HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2005
6. Jahrgang
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Schrifttum

Eckardt von Bubnoff, Der Europäische Haftbefehl. Auslieferung und Neuerungen des Gemeinschaftsinstruments. Ein Leitfaden für die Praxis. 2005. XI, 144 Seiten. 27,- EURO. ISBN 3-8114-7345-X (Recht in der Praxis) C. F. Müller.

Das zu rezensierende Werk ist die erste Buchveröffentlichung (vgl. aber Seitz NStZ 2004, 547) zum am 24. August 2004 in der Bundesrepublik in Kraft getretenen Recht des Europäischen Haftbefehls (Europäisches Haftbefehlsgesetz - EuHbG, das im wesentlichen in Art. 1 die Einfügung eines achten Teils zum Europäischen Haftbefehl in das Internationale Rechtshilfegesetz (IRG), §§ 78-83i IRG, sowie Änderungen anderer Vorschriften dieses Gesetzes enthält). Der Autor ist als ehemaliger Vorsitzender Richter eines OLG-Strafsenats mit einem Arbeitsschwerpunkt im Bereich der internationalen Rechtshilfe mit der Thematik besonders vertraut. Es gelingt ihm in verständlicher, systematischer und kompakter Weise darzustellen, wie die neuen Regelungen in das komplexe Regelwerk des bestehenden Auslieferungsrechts einzuordnen sind und inwieweit sie dieses verändern. Positiv hervorzuheben ist auch, dass der Autor die Rechtsprechung zu den ersten Anwendungsfällen des Europäischen Haftbefehls gewissermaßen bis zur letzten Minute (Stand der Bearbeitung dürfte Februar 2005 zu sein) berücksichtigt hat, einschließlich der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2004 (StV 2005, 29). Insofern befindet sich der Autor allerdings in der unangenehmen Situation, dass er diese zwar noch einbeziehen konnte, aber naturgemäß auf die sehr knappe Begründung dieser vorläufigen Entscheidung verwiesen ist, die Bedenken des Bundesverfassungsgerichts nicht nur gegen Verfahrensweise im Einzelfall, sondern wohl zumindest auch gegen die Umsetzung des Rahmenbeschlusses in deutsches Recht andeutet. Bedauerlicherweise konnte er weder den Inhalt der mündlichen Verhandlung vom 13./14. April 2005 vor dem Bundesverfassungsgericht, noch die nach wie vor ausstehende Sachentscheidung berücksichtigen, die das Recht des Europäischen Haftbefehls voraussichtlich nachhaltig beeinflussen - und mit Wahrscheinlichkeit ändern - wird. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass - ganz ohne Verschulden des Autors - bereits in wenigen Monaten eine Überarbeitung des Bandes auf der Basis der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nötig sein wird.

Zum Inhalt: Es ist erwähnenswert, dass der Band nicht etwa nur den neuen achten Teil des IRG zum Europäischen Haftbefehl erörtert, sondern das zuvor bestehende und für Nichtmitgliedstaaten der EU fortgeltende Auslieferungsrecht nicht vernachlässigt; der Untertitel "Auslieferung und Neuerungen des Gemeinschaftsinstruments" ist insofern Programm. Dementsprechend enthält der ausführliche Anhang (S. 87-144) neben einem Sachverzeichnis die wesentlichen Rechtsquellen des in Deutschland geltenden Auslieferungsrechts, nämlich das Europäische Haftbefehlsgesetz (EuHbG), den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, das (übrige) IRG, auszugsweise das europäische Auslieferungsübereinkommen (Auszug), das Schengener Durchführungs-Übereinkommen (SDÜ) und das EU-Auslieferungs-Übereinkommen vom 27. September 1996. Nach der Einführung (A) werden in einem ersten Hauptteil (B) die aufgeführten unterschiedlichen Rechtsgrundlagen einer Auslieferung erläutert, wobei der Autor besonderen Wert darauf legt, das systematische Verhältnis der Rechtsgrundlagen zueinander (IRG für den vertragslosen Rechtshilfeverkehr, Auslieferungsübereinkommen des Europarats, Schengener Durchführungsübereinkommen [SDÜ], EU-Zwillings-Übereinkommen von 1995 und 1996 zur Auslieferung), insbesondere deren Anwendungshierarchie zu klären, nämlich i. d. R. vom auslieferungsfreundlicheren anwendbaren Recht zum weniger auslieferungsfreundlichen Regime (S. 3-12). Hervorzuheben sind etwa die überzeugenden Ausführungen zur Unzulässigkeit eines Rückgriffs auf auslieferungsfreundlichere Vertragsnormen oder Gesetzesnormen im Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls (S. 9/10)

bei den sogenannten Fluchtfällen - wenn sich der Verfolgte im Rahmen der in mehreren europäischen Ländern zulässigen Abwesenheitsverfahren durch Flucht einer Ladung im ersuchten Staat entzieht - weil nach § 83 Nr. 3 IRG die sichere Kenntnis des Verhandlungstermins vorausgesetzt ist (vgl. OLG Karlsruhe StV 2004, 548; 2005, 30), dies aber nach dem Europäischen Rechtshilfeübereinkommen nicht der Fall war; dieselbe Frage stellt sich für Anwendungsfälle des neuen § 80 Abs. 3 IRG, der für bestimmte Gruppen von in Deutschland besonders verwurzelten Ausländern dieselben Auslieferungsvoraussetzungen schafft wie für deutsche Staatsangehörige (§ 80 Abs. 1 und 2 IRG). Zu Recht betont der Autor im Hinblick auf den gesetzlichen Vorrang der Regelungen über den Europäischen Haftbefehl (§ 1 Abs. 4 IRG), dass die hilfsweise Anwendbarkeit der vertraglichen Regelungen nicht in Betracht kommt, wenn die Vorschriften des achten Teils für ihren Anwendungsbereich ausschließliche Beachtung beanspruchen, was bei den auf Individualinteressen bezogenen Gewährleistungen der Fall sei; das ungeschriebene Günstigkeitsprinzip muss gegenüber der klaren gesetzlichen Regelung zurücktreten.

Im zweiten Hauptteil (C) wird recht ausführlich (S. 12-45) das bisherige, vorwiegend im europäischen Raum geltende, Auslieferungsrecht (Wesen und Zweck der Auslieferung, Auslieferungsverfahrensrecht, gerichtliche Prüfung der Strafverfolgungskompetenz und des Schuldverdachts, nötige Sachverhaltskonkretisierung, Auslieferungsvoraussetzungen und Auslieferungshindernisse) dargestellt. Es gelingt dem Autor hier insbesondere, den angesichts der immer auslieferungsfreundlicheren EU- und Europarats-Konventionen im europäischen Raum fortschreitenden Bedeutungsverlust der klassischen Auslieferungsvoraussetzungen - Gegenseitigkeitsprinzip, Prinzip beiderseitiger Strafbarkeit und Verfolgbarkeit, Bagatellprinzip, Spezialitätsbindung - plastisch zu schildern (S. 26-33). Im Rahmen dieser Erläuterungen geht der Autor immer wieder auf die neue Rechtslage nach dem Europäischen Haftbefehlsgesetz ein, so dass die Veränderungen deutlich hervortreten. Bei der Darstellung der Auslieferungshindernisse verdient - angesichts der Ereignisse in Guantanamo, Abu Ghraib, Afghanistan und anderswo - die Stellungnahme des Autors nachdrückliche Zustimmung, es befremde, dass drohende Folter - wozu er in wünschenswerter Klarheit "stress position, hooding, deprivation of sleep, subjection to noise" zählt - im Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl nicht als zwingendes Auslieferungshindernis angesehen wird, sondern lediglich in einem vorangestellten Erwägungsgrund Erwähnung findet (S. 43). Im deutschen Recht sollte durch § 73 Satz 2 IRG i. V. m. Art. 6 EUV (der den europäischen ordre public enthält bzw. darauf verweist (EMRK)) die (Fort-)Geltung u. a. dieses unabdingbaren Prinzips gesichert sein (vgl. S. 72/73). Im folgenden Abschnitt (D) beschreibt der Autor insbesondere die EU-Rahmengesetzgebung (Rahmenbeschlüsse) als zentrale Steuerungsinstrumente im Rahmen der Europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Inneren und der Justiz (3. Säule der EU), insbesondere die Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten, sowie die Ausgestaltung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl (S. 45 ff). Es folgen eine kurze Abhandlung des im Rahmen der 3. Säule ebenfalls zentralen Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Hinblick auf den Europäischen Haftbefehl (S. 50), sowie interessante Anmerkungen zur (angestrebten) Verkehrsfähigkeit von Beweismitteln und Beweisresultaten auf europäischer Ebene (S. 51-54), ohne dass letzteres hier von der Thematik zwingend geboten gewesen wäre.

