persönlichkeitsschutz des Toten, sondern auch das Pietätsgefühl der Allgemeinheit. Das Einverständnis des Tatopfers in beschimpfenden Unfug an seiner Leiche ist deshalb nicht geeignet, die Strafbarkeit entfallen zu lassen. (BGHSt)

3. "Bestimmen" i. S. der Privilegierung der Tötung auf Verlangen (§ 216 Abs. 1 StGB) setzt mehr voraus als die bloße Einwilligung des Opfers in seine Tötung. Es muss vielmehr im Täter den Entschluss zur Tat hervorrufen. Denn die außerordentliche Strafmilderung des § 216 StGB ist nur dann zu rechtfertigen, wenn das "Bestimmen" durch das Opfer auch tatsächlich handlungsleitend war. (Bearbeiter)

4. Die Beweiswürdigung ist u.a. dann rechtsfehlerhaft, wenn ein Verstoß gegen Denkgesetze vorliegt, z.B. indem etwas vorausgesetzt wird, was es erst zu beweisen gilt (Zirkelschluss). (Bearbeiter)

5. Entlastende Angaben eines Angeklagten, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine (ausreichenden) Beweise gibt, darf der Richter nicht ohne weiteres als unwiderlegt seinem Urteil zugrunde legen. Er muss sich vielmehr aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung bilden. (Bearbeiter)

6. Sind mehrere Rechtsgüter - die einen einwilligungsfähig, die anderen nicht - durch eine Strafnorm geschützt, so kann ein Einverständnis allenfalls dann die Tatbestandsmäßigkeit bzw. eine Einwilligung allenfalls dann die Rechtswidrigkeit entfallen lassen, wenn das nicht einwilligungsfähige Rechtsgut so unbedeutend erscheint,

dass es außer Betracht bleiben kann (vgl. BGHSt 5, 66, 68). (Bearbeiter)

7. Die Würde des Menschen verbietet es, ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektsqualität prinzipiell in Frage stellt. Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen (BVerfGE 87, 209, 228). Im Bewußtsein der Allgemeinheit stellt aber das Schlachten eines Menschen vor laufender Kamera, womöglich gar, um Material für spätere sexuelle Handlungen zu gewinnen, eine menschenunwürdige Behandlung dar, die die Würde des Menschen als Gattungswesen missachtet. (Bearbeiter)


Entscheidung

461. BGH 2 StR 524/04 - Beschluss vom 7. April 2005 (LG Aachen)

Intertemporales Strafrecht (Änderung des persönlichen Anwendungsbereichs einer Strafnorm); milderes Recht; Menschenhandel (Einwirken); Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung.

§ 2 Abs. 3 StGB; § 180b StGB; § 232 StGB

1. Nicht jede Form der Beeinflussung erfüllt das Tatbestandsmerkmal "Einwirken" des Menschenhandels (§ 180 b Abs. 2 Nr. 2 StGB). Vielmehr ist unter "Einwirken" eine intensive Einflussnahme zu verstehen, die über eine bloße entsprechende unmittelbare psychische Beeinflussung hinausgeht, also mit einer gewissen Hartnäckigkeit geschieht. Als Mittel kommen wiederholtes Drängen, Überreden, Versprechungen, Wecken von Neugier, Einsatz der Autorität, Täuschung, Einschüchterung, Drohung oder auch Gewaltanwendung in Betracht.

2. Die Tatbestandsalternative des "dazu Bringens" setzt nicht die für ein "Einwirken" erforderliche Hartnäckigkeit voraus; vielmehr reicht hier ein schlichtes Angebot oder die Vermittlung an einen Prostitutionsbetrieb.


Entscheidung

433. BGH 4 StR 9/05 - Beschluss vom 22. Februar 2005 (LG Paderborn)

Sexuelle Nötigung (schutzlose Lage des Opfers; äußere Umstände; Ausnutzung einer Behandlungssituation); sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen (Widerstandsunfähigkeit).

§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 179 StGB

1. Eine schutzlose Lage liegt vor, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maße verringert sind, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben ist; dies ist regelmäßig der Fall, wenn das Opfer sich dem überlegenen Täter allein gegenüber sieht und auf fremde Helfer nicht rechnen kann, wobei es allerdings eines gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten nicht bedarf (st. Rspr.; BGHSt 44, 228, 231 f.; 45, 253, 256; BGHR StGB § 177 Abs. 1 schutzlose Lage 7).

