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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Januar 2005
6. Jahrgang
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1. Ein Revisionsführer, der das Vorliegen einer Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verletzenden Verfahrensverzögerung geltend machen will, muss grundsätzlich eine Verfahrensrüge erheben. Ergeben sich indes bereits aus den Urteilsgründen die Voraussetzungen einer solchen Verzögerung, hat das Revisionsgericht auf Sachrüge einzugreifen. (BGHSt)
2. Das gilt auch, wenn sich bei der auf Sachrüge veranlassten Prüfung, namentlich anhand der Urteilsgründe, ausreichende Anhaltspunkte ergeben, die das Tatgericht zur Prüfung einer solchen Verfahrensverzögerung drängen mussten, so dass ein sachlichrechtlich zu beanstandender Erörterungsmangel vorliegt. (BGHSt)
3. Die Voraussetzungen eines solchen Erörterungsmangels werden nach den individuellen Gegebenheiten eines jeden Einzelfalls zu beurteilen sein. So wird eine überdurchschnittlich lange Verfahrensdauer wegen der vielen denkbaren Ursachen nicht ohne weiteres einen sachlichrechtlichen Erörterungsbedarf in diesem Sinne auslösen. Den - im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK freilich dokumentationspflichtigen - Tatrichtern wird in diesem Bereich kein unangemessener übergroßer Begründungsbedarf abverlangt: Selbstverständlich wird eine schlüssige schlagwortartige Erklärung für eine auffällige Verfahrensverzögerung ausreichen. (Bearbeiter)
4. Soweit danach eine Verfahrensrüge erforderlich ist, dürfen die Anforderungen an den Revisionsvortrag (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) nicht übersteigert werden. (Bearbeiter)
5. Ein Vorlageverfahren ist mangels entgegenstehender Rechtsprechung anderer Strafsenate nicht erforderlich. Zwischen den Senaten bestehen im Ergebnis lediglich im einzelnen noch unterschiedliche Auffassungen zur sachlichrechtlichen Erörterungspflicht bei Anzeichen für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung. (Bearbeiter)
1. Zulässigkeit der Verwertung von Unterlagen, die im Wege der Rechtshilfe in der Schweiz beschlagnahmt wurden, für ein Strafverfahren wegen Untreue und Steuerhinterziehung. (BGHSt)
2. Revisionsrechtliche Beanstandung unterbliebener Beiziehung von Akten eines weiteren gegen den Angeklagten geführten Ermittlungsverfahrens, deren Einsicht in jenem Verfahren von der Staatsanwaltschaft wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks versagt wird. (BGHSt)
3. Ein Nachteil im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB kann auch dann vorliegen, wenn der Vermögensbetreuungspflichtige Provisionen erhält, die zwar vom Vertragspartner seines Geschäftsherrn stammen, aber über den Geschäftsherrn an einen Dritten ausbezahlt und von dort an den Treupflichtigen weitergeleitet werden. (BGHSt)
4. Einkommensteuerrechtliche Relevanz eines nicht offen gelegten Treuhandverhältnisses. (BGHSt)
5. Der Anspruch auf Akteneinsicht bezieht sich nur auf die dem Gericht tatsächlich vorliegenden Akten (BGHSt 30, 131, 138; 42, 71). Insoweit ist der Akteneinsichtsanspruch freilich uneingeschränkt und auch nicht etwa im Wege eines "in camera"-Verfahrens beschränkbar (vgl. BGHR StPO § 96 Sperrerklärung 5; BGH NStZ 1998, 97). (Bearbeiter)
6. Für die Annahme, die Verteidigung sei in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt beschränkt worden, genügt nicht, dass die Beschränkung nur generell (abstrakt) geeignet ist, die gerichtliche Entscheidung zu beeinflussen. Vielmehr ist § 338 Nr. 8 StPO nur dann gegeben, wenn die Möglichkeit eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Verfahrensverstoß und dem Urteil konkret besteht (BGHR StPO § 338 Nr. 8 Beschränkung 6 m. w. N.). Dies hat auch Auswirkungen auf die Vortragspflicht, weil die Revision dartun muss, welcher konkrete Zusammenhang zwischen dem geltend gemachten Verfahrensfehler und einem für die Entscheidung bedeutsamen Punkt besteht. Damit korrespondiert das Erfordernis möglichst konkreten Vortrages bei einer Rüge wegen unterlassener Beiziehung von Akten unter dem Aspekt der Verletzung der Aufklärungspflicht (vgl. BGHSt 30, 131, 136 ff.; BVerfGE 63, 45, 69 ff.). (Bearbeiter)
7. Die Möglichkeit einer Beschlagnahme von Ermittlungsakten durch das erkennende Gericht ist grundsätzlich zweifelhaft. (Bearbeiter)