Schließlich wird im folgenden Hauptteil (F, S. 54-83) das Recht des Europäischen Haftbefehls gemäß dem achten Teil des IRG systematisch gegliedert, übersichtlich und verständlich erläutert. Vertiefte rechtsdogmatische Ausführungen zu den einzelnen Bestimmungen erfolgen nur insoweit, als deren Auslegung ohne weiteres als schwierig oder deren Anwendung als rechtlich problematisch anzusehen ist, was zur Stringenz der Abhandlung beiträgt. Von Bubnoff beginnt seine Darstellung der Rechtslage mit der Schilderung der Umsetzung des Rahmenbeschlusses (S. 54-63); für den Praktiker ist hier neben anderem der Abdruck des (einheitlichen) Formulars für den Europäischen Haftbefehl von Interesse (S. 58 ff). Anschließend wendet er sich kritisch der konzeptionellen Abweichung des deutschen Gesetzgebers von der Konzeption des Rahmenbeschlusses zu (S. 63/64): Formal bemängelt er bereits die Einordnung des Rechtes des Europäischen Haftbefehls in das IRG, weil dies dessen vom Rahmenbeschlusses vorgegebenen andersartigem Rechtscharakter kaum entspreche. Wie ein roter Faden durchzieht das Werk die Auffassung des Autors (vgl. auch S. 45 ff, 79, 81), die Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG 2002 Nr. L 190, S. 1 ff.) kranke daran, dass der deutsche Gesetzgeber sich trotz der eindeutigen Formulierung des Rahmenbeschlusses, der eine nur justizielle, einstufige Abwicklung des Europäischen Haftbefehls - "eines eigenständigen aliud mit europäischer Rechtsqualität" - fordere (vgl. Art. 6 und 7 des Rahmenbeschlusses), nicht habe vom traditionell geltenden (und bisher im IRG kodifizierten) Prinzip der Zweistufigkeit trennen können, nach dem zu der bejahenden Entscheidung des Oberlandesgerichts, mit der die Auslieferung für zulässig erklärt wird, eine Bewilligung der Auslieferung durch das Bundesjustizministeriums (im Einvernehmen mit dem Bundesaußenministerium) hinzutreten muss, wobei auch von (außen-)politischen Gesichtspunkten beeinflusste Ermessensentscheidungen durch das Gesetz angelegt sind (vgl. § 83b IRG). Dies sei vom Rahmenbeschluss so nicht vorgesehen. Der Autor sieht darin einen klaren Verstoß nicht nur gegen den Wortlaut des Rahmenbeschlusses, sondern auch gegen dessen Geist, weil die angestrebte Einfachheit und Effizienz des Verfahrens durch die zweistufige Prüfung erheblich verringert werde. Überdies spreche daraus ein institutionalisiertes Misstrauen des deutschen Gesetzgebers gegen die Strafrechtsordnungen anderer Mitgliedsstaaten, das im Prozess der zunehmenden Integration der Europäischen Union auch im Bereich der strafrechtlichen Angelegenheiten, der praktisch gegenseitiges Vertrauen und die Anerkennung mitgliedsstaatlicher Entscheidungen (und Beweisresultate) erfordere, nicht in diesem

Maße handlungsleitend werde dürfe (vgl. S. 63 f). Problematisch sei auch, dass die ministerielle Ermessensentscheidung zu den fakultativen Bewilligungshindernissen des § 83 b IRG wegen der Unanfechtbarkeit der Bewilligungsentscheidung (§ 74 b IRG) keiner gerichtlichen Überprüfung zugänglich seien, obwohl es sich teilweise (vgl. § 83 b Nr. 4 IRG) um individualschützende Rechtspositionen des Verfolgten handele (S. 77 ff). Dies mutet in der Tat verfassungsrechtlich bedenklich an (Art. 19 Abs. 4 GG). Der Autor geht auch kritisch auf die einschränkenden Regelungen zum Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit ein, d. h. auf die sogenannte Positivliste (Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses), die eine Auslieferungsverbindlichkeit für solche Handlungen indiziert, die nach dem Recht des ersuchenden Staates einer der in der Positivliste umschriebenen Deliktsgruppen zuzuordnen sind (S. 67 ff); der Autor sieht zu Recht bei einigen Deliktsgruppen (etwa "Betrugsdelikte") offensichtliche Bestimmtheitsmängel. Grenzen der Hinnehmbarkeit dieser Unbestimmtheit der Deliktsgruppen bei konkreter und abstrakter Straflosigkeit des inkriminierten Verhaltens im ersuchten Staat setze jedoch nur der europäische ordre public (§ 73 Satz 2 IRG), so das anzunehmen ist, dass - wie der Autor meint - eine irgendwie nachvollziehbare Begründung des ersuchenden Staates, das tatbestandliche Verhalten sei nach seiner Rechtsordnung einer einschlägigen Deliktsgruppe zuzuordnen, der Annahme eines Auslieferungshindernisse entgegenstehen wird. Besonders problematisch ist dies offensichtlich in Bereichen, in denen das materielle Recht der Mitgliedstaaten stark von - naturgemäß divergierenden - weltanschaulich geprägten Wertungen bestimmt ist, wie etwa im Grenzbereich der zur Positivliste gehörigen Deliktsgruppe der vorsätzlichen Tötungsdelikte (man denke an [Beteiligung an] Suizid, Euthanasie und Abtreibung). Auch hier bietet § 73 Satz 2 IRG nicht erkennbar eine zufriedenstellende Lösung an. Der Autor wendet sich jedoch ausdrücklich dagegen (vgl. auch Seitz NStZ 2004, 548), in derartigen Fällen durch eine auf ad hoc begonnene Ermittlungen folgende Einstellungsentscheidung einer deutschen Staatsanwaltschaft (vgl. § 83 b Nr. 2 IRG) gezielt ein fakultatives Bewilligungshindernis zur Umgehung des Europäischen Haftbefehls zu schaffen. Im Rahmen seiner Ausführungen zum Auslieferungshindernis der anderweitig erfolgten Strafverfolgung ("ne bis in idem", § 83 Nr. 1 IRG) legt der Autor überzeugend dar, dass der Inhalt der Vorschrift dem des Schengener Doppelbestrafungsverbots (Art. 54 SDÜ) entspricht, mithin auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hierzu einschlägig ist (vgl. EuGH NStZ 2003, 332 f). Er zieht daraus zu Recht die Schlussfolgerung, dass auch staatsanwaltschaftliche Verfahrenserledigungen außerhalb der Hauptverhandlung selbst ohne gerichtliche Mitwirkung zum Auslieferungshindernis führen (vgl. Rübenstahl HRRS 2003, 65 ff). Es folgen Ausführungen zur eingeschränkten Akzeptanz einer Abwesenheitsverurteilung sowie zum Inhalt des Europäischen ordre public 73 Satz 2 IRG i. V. m. Art. 6 EUV). Im Hinblick auf die Übergabe deutscher Staatsangehöriger zum Zwecke der Strafverfolgung ist das gesetzlich geforderte "Angebot" des ersuchenden Staates, die Durchführung der Strafvollstreckung in Deutschland zu ermöglichen (§ 80 Abs. 1 IRG), in der Praxis nicht unproblematisch, wie der bereits erwähnte Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (StV 2005, 29) zeigt, mit dem die Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen nach Spanien vorläufig außer Vollzug gesetzt worden ist. Im konkreten Fall hätte die Bundesrepublik das Angebot Spaniens zur Rücküberstellung nämlich nicht annehmen können, da der Sachverhalt nach deutschem Recht allenfalls unter § 129 b StGB subsumierbar gewesen wäre, die ausländische terroristische Vereinigung allerdings zum Tatzeitpunkt noch nicht strafbar war; somit besteht in Deutschland ein Vollstreckungshindernis. Zu Recht führt der Autor aus, dass das Angebot des ersuchenden Staates nach vorläufiger Beurteilung zum Zeitpunkt der Zulässigkeitsentscheidung unter rechtlichen Gesichtspunkt als annahmefähig erscheinen muss und dass, wenn von vornherein absehbar ist, dass eine Vollstreckung in der Bundesrepublik gegen wesentliche Rechtsgrundsätze verstoßen würde, ein Ablehnungsgrund aus § 73 Satz 2 IRG zu prüfen sei (S. 75). Obwohl dem Autor der Fall des Bundesverfassungsgerichts - den er mehrfach erwähnt - bekannt war, wendet er diese Überlegungen nicht auf den Fall an. Von Bubnoff ist darin zuzustimmen, dass Art. 80 Abs. 1 IRG wegen des Ausnahmecharakters der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger (Art. 16 Abs. 2 GG) verfassungskonform einschränkend auszulegen ist (S. 74), wenn nicht schon das Fehlen einer sichtbaren Harmonisierung von § 80 IRG mit der einschlägigen Gewährleistung (Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG) verfassungswidrig ist. Der Autor hält eine Auslieferung für gerechtfertigt, wenn hinsichtlich des Tatvorwurfs konkrete sachbezogene innerstaatliche Anknüpfungspunkte im ersuchenden Unionsstaat bestehen; darin darf sich aber die verfassungskonforme Auslegung von § 80 Abs. 1 IRG meines Erachtens nicht erschöpfen, da Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG den anzulegenden Maßstab - die rechtsstaatliche Verfahrensweise - ausdrücklich vorgibt. Vertrauensschutz auch für einmal begründete individualschützende verfahrensrechtliche Positionen wird in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zum Rechtsstaatsprinzip durchaus anerkannt (vgl. BVerfGE 63, 343, 358 f). Gerade unter diesem Gesichtspunkt erscheint es zweifelhaft, einen deutschen Staatsbürger auszuliefern, für den zur Tatzeit wegen der fehlenden Strafbarkeit im Inland einer in einem Drittstaat begangenen Handlung ein Auslieferungshindernis bestand. Der Autor teilt dieser Bedenken wohl nicht, da er ein Auslieferungshindernis für den Fall, dass die deutsche Strafgewalt nicht einmal gem. § 7 Abs. 2 StGB gegeben ist, in Betracht zieht (S. 76). Zwar entspricht die Annahme, das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) sei wegen des prozessualen Charakters der Auslieferungsentscheidung nicht verletzt, der tradierten h. M. im Auslieferungsrecht, jedoch stellt sich die Frage, ob nicht bei einer derartigen Fallgestaltung das Rechtsstaatsprinzip (Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) das zur Tatzeit bestehende Auslieferungshindernis als individualschützende Verfahrensposition gegen eine faktische Rückwirkung des Haftbefehlsgesetzes verfassungsrechtlich schützt. Die Auseinandersetzung mit der Problematik von BVerfG StV 2005, 29 (S. 34, 68) ist auch in anderer Hinsicht nicht erschöpfend: Der Autor blendet etwa zur Gänze die der Entscheidung auch

