HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2004
5. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zur Rechtsprechung des EGMR in Sachen "Hörfalle"

(Reihe strafprozessuale Leitfälle zur EMRK)

Von Frau Oberassistentin Dr. Daniela Demko (LLM), Zürich

A. Einleitung

Die Verpflichtung zur Gewährleistung der Menschenrechte der EMRK richtet sich an die Mitgliedstaaten als Vertragspartei der Konvention[1], wobei jeder Mitgliedstaat die völkerrechtliche Verantwortung "für das Verhalten aller seiner verfassungsmäßigen, mit hoheitlicher Gewalt ausgestatteten Organe"[2] trägt. Die Staaten sind damit für die Ausübung hoheitlicher Gewalt verantwortlich[3] und ihre Verpflichtung zur Einhaltung der Menschenrechte umfasst alle sich auf die Konventionsrechte unmittelbar auswirkenden Hoheitsakte der gesetzgeben-

den, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt.[4] Infolge der völkerrechtlichen Natur der Konvention besteht also eine entsprechende Verpflichtung für Privatpersonen grundsätzlich nicht und eine Verletzung der Konvention durch ein ausschließlich und rein privates Verhalten kommt grundsätzlich nicht in Betracht.[5]

Hier nun eröffnet sich der im folgenden zu besprechende Problemkreis der Einschaltung und Mithilfe privater Dritter bei der Strafverfolgung und der damit verbundenen Gefahr eines bewussten Unterlaufens der Rechtsbindung der Mitgliedstaaten.[6] Gerade im Zusammenhang mit den sog. Hörfallen, bei denen private Personen an der Überwachung und Aufzeichnung von Telefongesprächen mit dem Beschuldigten beteiligt sind, erlangt das Umgehungsverbot in bezug auf Art. 8 EMRK und der dort garantierten Achtung der Korrespondenz[7] an Bedeutung.[8]

Der EGMR beschäftigte sich mit der sich bei den sog. Hörfallen stellenden Problematik insbesondere in der schon etwas älteren Entscheidung A. v. Frankreich aus dem Jahre 1993[9] sowie der neueren Entscheidung M.M. v. Niederlande aus dem Jahre 2003,[10] in der auf die frühere Entscheidung Bezug genommen wurde.[11]

B. Aufgabenstellung und Ziel der folgenden Darstellung

In einer Zusammenschau beider Entscheidungen soll im Folgenden versucht werden, den Prüfungsaufbau des EGMR und die dabei von ihm im besonderen Maße hervorgehobenen Beurteilungskriterien nachzuzeichnen.[12] Das Aufzeigen der speziell in bezug auf die sog. Hörfallen vom EGMR entwickelten Lösungen bzw. Lösungsansätze für ein Zusammenwirken von staatlichen Behörden und Privatpersonen eröffnet sodann den Raum für weiterführende Hinweise auf im Schrifttum zu findende Überlegungen und Schlussfolgerungen zur Abgrenzung rein privaten Verhaltens von solchem hoheitlicher Natur.

C. Der Fall M.M. v. Niederlande

I. Sachverhalt

Dem Fall M.M. lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Bf., ein niederländischer Anwalt, wirkte für Herrn K in dem gegen diesen geführten Strafverfahren als Verteidiger. Im Zusammenhang mit diesem Fall traf sich der Bf. mehrmals mit Frau S, die zu dieser Zeit die Frau des K war. Nachdem S ihrem Mann K erzählte, dass der Bf. am 8.11.1993 ihr gegenüber sexuelle Annäherungsversuche gemacht hatte, informierte K den seinen Fall untersuchenden Polizeibediensteten N. N wiederum informierte den gegen K ermittelnden StA T, der anordnete, eine Strafanzeige gegen den Bf. bei der Sittenpolizei einzureichen. Da S aus ihrer Furcht heraus, ihr Wort würde als einzig verfügbarer Beweis gegen das des Bf. nicht genügen, mit einer Strafanzeige zögerte, wurde in den folgenden Besprechungen zwischen N, dem Polizeibediensteten R von der Sittenpolizei und dem StA T der Frau S der Vorschlag gemacht, ein Tonbandgerät an ihr Telefon anzuschließen, damit sie ankommenden Gespräche mit dem Bf. aufnehmen konnte. Im Folgenden verbanden Polizeibedienstete ein Tonbandgerät mit dem Telefon der S in ihrer Wohnung und rieten ihr, dass sie ihre Gespräche mit dem Bf. auf dessen sexuelle Avancen lenken solle. Frau S wurde gezeigt, wie sie das Gerät bedienen muss; die Polizei kam zweimal in ihre Wohnung, um die Aufnahmen einzusammeln und neue Bänder in das Tonband zu laden. Frau S nahm drei Gespräche mit dem Bf. auf, die von der Polizei protokolliert und die Protokolle zu den Verfahrensakten im Verfahren gegen den Bf. genommen wurden. Der Bf., der wegen sexueller Angriffe auf Frau S verurteilt wurde, rügte in der Revision vor dem niederländischen Obersten Gerichtshof, dass seine Argumentation hinsichtlich des hier betroffenen Art. 8 EMRK unzutreffend zurückgewiesen worden sei, wonach die Strafverfolgung für unzulässig erklärt bzw. die rechtswidrige Erlangung der Beweismittel hinsichtlich der Telefongespräche mit Frau S festgestellt werden sollte. Jene Rüge wies der Oberste Gerichtshof mit der Begründung zurück, dass "unter den Umständen des Falles ein Eingriff in Art. 8 EMRK nicht festzustellen"[13] sei.