8. Der Senat hält es für erwägenswert, die Versagung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft in dem vorliegenden ganz speziell und außergewöhnlich gelagerten Fall in erweiterter Auslegung des § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO oder gemäß § 23 EGGVG (vgl. BGHSt 46, 261; BVerfGE 63, 45, 66) sofortiger gerichtlicher Überprüfbarkeit zu unterwerfen. (Bearbeiter)
1. Der Tatrichter kann nur in ganz extremen Ausnahmefällen als letztes Mittel zur Verhinderung eines Rechtsmissbrauchs dem Angeklagten auferlegen, Beweisanträge künftig nur noch durch seinen Verteidiger stellen zu lassen. Aus der Begründung eines solchen Beschlusses muss sich ergeben, warum nach Ansicht des Tatrichters der Angeklagte sein Beweisantragsrecht bis zu diesem Zeitpunkt rechtsmissbräuchlich eingesetzt hat. (BayObLG)
2. Das Recht des Angeklagten, selbständig neben seinem Verteidiger Gegenstand und Umfang der Beweisaufnahme durch Beweisanträge mitzubestimmen, ist unabdingbarer Bestandteil eines rechtsstaatlich fairen Verfahrens. (Bearbeiter)
3. Dem Tatrichter ist das Recht abzusprechen, die weitere Entgegennahme von Anträgen eines Verteidigers schlechthin und von vornherein abzulehnen,
selbst wenn der Verteidiger seine prozessualen Rechte missbraucht haben sollte (BGH JR 1980, 218/219). (Bearbeiter)
1. Unter den Begriff der Vernehmung im Sinne des § 252 StPO fällt auch die Befragung der Angehörigen des Angeklagten im Sinne von § 52 Abs. 1 StPO durch einen Vertreter der Jugendgerichtshilfe. (BGHR)
2. Nach ständiger Rechtsprechung dürfen in entsprechender Anwendung der Vorschrift nichtrichterliche Vernehmungspersonen in der Hauptverhandlung grundsätzlich so lange nicht über den Inhalt früherer Angaben eines zur Zeugnisverweigerung berechtigten Zeugen gehört werden, wie Ungewissheit darüber besteht, ob dieser von seinem Weigerungsrecht Gebrauch macht oder darauf verzichtet (vgl. BGHSt 25, 176, 177 m. w. N.). (Bearbeiter)
3. Der Erziehungsgedanke als beherrschender Zweck des Jugendstrafrechts hat bei der Strafbemessung auch dann Vorrang, wenn Jugendstrafe allein wegen der Schwere der Schuld verhängt wird. (Bearbeiter)
§ 354 Abs. 1 b Satz 1 StPO ist auch dann anwendbar, wenn im Revisionsverfahren eine Teileinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO erfolgt und deshalb über die Gesamtstrafe neu zu befinden ist. (BGHR)
1. Dem als Beistand eines nebenklageberechtigten Verletzten bestellten Rechtsanwalt (§ 406g StPO) kann der Vorsitzende im Rahmen seiner Sachleitungsbefugnis gestatten, in der Hauptverhandlung einzelne Fragen zu stellen. (BGHR)
2. Eine auf ein solches Verhalten des Vorsitzenden gestützte Verfahrensrüge könnte nur dann erfolgreich sein, wenn in der Hauptverhandlung gemäß § 238 Abs. 2 StPO eine Entscheidung des Gerichts herbeigeführt wurde. Weitere Voraussetzung für eine erfolgreiche Rüge wäre, dass durch die Zulassung der Frage(n) eine Sachaufklärung oder die Wahrnehmung von Verfahrensinteressen beeinträchtigt worden wäre. Dies muss der Revisionsführer unter Angabe der einzelnen Fragen und aller für die Beurteilung maßgebenden Tatsachen, insbesondere auch hinsichtlich der Art der Beeinträchtigung, dartun. (Bearbeiter)
1. Erst im Verfahren entstandene Spannungen zwischen Richtern und Verteidigern begründen in aller Regel nicht die Besorgnis der Befangenheit (vgl. BGHR StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit 8; BGH NJW 1998, 2458, 2459). Im besonderen Fall kann eine Besorgnis der Befangenheit jedoch begründet sein.
2. Dies ist insbesondere dann gegeben, wenn das Gericht eine kritikwürdige Zeugenbefragung in ungewöhnlich drastischer und damit unsachlicher Form kritisiert hat und sich die übersteigerte Kritik nicht mehr als spontane Unmutsäußerung darstellt. Dies gilt zumal dann, wenn das - bei der Befragung nicht intervenierende Gericht - eine Mitverantwortung an der kritikwürdigen Befragung trifft. Die Kritik des Gerichts ist dann auch aus der Sicht eines besonnenen Angeklagten als unsachliche Beanstandung der Berufsausübung der Verteidiger zu verstehen, die besorgen lässt, das Gericht werde auch künftiges Verteidigerhandeln und Verteidigungsvorbringen nicht in der erforderlichen abwägenden Distanziertheit zur Kenntnis nehmen (vgl. BGHR StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit 8).