zu Grunde liegende staatsorganisationsrechtliche Problematik aus, nämlich etwa die Frage, ob die im Rat der Europäischen Union vereinten Minister der Mitgliedsstaaten die nationalen Parlamente an die Umsetzung der Rahmenbeschlüsse rechtlich binden und binden dürfen, was etwa vor dem Hintergrund des Demokratieprinzips durchaus bezweifelt werden kann und die Frage, ob der Anwendungsvorrang Europäischen Rechts unter Umständen in Frage zu stellen ist (Solange III).

Es soll ergänzend darauf hingewiesen werden, dass von Bubnoff nicht ausschließbar den Rechtscharakter der von ihm mehrfach herangezogenen Europäischen Grundrechtscharta verkennt (vgl. S. 73). Diese wurde zwar von den europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel von Nizza feierlich proklamiert, dies geschah jedoch bewusst ohne Rechtsbindungswillen, insbesondere ohne dass die Charta Teil der Europäischen Verträge wurde. Erst durch den Vertrag über die europäische Verfassung - der noch nicht ratifiziert ist und bei realistischer Beurteilung (siehe Frankreich und die Niederlande) in absehbarer Zeit auch nicht ratifiziert werden wird - soll die Charta der Grundrechte konstitutiver Bestandteil der Europäischen Verträge werden. Im übrigen kann sie allenfalls als - wenig verbindlicher - Maßstab dafür gelten, inwieweit nach Auffassung des Europäischen Rates Grundrechtspositionen der Unionsbürger bereits jetzt nach den unterschiedlichsten Normen des Europarechts (in der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs) geschützt sind, ohne dass insoweit auf europäischer Ebene jedoch zwingend subjektiv-öffentliche Rechte bestehen. Es kann daher zur Zeit nicht davon die Rede sein, dass die Auslegung der - nicht rechtsverbindlichen - "Grundrechte" im Wege der Vorabentscheidung durch den Europäischen Gerichtshof geklärt werden könnte, wie der Autor anscheinend meint. Der europäische Gerichtshof zieht die Grundrechtscharta auch dort als Auslegungshilfe nicht heran, wo es thematisch nahe läge (vgl. für Art. 50 Grundrechtscharta zum Doppelbestrafungsverbot: EuGH NJW 2005, 1337). Es ist daher beträchtliche Skepsis gegenüber der Annahme des Autors angebracht, der Europäische Gerichtshof würde die Wesensgehaltsgarantie, das Übermaßverbot, die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit sowie die Verfahrensgrundrechte als im Rahmen dieser Grundrechte manifestierte Schranken rechtsstaatlichen Strafens und deshalb als Teil des Europäischen ordre public (vgl. § 73 Satz 2 IRG) ansehen.

Zwar ist es erklärtermaßen auch Zielsetzung des Bandes, Ansätze für eine sinnvolle Gestaltung der anwaltliche Vertretung aufzuzeigen (S. V), es ist jedoch nicht zu übersehen, dass das Buch aus der Perspektive eines rechtsdogmatisch interessierten Justizjuristen geschrieben ist, der rechtliche Probleme im Bereich des Rahmenbeschlusses oder des Haftbefehlsgesetzes naturgemäß nicht als Verteidigungschancen wahrnimmt (und sich daraus ergebende Verteidigungsstrategien skizziert), sondern Lösungsvorschläge - wenn überhaupt - aus der Sicht des an einer effizienten Strafverfolgung interessierten Richters macht. Eine Handlungsanleitung für den Beistand des Verfolgten lässt sich dem Buch mithin nicht entnehmen, dennoch ist es auch für den Rechtsanwalt eine anregende Lektüre, da jedenfalls die in der (weiteren) Anwendung des Europäischen Haftbefehlsgesetzes zu erwartenden Probleme und Zweifelsfälle diskutiert werden. Insgesamt ist das Buch als eine für alle Rechtspraktiker nützliche problemorientierte Einführung in das Recht des Europäischen Haftbefehls zu empfehlen. Die Lektüre lohnt sich. Rechtsanwalt Markus Rübenstahl, mag. iur., Karlsruhe

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Florian Engert, Einheitstäter oder getrennte Behandlung von Täter und Teilnehmer? Die Wege des österreichischen und deutschen Strafrechts. Peter Lang, Frankfurt am Main u.a. 2005, 197 S., br. € 39,00.