2. Eine auf äußeren Umständen beruhende schutzlose Lage ergibt sich nicht allein daraus, dass der Angeklagte als Therapeut eine Behandlungssituation zu einem sexuellen Übergriff missbraucht hat. Vielmehr müssen auch in einem solchen Fall regelmäßig weitere Umstände hinzutreten, die das Tatopfer daran hindern, sich dieser Situation durch Flucht zu entziehen (vgl. BGHR § 177 Abs. 1 schutzlose Lage 5 und 7).

3. Soll sich eine schutzlose Lage des Opfers auch aus in der Person des Täters liegenden Umständen ergeben, sind an die Feststellung der schutzlosen Lage erhöhte Anforderungen zu stellen. Erforderlich ist, dass das Opfer Widerstandshandlungen gegenüber dem Täter unterlässt, weil es anderenfalls zumindest Körperverletzungshandlungen durch den Täter befürchtet (BGH NStZ 2003, 533, 534).


Entscheidung

427. BGH 1 StR 123/05 - Beschluss vom 20. April 2005 (LG Traunstein)

Schwerer Fall des Diebstahls (falscher Schlüssel: keine Anwendung auf abhanden gekommene Schlüssel; Überwindung einer Schutzvorrichtung: fehlende wesentliche Erschwerung; mögliche Annahme eines unbenannten schweren Falles); angemessene Herabsetzung der Gesamtfreiheitsstrafe.

§ 242 StGB; § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB; § 354 Abs. 1a Satz 2 StPO

1. Ein echter Schlüssel wird durch seinen bestimmungswidrigen Gebrauch durch Dritte erst dann zu einem falschen Schlüssel im Sinne des § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB, wenn der Berechtigte dem Schlüssel die Bestimmung zur ordnungsgemäßen Öffnung des Raumes entzogen hat. Dies ist in der Regel nur der Fall, wenn er zum Zeitpunkt der Verwendung des Schlüssels durch den Täter das Abhandenkommen des Schlüssels bereits bemerkt hatte (BGHR StGB § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Schlüssel, falscher 2; BGHSt 21, 189).

2. Für die Anwendung des § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StGB ist es Voraussetzung, dass die Sache durch eine (andere) Schutzvorrichtung gegen Wegnahme besonders gesichert ist. Daran fehlt es, wenn die Vorrichtung die Wegnahme nicht wesentlich erschwert. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Schlüssel im Schloss steckt, daneben liegt oder sonst leicht erreichbar ist.


Entscheidung

432. BGH 4 StR 82/05 - Beschluss vom 7. April 2005 (LG Paderborn)

Strafverfolgungsverjährung; Beweiswürdigung (mangelhafte Feststellungen: Tatkonkretisierung bei Serienstraftaten, Sexualdelikten).

§ 78 StGB; § 176 StGB; § 200 StPO

Um eine bestimmte Anzahl von Straftaten einer im wesentlichen gleichförmig verlaufenden Serie festzustellen, muss der Tatrichter darlegen, aus welchen Gründen er die Überzeugung gerade von dieser Mindestzahl von Straftaten gewonnen hat (vgl. BGHR StGB § 176 Serienstraftaten 8). Zwar dürfen in Fällen, in denen dem Angeklagten eine Vielzahl erst nach Jahren aufgedeckter sexueller Übergriffe zur Last gelegt wird, an die Individualisierung der einzelnen Missbrauchshandlungen nach Tatzeit und Geschehensablauf keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Andererseits aber darf

eine unzureichende Konkretisierung auch nicht dazu führen, dass der Angeklagte in seinen Verteidigungsmöglichkeiten unangemessen beschränkt wird (vgl. BGHSt 42, 107 f. m.w.N.; BGHR StGB § 176 Serienstraftaten 7).


Entscheidung

452. BGH 2 StR 111/05 - Beschluss vom 8. April 2005 (LG Limburg)

Erpresserischer Menschenraub (funktionaler Zusammenhang zwischen Bemächtigungslage und beabsichtigter Erpressung).

§ 239a StGB

Der Zweck der gesetzlichen Regelung des erpresserischen Menschenraubs (§ 239a Abs. 1 StGB) besteht darin, das Sichbemächtigen des Opfers deshalb besonders unter Strafe zu stellen, weil der Täter seine Drohung während der Dauer der Zwangslage jederzeit realisieren kann. Daher erfordert die Tatbestandserfüllung zwischen der Bemächtigungslage und der beabsichtigten Erpressung einen funktionalen und zeitlichen Zusammenhang.