3. Eine Anwendung von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO auf Befangenheitsanträge mit sachlichem Gehalt kann das Revisionsgericht wegen der - infolge fehlender dienstlicher Erklärungen - eingeschränkten Tatsachengrundlage dazu nötigen, den im Befangenheitsgesuch anwaltlich als richtig versicherten Vortrag der Revisionsentscheidung zugrunde zulegen (vgl. BGHR StPO § 338 Nr. 3 Revisibilität 1).
4. Der Vorsitzende muss in Ausübung der Verhandlungsleitung unzulässige, ungeeignete und nicht zur Sache gehörende Fragen zurückweisen, um der Achtung der menschlichen Würde der Zeugin sowie dem Rechtsstaatsprinzip zu genügen (BGHSt 48, 372).
1. Ob ein Zeuge, der für länger zurückliegende Vorgänge benannt worden ist, völlig ungeeignet ist, weil auszuschließen ist, dass er sie zuverlässig in seinem Gedächtnis behalten hat (vgl. BGHSt 14, 339, 342; NStZ 1999, 362, 363), hat der Tatrichter anhand allgemeiner Lebenserfahrung unter Berücksichtigung aller Umstände, die dafür oder dagegen sprechen, dass der Zeuge die in sein Wissen gestellten Wahrnehmungen gemacht und im Gedächtnis behalten hat, zu beurteilen (vgl. BGH NStZ 1993, 295, 296). Maßgeblich für die Beurteilung ist insbesondere, ob der Vorgang, zu dem der Zeuge aussagen soll, für ihn bedeutsam gewesen ist, sein Interesse geweckt hat und ob sich der Zeuge auf Erinnerungshilfen stützen kann.
2. Bei der Prüfung der Geeignetheit des Beweismittels ist zwar in Grenzen eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung und dabei auch Freibeweis zulässig, wobei jedoch feststehen muss, dass eine verwertbare Aussage keinesfalls zu erwarten ist (vgl. BGH NStZ 1999, 362, 363 m.w.N.). Dies aber schon dann nicht der Fall, wenn eine Zeugin bei ihrer freibeweislichen Anhörung nachvollziehbare Gründe dafür genannt hat, dass sie den Wortlaut der Äußerung im Gedächtnis behalten hat. Zu berücksichtigen ist es auch, wenn es sich - wie bei der Behauptung sexueller Belästigungen - um einen nicht völlig belanglosen Vorgang handelt (vgl. BGH NStZ 1993, 295, 296).
1. Die Aufklärungspflicht ist auch verletzt, wenn bei verständiger Würdigung der Sachlage durch den abwägenden Richter die Verwendung einer Aufklärungsmöglichkeit den Schuldvorwurf möglicherweise in Frage gestellt hätte (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 2 Umfang 1).
2. Für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung gerade bei Aussagen im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts ist es regelmäßig ein wesentlicher Gesichtspunkt, ob sich der Zeuge durch seine Aussage in dem gegen ihn selbst gerichteten Verfahren im Hinblick auf § 31 BtMG entlasten wollte; für diesen Fall besteht nämlich die nicht fernliegende Gefahr, daß der "Aufklärungsgehilfe", der sich durch seine Aussage Vorteile verspricht, den Nichtgeständigen zu Unrecht belastet (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 245). Ist ein geständiger Mitbeschuldigter, auf dessen belastende Aussage die Überführung des Angeklagten entscheidend gestützt wird, bereits wegen seiner Beteiligung an derselben Betäubungsmittelstraftat verurteilt worden, muss die Beweiswürdigung deshalb erkennen lassen, ob sich der Betreffende eine Strafmilderung als "Aufklärungsgehilfe" verdient hat oder nicht und ob er sich möglicherweise darüber hinaus in bedenklicher Weise zu Lasten des nicht geständigen Angeklagten eingelassen haben kann (vgl. BGH StV 2004, 578, 579).
Revisionsrügen können nicht mit Behauptungen "ins Blaue hinein" begründet werden (vgl. schon BGHSt 7, 162, 164, 165). Lässt sich weder aus dem Protokoll, noch aus dem Urteil das Vorliegen entscheidungserheblicher Verfahrensfehler klären, kann der für die Revisionsinstanz mandatierte Verteidiger im Hinblick auf § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO verpflichtet sein, Erkundigungen einzuziehen.