Der Einheitstäter feiert seine Renaissance. Nachdem Volk in der 2001 erschienenen Festschrift für Roxin "Tendenzen zur Einheitstäterschaft" ausmachte und treffend "Die verborgene Macht des Einheitstäterbegriffs" aufzeigte (Volk, Roxin-FS., S. 563 ff.), erschien im darauf folgenden Jahr die umfängliche und vorzügliche Dissertation von Hamdorf, die sich in rechtsvergleichender Sicht mit dem deutschen Beteiligungssystem und den Einheitstätersystemen in Skandinavien und Österreich beschäftigte (Hamdorf, Beteiligungsmodelle im Strafrecht. Ein Vergleich von Teilnahme- und Einheitstätersystemen in Skandinavien, Österreich und Deutschland, Freiburg i.Br. 2002). Mit der Arbeit von Engert, mit der er im Jahr 2004 in Augsburg promoviert worden ist, erscheint nun also die dritte aktuelle Untersuchung zu der vermeintlich einzigen Alternative zu dem in Deutschland geltenden differenzierenden Beteiligungsformensystem; einer Alternative, die - jetzt muss man sagen: bislang - nicht mehr ernsthaft in Betracht gezogen worden war. Das der Auffassung vom Einheitstäter zugrunde liegende naturalistische Kausalitätsverständnis veranlasste Roxin, in seiner umfänglichen Schrift zur "Täterschaft und Tatherrschaft" die Unhaltbarkeit einer monistischen Täterlehre mit wenigen Worten apodiktisch festzustellen: "Ob man nun vom kausalen Ansatzpunkt her die Täterschaft von der Teilnahme nach subjektiven oder nach objektiven Gesichtspunkten abgrenzte oder ob man die ganze Unterscheidung verwarf: Heute ist die Zeit einer solchen kausalen Methode endgültig vorbei" (Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 7. Aufl. 2000, S. 6). Die in der rechtswissenschaftlichen Diskussion immer wieder vorgebrachten Einwände gegen die Einheitstäterlehre fasst er dabei auf gerade einmal einer halben Seite zusammen (a.a.O., S. 451). So sei u.a. de lege lata die Beihilfe im Strafrahmen privilegiert, die Veranlassung zu unvorsätzlicher Tat bei eigenhändigen Delikten straflos und der Versuch bei Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe unterschiedlich geregelt. Mit dem Einheitstäterbegriff würden all diese "wohlbegründeten Differenzierungen" aufgegeben. Der Einheitstäter, dessen Einführung nicht lediglich mit dem Hinweis auf Abgrenzungsschwierigkeiten gefordert werden dürfe, würde "eine erhebliche und rechtsstaatlich schwer vertretbare Ausweitung der Strafbarkeit mit sich bringen." Schließlich findet sich auch der be-

kannte Einwand der Gegner des Einheitstäterprinzips wieder, mit der Einführung eines nicht auf dogmatischer Ebene zwischen verschiedenen Formen der Beteiligung differenzierenden Systems würden all jene Gesichtspunkte, die im Beteiligungsformensystem die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme tragen, in den "gesetzesfreien Raum" der Strafzumessung verschoben (Roxin, a.a.O., S. 451). Auch Volk mochte in seinem eingangs angesprochenen Beitrag nur mehr "einen kurzen Abschiedsblick" ... "auf den nebligen Sumpf der Einheitstäterschaft" werfen (Volk, Roxin-FS., S. 563).

Engert unternimmt nun freilich seinerseits nicht den groß angelegten Versuch, das Einheitstätersystem auf ein neues Fundament zu stellen. Vielmehr begnügt er sich in seiner knappen rechtsvergleichenden Schrift damit, die Situation in Deutschland mit derjenigen in Österreich zu vergleichen. Dabei liegt der Schwerpunkt der Betrachtung in der Gegenüberstellung der österreichischen und deutschen Rechtsprechung; die Auseinandersetzung im wissenschaftlichen Schrifttum, die ja in Deutschland wie in Österreich in durchaus heftiger Form geführt wird, nimmt dagegen relativ wenig Raum ein. Im Ergebnis hält Engert die österreichische Lösung für die prozessökonomischere; nur vereinzelt gerate die Einheitstäterlösung in Begründungsschwierigkeiten oder zu widersprüchlichen Ergebnissen. Im Einzelnen:

Die Arbeit besteht aus zwei größeren Teilen. In Teil A (S. 19-43) erfolgt mit der Gegenüberstellung der österreichischen (S. 20 ff.) und der deutschen (S. 37 ff.) Lösung die Darlegung der eigentlichen Problemstellung, die mit der Zusammenfassung der wesentlichen Unterschiede endet (S. 42 f.). In Teil B (S. 45-146) erfolgt sodann der eingehende Vergleich der österreichischen und deutschen Rechtsprechung, die an den Regelungen der §§ 12 öStGB (S. 46 ff.), 13 öStGB (S. 111 ff.), 14 öStGB (S. 118 ff.) und § 15 öStGB (S. 132 ff.) ausgerichtet ist und mit der knappen Erörterung der Konstellationen mehrfacher Beteiligung abschließt (S. 140 ff.). Schließlich wird das Ergebnis der Untersuchung zusammengefasst (C., S. 147 f.). Hilfreich ist der Abdruck der einschlägigen österreichischen und deutschen Regelungen im Anhang (S. 149 ff.).

Engert stellt zunächst zusammenfassend die in Österreich herrschenden Meinungsverschiedenheiten über das dort praktizierte Beteiligungssystem dar. Dabei hält er die im Anschluss an die Differenzierung von Kienapfel so bezeichnete funktionale (herrschende) Einheitstäterlehre für das Einheitstätersystem "in seiner absoluten Reinform". Kienapfel selbst hat freilich stets das von ihm - in wenig glücklicher Terminologie - so genannte "formale Einheitstäterprinzip" als das strengere System bezeichnet, das sich gerade dadurch auszeichnen soll, dass es nur einen einzigen undifferenzierten Täterbegriff gebe. Kienapfel formuliert ausdrücklich: "?Formal? wollen wir ein Einheitstätersystem nennen, das jene Konsequenzen, welche der Name ?einheitlicher? Täterbegriff oder ?Einheitstäterbegriff? verheißt, die Vereinheitlichung aller Tatbegehungsformen, wörtlich nimmt und sich jeder begrifflich-kategorialer Differenzierung auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit entschlägt" (Kienapfel, Erscheinungsformen der Einheitstäterschaft, in: Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, hrsg. von Heinz Müller-Dietz, Köln 1971, S. 26). Freilich hielt selbst Kienapfel ein solches System für nicht vereinbar mit dem Bestimmtheitsgebot (ders., a.a.O., S. 29). Bekanntlich hat sich jedenfalls ein solches Einheitstäterverständnis in Österreich denn auch nicht durchgesetzt. Ein Teil der Literatur ist nun mit Kienapfel und im Anschluss an ihn der Auffassung, die österreichische Lösung sei die des "funktionalen" Einheitstätersystems, bei dem es sich um die "betont rechtsstaatliche Variante des Einheitstätersystems" (Kienapfel, a.a.O., S. 34) handeln soll. Dieses Prinzip kennt verschiedene Täterschaftsformen, hält diese freilich für gleichwertig und unterstellt sie sämtlich derselben Strafdrohung. Engert legt die Prämissen dieser Auffassung dar - extensiver Täterbegriff, rechtliche Gleichwertigkeit aller Täterschaftsformen, Ablehnung jeglicher Akzessorietät, größere Bedeutung der Strafzumessungsebene - und führt auch das wesentliche Argument der Vertreter der Einheitstäterlehre - Vereinfachung der Rechtsanwendung - an. Diesem Verständnis der Einheitstäterlehre stellt er sodann die Auffassungen gegenüber, die die österreichische Lösung als "akzessorisches Teilnahmesystem" bezeichnen (d.i. insbesondere Burgstaller) und insoweit von einer "reduzierten Einheitstäterschaft" reden, als sie den verschiedenen Tatbegehungsformen durchaus unterschiedlichen sozialen Sinngehalt beimessen wollen. Wenn diese Ansicht auf einen Unwertunterschied zwischen der im öStGB geregelten unmittelbaren Täterschaft und der Bestimmungstäterschaft einerseits und der Beitragstäterschaft andererseits abstellt (vgl. § 12 öStGB), nimmt sie freilich faktisch die Fälle der traditionell als Beihilfe bezeichneten Konstellationen aus ihrem Einheitstätermodell heraus. Das hat zu dem auf der Hand liegenden, von Engert aber offenbar nicht geteilten Vorwurf geführt, dass es sich bei der insbesondere von Burgstaller praktizierten Auslegung der §§ 12ff. öStGB um nichts anderes handele, als das bundesdeutsche akzessorische Beteiligungsformensystem (Kienapfel, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 4. Aufl., Wien 1991, E 2 Rn. 44 f.). Jedenfalls lassen sich zwei Einwände kaum von der Hand weisen. Zum einen stellt eine terminologische Differenzierung in unmittelbare Täterschaft, Bestimmungstäterschaft und Beitragstäterschaft gegenüber einem differenzierenden Beteiligungsformensystem keinen wirklichen Fortschritt dar. Denn wenn - wie in Österreich - an eine solche Differenzierung auch unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft werden, ist man der schwierigen Abgrenzungsarbeit in weiten Bereichen in Wahrheit nicht enthoben. Das zeigt die österreichische Rechtsprechung sehr deutlich; dass die eine oder andere Abgrenzungsfrage, wie Engert richtig erkennt, nicht oder anders auftritt, ändert an diesem Befund nichts. Zum anderen lässt sich das schon immer erhobene Bedenken, mit der Ausgliederung der "Beihilfe" werde der Gedanke der Einheitstäterschaft praktisch aufgegeben, nur schwer entkräften.

Die moderneren Ansichten von Schmoller und Triffterer, die zumindest im Ansatz die Erkenntnisse der objektiven Zurechnungslehre für ihr Verständnis von Einheitstäter-

schaft fruchtbar machen wollen, werden von Engert nicht mehr eigenständig gewürdigt, was bedauerlich ist, ließen gerade diese Ansätze sich doch möglicherweise in ein modernes monistisches System integrieren.

Im Folgenden beleuchtet Engert die österreichische Rechtsprechung, der er zubilligt, in der Praxis eine tatsächliche Vereinfachung der österreichischen Beteiligungsregelung bewirkt zu haben (S. 36). In der Tat verwirft der österreichische OGH Nichtigkeitsbeschwerden gem. § 281 Abs. 1 Z. 10 öStPO als unbegründet, wenn der Täter sich gegen eine hinsichtlich der Feststellung seiner Täterschaft vermeintlich unzutreffende Subsumtion wendet (Engert, S. 35 ff.). Dass diese Konsequenz freilich ebenfalls nicht zwingend ist, zeigt der auch insoweit in Österreich herrschende Streit, auf den Engert ebenfalls kurz eingeht (S. 35 ff.). Seine Darstellung belegt freilich, dass die seit Jahrzehnten gegenüber dem Einheitstätersystem erhobenen Vorwürfe, die Abgrenzungsfragen würden in die Ebene der Strafzumessung verlagert, jedenfalls im Hinblick auf das österreichische System nicht ganz unberechtigt sind. So mag es zwar richtig sein, dass der OGH im Laufe der Jahre seine Rechtsprechung zur Mittäterschaft konkretisiert hat (i.d.S. Engert, S. 50 ff.). Diese Konkretisierung stellt aber lediglich eine Wegentwicklung von einer subjektiven zu einer mehr an objektiven Gesichtspunkten orientierten Abgrenzungsweise dar (vgl. Engert, S. 51). Damit ist aber für ein Einheitstätersystem überhaupt nichts gewonnen; im Gegenteil muss die österreichische Rechtsprechung nach wie vor eine Kategorisierung der Beteiligungsbeiträge vornehmen. Die überkommene Trennung in verschiedene Beteiligungsformen wird damit in Wahrheit nicht überwunden; dass mit der Änderung der Begrifflichkeiten lediglich eine äußerliche Umetikettierung erfolgt ist, lässt sich kaum bestreiten. Dabei ist es freilich sicher richtig, wenn Engert (S. 54) feststellt, dass die Abgrenzung der Beteiligungsformen in Österreich an einfacheren Kriterien ausgerichtet ist als in Deutschland.

Sodann vergleicht Engert die Regelung des § 13 öStGB mit § 29 dStGB - erneut anhand der Gegenüberstellung der Rechtsprechung in Österreich und Deutschland - und erkennt, dass Einheitstätersystem und Beteiligungsformensystem zu denselben Ergebnissen führen (S. 111 ff., 117). Besonders erwähnenswert sind auch die Feststellungen zur Versuchsstrafbarkeit gem. § 15 öStGB. Da in Österreich die in Deutschland vorherrschende Ansicht zum regelmäßig geringeren Unwert der Beihilfe auch vom Gesetzgeber geteilt wird, ist der Beitragsversuch in § 15 Abs. 2 öStGB von der Versuchsstrafbarkeit ausgenommen. Damit - das sieht natürlich auch Engert (S. 133) - kommt der Abgrenzung der Beteiligungsformen aber auch auf Versuchsebene Bedeutung zu.

Am Ende seiner analytischen Darlegungen kommt Engert in seiner knappen Conclusio (S. 147 f.) zu dem Ergebnis, dass die österreichische Lösung gegenüber der deutschen "das Argument der Prozessökonomie" für sich habe. In Begründungsschwierigkeiten gerate die Einheitstäterlösung nur vereinzelt, etwa im Rahmen der Straflosigkeit des Beitragsversuches. Auch die Inkonsequenz des OGH, die Tatbeteiligungsformen nicht immer als gleichwertig zu beurteilen, räumt Engert ein. Letzteres sei etwa dann der Fall, wenn die Bestimmung eines anderen zur Begehung einer Straftat stets als strafschärfend gewertet werde (Engert, S. 156).

Es ist zu begrüßen, wenn die seit Jahren bestehenden Zweifel an der Tatherrschaftslehre einerseits und jeglichem differenzierenden Beteiligungsformensystem andererseits zu einer verstärkten Diskussion möglicher Alternativen führen. Dabei soll an dieser Stelle nur folgendes gesagt sein: Erstens lässt sich die Diskussion um ein kausales Tätersystem nicht auf "den" Einheitstäter reduzieren. Im Ausland werden - etwa in Dänemark, Schweden und Norwegen - durchaus ganz unterschiedliche Einheitstätersysteme praktiziert (vgl. Hamdorf, a.a.O., passim). Die Reduzierung auf das Gegensatzpaar "formal" und "funktional" wird den theoretisch begründbaren und auch den tatsächlich praktizierten Einheitstätersystemen nicht mehr gerecht. Zweitens bleiben - dennoch - sämtliche dieser Systeme in der Sache traditionellen Differenzierungsparametern verhaftet. Damit bleiben Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen, die es nicht ratsam erscheinen lassen, ein letztlich doch nur monistisch-kausales Tätersystem mit all seinen Schwächen etwa auch in Deutschland einführen zu wollen. Wer die Bedenken Engerts gegenüber der in Deutschland praktizierten Täterlehre teilt, wird an diesem Punkt nicht stehen bleiben können. Notwendig ist vielmehr die Diskussion der Möglichkeit einer wirklichen Alternative zu jeder differenzierenden Beteiligungslehre. Es ist das Verdienst Engerts, zu der notwendigen Diskussion - vielleicht völlig - neuer Wege in der Beteiligungsdogmatik einen Anstoß gegeben zu haben. Welche Wege dies sein können, muss und sollte die zukünftige Diskussion zeigen. Vor dem Hintergrund zunehmender "Europäisierung des Strafrechts" sollte es hierbei keine Tabus geben.

Akademischer Rat Dr. Thomas Rotsch, Kiel

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Marcus Korte, Das Handeln auf Befehl als Strafausschließungsgrund - Die Wirkung des Befehls im Deutschen Recht und im Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof, Baden-Baden, Nomos, (Nomos Universitätsschriften: Düsseldorfer rechtswissenschaftliche Schriften Bd. 25), 2004, 256 Seiten, ISBN 3-8329-0546-4, 46,- Euro.

Die Dissertation von Marcus Korte setzt sich mit der Thematik des Handelns auf Befehl als Strafausschließungsgrund auseinander. Hierbei legt Korte den Schwerpunkt seiner Ausführungen zum einen auf die Wirkung des Befehls im deutschen Recht und zum anderen auf die Wirkung des Befehls im Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof.

Korte wählt als Einstieg in die genannte Problematik eine Darstellung des historischen Hintergrundes der Rechtsfigur des Handelns auf Befehl. Die Grundlagen des Handelns auf Befehl sieht Korte im Militärstrafrecht im römischen Recht. Im Anschluß an eine Darstellung des Handelns auf Befehl im römischen und germanischen Recht geht Korte des weiteren auf die Behandlung des Handelns auf Befehl in der Zeit des Mittelalters und des Absolutismus ein. Anzumerken bleibt, daß es für einige Leser durchaus hätte hilfreich sein können, wenn der Verfasser im Rahmen des historischen Überblicks die zitierten Grundsätze des römischen und germanischen Rechts ins Deutsche übersetzt hätte.

Zur Abrundung des historischen Überblicks zur Rechtsfigur des Handelns auf Befehl stellt Korte schließlich solche historischen Gerichtsentscheidungen dar, die seiner Auffassung nach als wichtiger Entwicklungsschritt im Völkerstrafrecht angesehen werden können. Zu nennen sind hier unter anderem die Leipziger Prozesse nach dem Ersten Weltkrieg sowie die Nürnberger und die Tokioter Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Rahmen dieser Darstellungen geht Korte auch auf die den Entscheidungen zugrundeliegenden Regelungen zum Handeln auf Befehl ein. Die Betrachtung der historischen Entwicklung vom römischen Recht hin zu den Regelungen des heutigen (Völker-)Strafrechts vervollständigt Korte schließlich dadurch, daß er in einem weiteren Kapitel seiner Arbeit die Entwicklung der Rechtsfigur des Handelns auf Befehl nach Ende des Zweiten Weltkrieges bis hin zu Verabschiedung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs nachzeichnet. Hierbei stellt er auch die unterschiedlichen zum Handeln auf Befehl vertretenen Lehrmeinungen und die verschiedenen diesbezüglich angestrebten Kodifikationsbemühungen dar. Durch die Nachzeichnung des Weges von den Grundsätzen des römischen Rechts über die Auseinandersetzung mit der Rechtsfigur des Handelns auf Befehl in den Weltkriegen, den Kodifikationsbemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg (u.a. in den Statuten der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda) bis hin zur Schaffung des Römischen Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof wird deutlich, welche Entwicklung die Rechtsfigur des Handelns auf Befehl durchgemacht hat. Korte gelingt es, diese Entwicklung klar und leicht nachvollziehbar darzustellen, indem er immer wieder die in der jeweiligen Epoche zum Handeln auf Befehl vertretenen Lehrmeinungen darstellt. Der Leser wird hierdurch in die Lage versetzt, die anschließenden Ausführungen zum Handeln auf Befehl im deutschen Recht und im Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof auch vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung nachzuvollziehen.

Im zweiten Teil seiner Arbeit geht Korte zunächst auf § 5 WStGB ein. Hiernach trifft einen Untergebenen, dessen rechtswidriges Verhalten den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, nur dann eine Schuld, wenn er erkennt, daß es sich um eine rechtswidrige Tat handelt oder dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist. Nachdem Korte die Norm des § 5 WStGB zunächst in den Kontext des Befehlsrechts einordnet, stellt er anschließend die Systematik der Vorschrift dar. Hierbei gelingt es Korte, einen umfassenden, leicht nachvollziehbaren und äußerst informativen Überblick über die Regelung des § 5 WStGB zu geben. Daneben gewinnt der Leser interessante Einblicke in die Befehlshierarchie des Militärs.

Zur Beantwortung der Frage, wann es für den Befehlsempfänger offensichtlich ist, daß sein Verhalten eine rechtswidrige Straftat darstellt, stellt Korte zunächst auf einen objektiven Beurteilungsmaßstab ab. Denn der die Strafbarkeit des Untergebenen begründende Vorwurf liegt darin, daß er nicht erkannt hat, was jeder andere in seiner Situation erkannt hätte. Diesen objektiven Maßstab ergänzt Korte jedoch dadurch, daß diesem ein subjektives, auf den betreffenden Untergebenen bezogenes Kriterium als Beurteilungsgrundlage zugrunde zu legen sein soll. Das individuelle Beurteilungswissen des Täters gewinnt somit nach Auffassung Kortes im Hinblick auf die Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit des Befehls eine entscheidende Bedeutung. Unter Zugrundelegung dieser - m.E. durchaus überzeugenden - differenzierenden Betrachtungsweise geht Korte auf die sog. Mauerschützenurteile des BGH ein. Hierbei kritisiert Korte, daß seitens des BGH nicht hinreichend berücksichtigt wurde, daß es im Rahmen der Prüfung des § 5 WStGB auf eine subjektive Bewertungsgrundlage und somit auf das individuelle Beurteilungswissen der Grenzsoldaten ankomme. Da hinsichtlich der Schuldhaftigkeit der Handlung zu hinterfragen ist, inwieweit den Täter eine individuelle Verantwortlichkeit trifft, ist es m.E. überzeugend, das individuelle Bewertungswissen des Befehlsempfängers als Beurteilungsgrundlage heranzuziehen.

Im zweiten Kapitel des zweiten Teils seiner Arbeit setzt sich Korte mit der Norm des Art. 33 IStGH-Statut auseinander. Hiernach schließt ein Handeln auf Befehl die Verantwortlichkeit des Befehlsempfängers grundsätzlich nicht aus, es sei denn a) der Täter war gesetzlich verpflichtet, den Anordnungen der betreffenden Regierung oder des betreffenden Vorgesetzten Folge zu leisten, b) der Täter wußte nicht, daß die Anordnung rechtswidrig ist, und c) die Anordnung war nicht offensichtlich rechtswidrig. Zu Art. 33 IStGH-Statut ist zunächst anzumerken, daß die Verantwortlichkeit des Befehlsempfängers nur in den Fällen entfallen kann, wenn jenem "lediglich" die Begehung von Kriegsverbrechen befohlen wurde. Denn Art. 33 II IStGH-Statut stellt explizit klar, daß Anordnungen zur Begehung von Völkermord oder von Verbrechen gegen die Menschlichkeit als offensichtlich rechtswidrig anzusehen sind. Um die Normen des § 5 WStGB und des Art. 33 IStGH-Statut vergleichen zu können geht Korte zunächst auf die Frage ein, was unter einer Anordnung ("order") i.S.d. Art. 33 IStGH-Statut zu verstehen sei. Da das IStGH-Statut stark vom anglo-amerikanischen Recht beeinflußt wurde, greift Korte zur Beantwortung dieser Frage auf Rechtsprechung und Literatur des Common Law zurück. Schließlich setzt sich Korte mit den Voraussetzungen auseinander, deren Vorliegen die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Befehlsempfängers ausschließt. Diesbzgl. kommt Korte zu dem Ergebnis, daß diese Voraussetzungen kumulativ vorlie-

gen müssen, damit der Befehlsempfänger nicht für die Befolgung des Befehls verantwortlich gemacht werden kann.

Das dritte Kapitel des zweiten Teils der Arbeit geht nunmehr auf die Frage ein, welche Unterschiede hinsichtlich der Bewertung des Handelns auf Befehl nach deutschem Recht und nach dem IStGH-Statut bestehen könnten. Hierbei thematisiert Korte zunächst, ob das Kriterium der Offensichtlichkeit i.R.d. Art. 33 IStGH-Statut (… "not manifestly unlawful".) ein lediglich objektives oder ein (zumindest auch) subjektives Bewertungskriterium darstellt. Diesbzgl. analysiert Korte das sogenannte "manifest illegality principle" der u.s.-amerikanischen Rechtsprechung, indem er sog. "leading cases" nachzeichnet. Diese lassen zwar keine einheitlichen Kriterien zur Bestimmung der Offensichtlichkeit erkennen. Jedoch finden sich überwiegend solche Urteile, die die Frage nach der Offensichtlichkeit anhand rein objektiver Kriterien bestimmen. Da Korte davon ausgeht, daß die Grundzüge des anglo-amerikanischen Rechts auch die Rechtsprechung des ICC prägen werden, muß er mithin zu dem Ergebnis gelangen, daß § 5 WStGB und Art. 33 IStGH-Statut die Frage nach einem offensichtlich rechtswidrigen Befehl bzw. einer offensichtlich rechtswidrigen Anordnung anhand unterschiedlicher Kriterien beantworten. So ermöglicht die hinsichtlich der Offensichtlichkeit zumindest auch auf subjektive Kriterien abstellende Regelung des § 5 WStGB - das individuelle Bewertungswissen des Befehlsempfängers bildet die Beurteilungsgrundlage dafür, ob der erteilte Befehl als offensichtlich rechtswidrig anzusehen ist - eine systematische Einordnung eventueller Irrtümer des Befehlsempfängers in die deutsche Strafrechtsdogmatik. Im Gegensatz zu der sehr differenzierten Irrtumsdogmatik des deutschen Strafrechts unterscheidet Art. 32 IStGH-Statut lediglich zwischen dem "mistake of fact" und dem "mistake of law". Hierin ist wiederum eine Übernahme anglo-amerikanischer Rechtsgrundsätze zu sehen. Das Common Law erkennt die Schuldhaftigkeit des Täterverhaltens nicht als eigenständiges Verbrechensmerkmal an. Dementsprechend kann dort nicht danach differenziert werden, ob ein Irrtum des Täters die Tatbestandsmäßigkeit oder aber die Schuldhaftigkeit seines Verhaltens entfallen läßt.

Im Ergebnis führt die Anwendung der Regelungen des IStGH-Statuts (Art. 33 I i.V.m. Art. 32 IStGH-Statut) dazu, daß die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Befehlsempfängers weiter geht als dies nach deutschem Wehrstrafrecht der Fall ist. Nach Auffassung Kortes dürfte diese eher auf die Tat denn auf den Täter blickende strafrechtliche Kodifikation des IStGH-Statuts nicht nur der Notwendigkeit geschuldet sein, zwischen dem Rechtssystemen des Common Law und dem kontinentaleuropäischen Rechtssystem zu vermitteln. Vielmehr sei hier auch der Tatsache Bedeutung beizumessen, daß das IStGH-Statut ausschließlich Delikte besonderer Schwere erfaßt. Eine Normierung ausdifferenzierter Straffreistellungsgründe zugunsten der Täter könne hier kaum auf Verständnis der Öffentlichkeit oder der Opfer stoßen. Allein die Schwere der abzuurteilenden Straftaten darf jedoch - hierin ist Korte uneingeschränkt zuzustimmen - nicht dazu führen, daß man von einer tätergerechten Beurteilung des fraglichen Verhaltens absieht. Es bleibt letztlich abzuwarten, inwieweit dem Internationalen Strafgerichtshof eine derartige tätergerechte Beurteilung auf Befehl begangener Taten mit dem ihm an die Hand gegebenen Regelwerk des IStGH-Statuts gelingen wird.

Im dritten Teil seiner Arbeit geht Korte schließlich auf die Frage der strafrechtlichen Beurteilung des Befehlsnotstands im deutschen Recht (erster Teil) und im IStGH-Statut (zweiter Teil) ein. Diesbzgl. ist wiederum anzumerken, daß die Regelungen des Art 31 I c und d IStGH-Statut (self- defence und duress) auf Grundsätze des anglo-amerikanischen Rechts zurückgreifen. Diesem ist eine Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung fremd. Korte gelangt hierbei zu der Schlußfolgerung, daß unter Anwendung anglo-amerikanischer Rechtsgrundsätze auf Art. 31 I d IStGH-Statut eine Straflosigkeit des Befehlsempfängers, der im Befehlsnotstand handelt, als äußerst unwahrscheinlich anzusehen ist.

Zusammenfassend bleibt zu sagen, daß die Dissertation Kortes einen äußerst informativen und leicht verständlichen Überblick über die Regelungen zum Handeln auf Befehl im deutschen Strafrecht und im IStGH-Statut bietet. Korte gelingt es hierbei, dem Leser die wichtigsten Grundsätze des Common Law näherzubringen und deren Bedeutung für die Anwendung des IStGH-Statuts zu unterstreichen. Der Autor arbeitet die Unterschiede zwischen den Regelungen des WStGB und des IStGH-Statuts klar heraus. Besonders positiv ist hierbei zu bewerten, daß Korte die jeweiligen Konsequenzen der relevanten Normen deutlich herausarbeitet und diese einander gegenüberstellt. Der Leser wird hierdurch in die Lage versetzt, die Vor- und Nachteile der den Normen zugrundeliegenden unterschiedlichen Rechtssysteme klar zu erkennen. Ihm wird hierdurch die Möglichkeit gegeben, sich selbständig eine Meinung zum behandelten Thema zu bilden. Schließlich ist zur Arbeit Kortes anzumerken, daß der Autor vorhandene Lösungsansätze zur Problematik des Handelns auf Befehl durchaus kritisch bewertet. Sein eigener Lösungsansatz sowie die letztlich gezogenen Schlußfolgerungen sind überzeugend hergeleitet und dargelegt. Alles in allem ist die Arbeit Kortes jedem zu empfehlen, der sich mit der Thematik des Handelns auf Befehl näher auseinandersetzen möchte.

Wiss. Mit. Kirsten Schmidt, Univ. Gießen

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Patrick J. Rieck, "Substitut oder Komplement?" Die Videofernvernehmung von Zeugen gemäß § 247 a StPO, Duncker & Humblot, Berlin 2003 (Schriften zum Strafrecht, Heft 139), 338 S., ISBN 3-428-11022-6, € 98,-.

Mit der Dissertationsschrift « "Substitut oder Komplement?" Die Videofernvernehmung von Zeugen gemäß § 247 a StPO» legt der Verfasser Patrick J. Rieck eine sorgfältig aufbereitete Untersuchung der mit dem Zeugenschutzgesetz im Jahre 1998 in die Strafprozessordnung eingeführten Vorschrift des § 247 a StPO vor. In einer kritisch durchdachten Weise beschäftigt er sich mit der Thematik der audiovisuellen Simultanübertragung einer Zeugenaussage von einem anderen Ort als dem der Hauptverhandlung, wobei er das Bedürfnis für eine weitere Untersuchung des § 247 a StPO auf die "offensichtlich gegebenen Schwierigkeiten der Verfahrenspraxis im Umgang mit dem nunmehr in der StPO vorgesehenen "Videozeugen"" (S. 41) zurückführt. Aufgrund der gegebenen theoretischen wie praktischen Unsicherheiten beim Umgang mit dem Videozeugen und des - sowohl in den Gesetzesbegründungen zum Zeugenschutzgesetz als auch in den bisher zu § 247 a StPO erschienenen literarischen Stellungnahmen - bestehenden Mangels an Ausführungen zum "praktischen Fundament" (S. 43) des § 247 a StPO und zu empirischen Erfahrungen im Umgang mit jener Vorschrift, macht es sich Rieck zur Aufgabe, jene praktischen wie theoretischen Unklarheiten aufzuzeigen und zu beseitigen (S. 42 f., 46). Unterzieht er dazu die Vorschrift des § 247 a StPO einerseits in theoretischer Hinsicht einer detaillierten dogmatischen Untersuchung, so geht er andererseits aber auch auf die praktische Seite der Videofernvernehmung ein, indem er sich mit strafjustizpraktischen Erfahrungen im Umgang mit Videokonferenztechnik (S. 117 ff.) sowie vernehmungs- und wahrnehmungspsychologischen Gesichtspunkten (S. 157 ff.) auseinandersetzt.

Die "überaus hohe(n) Bedeutung des persönlichen Beweismittels "Zeuge" (S.26) an den Anfang stellend (S. 25 f.), geht der Verfasser im einleitenden Kapitel "Allgemeine Ausgangspunkte" zunächst - wenn auch in recht knapper Weise - auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Zeugenschutz, der Wahrheitsfindung im Strafverfahren und divergierenden Interessen anderer Prozessbeteiligte ein (S. 25 - 32). Bezüglich der "Verhinderung der "Flucht" des Zeugen im Hinblick auf die Möglichkeit der Videovernehmung" (S. 32 - 41) vermittelt er im folgenden einen Überblick über die Regelungen zum Einsatzes von Videotechnik im deutschen Strafprozess gemäß §§ 58 a, 255 a, 168 e und 247 a StPO (S. 33 - 39) und stellt den Übereinkommensvorschlag des Rates der Europäischen Union vom 29.05.2000 dar (S. 39 - 41). Erst anschließend werden die "Ziele der Arbeit im Hinblick auf den Einsatz von Videotechnik im Strafprozess bei der Vernehmung von Zeugen" (S. 41 - 46) formuliert und ein "Überblick über den Gang der Untersuchung" (S. 46-47) gegeben.

Im zweiten Kapitel "Anwendung von Videotechnik im Hauptverfahren des deutschen Strafprozesses" (S. 48 - 101) widmet sich der Verfasser im Anschluss an die Darstellung der "Rechtsgenese der Regelungen in der StPO zum Einsatz von Videotechnik im Gerichtssaal" (S. 48 - 57) den "gesetzlichen Regelungen der §§ 247 a, 168 e StPO im einzelnen" (S. 57 - 101) und untersucht hier in detaillierter Weise die verschiedenen Anwendungsfälle für eine Videovernehmung.

An den Anfang des 3. Kapitels zum "Verhältnis des § 247 a zur unmittelbaren Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung sowie zu anderen Beweismitteln" (S. 102 - 156) stellt Rieck die in Rechtsprechung und Literatur gegen den Einsatz des Videozeugen im Strafprozess geäußerten kritischen Einwände und Bedenken (S. 102 - 107). Diesen stellt er sodann erste strafjustizpraktische Erfahrungen im Umgang mit § 247 a StPO gegenüber, wobei er zum einen - als Fallbeispiel für fremde Erlebnisse bei Videokonferenzen - auf das "Videokonferenz-Verfahren des LG Dresden mit dem nicht-EU-Ausland" (S. 118 - 121) und zum anderen auf "Eigene Erfahrungen bei Videokonferenzen" (S. 121 - 133) eingeht. Die vom Verfasser - aufgrund seiner Teilnahme an und der Durchführung von eigenen Videokonferenzen (S. 122, 128) - gewonnenen Erkenntnisse zur praktischen "Funktionsweise der Videokonferenzsysteme" (S. 122) gibt er in einem verständlich und anschaulich beschriebenen "Überblick über die verwendete Technik, die Datenübertragung und die technischen Eigenschaften" (S. 123 - 128) wieder. Jene vom Verfasser als positiv bewerteten Erfahrungen beim Umgang mit Videokonferenztechnik (S. 128, 132) legt er sodann seiner weitergehenden Untersuchung, insbesondere bei der Prüfung des Verhältnisses des Videozeugen zu anderen Beweismittel (S. 121, S. 45), zugrunde.

Der Frage nachgehend, ob und inwieweit die geäußerten Befürchtungen zutreffen, nach denen der Einsatz von Videotechnik im Strafprozess zu einer Beeinträchtigung des Unmittelbarkeitsprinzips führe, gelangt der Verfasser nach differenzierenden Erläuterungen des Unmittelbarkeitsprinzips (S. 133 - 153) zu dem Zwischenergebnis, dass "durch die audiovisuelle Fernvernehmung von Zeugen … eine Beeinträchtigung des Unmittelbarkeitsprinzips in seinem formellen wie materiellen Aspekt nicht festgestellt werden" (S. 153) kann sowie, dass es sich bei § 247 a StPO "um eine Ergänzung und keine Ausnahme des Prinzips der Unmittelbarkeit" (S. 153) handelt.

Der Frage, ob "bei Videokonferenzen … "Kommunikation" im herkömmlichen Sinne möglich" (S. 157) und ob bei diesen zudem die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen bzw. der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage gewährleistet sei, widmet sich der Verfasser im 4. Kapitel zur "Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Zeugen bei audiovisueller Fernvernehmung" (S. 157 - 205). Im ersten Teil jenes Kapitels geht er auf die "Audiovisuelle Kommunikation als Ausgangspunkt der Glaubwürdigkeitsbeurteilung" (S. 157 - 175) ein und untersucht insoweit zum einen die "Veränderungen des Kommunikationsverhaltens bei Videokonferenzen" (S. 158 - 169) und zum anderen die "Richterliche Kommunikationsverantwortung und Kommunikationsoptimierung bei einer Videokonferenz" (S. 169 - 175). Im folgenden zweiten Teil des Kapitels zur "Glaubwürdigkeitsbeurteilung" (S. 175 - 205) widmet sich der Verfasser - im Anschluss an die leider etwas knapp gehaltene Darstellung der "zu-

nächst anhand der Kommunikationsverbalinformationen" erfolgenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung (S. 179 - 181) - in ausführlicher Weise der "Verhaltensorientierten Glaubwürdigkeitsbeurteilung" anhand des nonverbalen Ausdrucksverhaltens des Zeugen (S. 181 - 203).

Gegenstand des 5. Kapitels ist das "Verhältnis des § 247 a zu weiteren Vorschriften sowie einzelne, damit verbundene Probleme" (S. 206 - 269), wobei hier von Rieck verschiedene, "um § 247 a kreisende Einzelprobleme" (S. 47) aufgegriffen werden. Dazu gehören das Verhältnis des § 247 a zu der "Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung gem. § 247" (S. 206 - 222), die "Videofernvernehmung und kommissarische Zeugenvernehmung gem. § 223" (S. 222 - 242), die "Durchführung der Zeugenvernehmung durch Sachverständige als "Vernehmungsgehilfen"?" (S. 243 - 249) sowie die Frage der "revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit" von zu § 247 a getroffenen tatgerichtlichen Entscheidungen (S. 263 - 269). Da der Untersuchung von Rieck Rechtsprechung und Schrifttum bis Februar 2002 zugrunde gelegt wurden, sei im Zusammenhang mit der ebenfalls behandelten Frage der "Zulässigkeit der Abschirmungen des Zeugen?" (S. 249 - 263) auf die nunmehr geänderte Rechtsprechung zur Zulässigkeit technischer Veränderungen bei audiovisueller Vernehmung von Verdeckten Ermittlern (BGH, Beschl. v. 26.9.2002, NJW 2003, 74 ff.) hingewiesen.

Im 6. Kapitel wird dem speziellen Problem der "Anwendung der Videotechnik bei Auslandszeugen" (S. 270 - 302) nachgegangen, wobei sich neben "Gründe(n) und rechtliche(n) Kriterien für die Videofernvernehmung von Auslandzeugen" (S. 270 - 281) Ausführungen zur "grenzüberschreitenden Videokonferenz gem. Art 10 Ergänzungs-Übereinkommen zum EuRhÜbk v. 29.05.2000", zur "Mangelnde(n) Sanktionierbarkeit der Falschaussage des "Videozeugen" " (S. 289 - 297) sowie zum Verhältnis zwischen "Videofernvernehmung von Auslandszeugen und freie(m) Geleit" (S. 297 - 302) finden.

Im 7. Kapitel (S. 303 - 308) fasst Rieck die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung sowie seine Forderungen de lege ferenda zusammen und gibt einen - leider sehr kurzen - Ausblick auf die seiner Ansicht nach zukünftig steigende Bedeutung der audiovisuellen Videofernvernehmung von Zeugen in der Hauptverhandlung, wobei er an die "Bereitschaft der Verfahrenspraxis …" appelliert, "… die "neuen Medien" auch für den Strafprozess nutzbar zu machen" (S. 308).

Unter erneuter Betonung des notwendig zu beachtenden empirisch-praktischen Fundaments des § 247 a StPO, für das Rieck mit seiner Arbeit einen wertvollen Beitrag geleistet hat, fordert er die Verfahrenspraxis dazu auf, "sich einen umfassenden Eindruck von den technischen Möglichkeiten heutiger Videokonferenzsysteme zu bilden" (S. 305).

Der Anhang (S. 309 - 316) enthält "Pressemitteilungen des LG Dresden", Angaben zu den "Annähernde(n) Kosten für Videokonferenzen in Deutschland", "Informationen zu Videokonferenzen und Videokonferenzsystemen im Internet" sowie Angaben zu den "Länder(n), in die Videokonferenzen etwa durch die Telekom AG geschaltet werden können".

In kritischer Auseinandersetzung mit den in Rechtsprechung und Literatur geltend gemachten Einwänden gegen den Einsatz des Videozeugen im Strafprozess tritt Rieck in konsequenter Weise für seine Ansicht von der "Sinnhaftigkeit einer Beweisführung vermittels "Videozeugen" " (S. 306) ein. Sein "Werben" für den Einsatz des "Videozeugen" im Strafprozess, welches sich wie ein roter Faden durch die gesamte Arbeit zieht, kleidet er dabei in eine klare und verständliche, jedoch nicht aufdringliche Sprache sowie in einen überwiegend gut strukturierten Untersuchungsaufbau, der das zu beachtende Zusammenspiel der theoretischen und praktischen Seite der Videofernvernehmung nach § 247 a StPO in ansprechender Weise aufzeigt und belegt. Im Sinne des von Rieck geäußerten Wunsches, wonach seine Untersuchung "Diskussionsgrundlage sein und Widerspruch herausfordern (soll)" (S. 306), ist dieses Buch daher jedem zu empfehlen, der sich mit dem Einsatz des "Videozeugen" als neues Medium im Strafprozess in kritischer und reflektierender Weise auseinanderzusetzen beabsichtigt.

Oberassistentin Dr. Daniela Demko, LL.M.Eur., Univ. Zürich

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