II. Begründungsaufbau und -erwägungen des EGMR

1. Prüfungsreihenfolge

Jene Frage, ob die Aufzeichnung der Telefongespräche des Bf. mit Frau S für eine Verwendung derselben als strafverfahrensrechtliches Beweismittel nun einen Eingriff einer staatlichen Behörde in die Rechte des Bf. gem. Art. 8 EMRK darstellt, und anhand welcher Kriterien jener staatliche Eingriffscharakter zu bestimmen ist, ist dann auch Hauptgegenstand der Begründungserwägungen des EGMR.[14] Zu betonen ist, dass der EGMR der

Frage nach einem "Eingriff in die Rechte des Bf. gem. Art. 8 EMRK..., der einer staatlichen Behörde zugerechnet werden kann oder nicht"[15] als ersten Prüfungsschritt nachgeht. Erst im Anschluss an das von ihm festgestellte Zwischenergebnis, dass seiner Ansicht nach und im Unterschied zur Meinung des niederländischen Obersten Gerichtshofs "ein Eingriff durch eine staatliche Behörde in das Recht des Bf. auf Achtung seiner Korrespondenz"[16] vorliege, prüfte der EGMR in einem zweiten Prüfungsschritt die "Verletzung des Art. 8 EMRK".[17]

2. Begründungserwägungen zum 1. Prüfungsschritt des "Eingriffs durch eine staatliche Behörde"

Jener "heikle(n) und schwierige(n) Frage"[18], ob und wann das Zusammenwirken der Polizei mit Privatpersonen den Charakter eines Eingriffs einer staatlichen Behörde annimmt, widmet sich auch das abweichende Sondervotum der Richterin Palm, die im Unterschied zur Mehrheitsauffassung des EGMR und in Anlehnung an den niederländischen Obersten Gerichtshof einen Eingriff durch eine staatliche Behörde ablehnte.

Bei der Prüfung des Vorliegens eines "Eingriffs einer staatlichen Behörde" geht es um nichts anderes als darum zu beurteilen, ob es sich bei dem zusammenwirkenden Verhalten der staatlichen Behörden mit den Privatpersonen noch um eine rein private Handlung oder bereits um eine solche hoheitlicher Natur handelt. Da die Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten nur bei einem Verhalten von hoheitlicher Natur eingreift, stellt sich damit die Frage, wie sich das Zusammenwirken der staatlichen Behörden mit den Privatpersonen zu gestalten hat, damit der Eingriff in Art. 8 EMRK den staatlichen Behörden als eigener zugerechnet und die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten infolgedessen bejaht werden kann.[19]

Für jenen "Zurechnungsansatz des EGMR"[20] weist der Gerichtshof zum einen darauf hin, dass "es die Polizei gewesen ist, die Frau S den Vorschlag unterbreitete, die Telefongespräche mit dem Bf. aufzunehmen"[21], also die Initiative und Urhebung des Vorhabens von der staatlichen Behörde ausging.[22] Ebenso wie die Polizeibediensteten für die Urhebung des Vorhabens verantwortlich waren, leisteten sie zum anderen zugleich "einen wesentlichen Beitrag zur Ausführung des Vorhabens"[23], indem sie das Telefon der Frau S mit einem Tonbandgerät verbanden, ihr rieten, ihre Gespräche mit dem Bf. auf die sexuellen Annäherungsversuche zu lenken, sie im Umgang mit dem Tonbandgerät instruierten, ihre Wohnung betraten und die Aufnahmen einsammelten.[24]

Nach Ansicht und Bewertung des EGMR lag darin ein wesentlicher maßgeblicher Beitrag der staatlichen Behörden bei der Ausführung des Vorhabens, wobei der Gerichtshof auf den früheren Fall A. v. Frankreich zurückgriff, dessen "gleiche(n) Erwägungen... hier anzuwenden"[25] seien. Da die StA und die Polizei zudem in Ausübung ihrer dienstlichen Pflichten agierten, greife die Verantwortlichkeit des beklagten Staates folglich ein.[26]

Dies änder t e sich aus Sicht des EGMR auch nicht durch den Umstand, dass es S "überlassen (war), das Tonbandgerät zu aktivieren und den Bf. zu Ausführungen zu verleiten, die auf ein Schuldeingeständnis hinauslaufen".[27] Vielmehr betonte der Gerichtshof ausdrücklich, dass er im "vorliegenden Fall, der sich wie A. gegen Frankreich dadurch auszeichnet, dass die Polizei einen privaten Bürger einsetzt, um Beweismittel in einem Kriminalfall zu erlangen,... nicht vom Argument der Regierung überzeugt (ist), dass es allein Frau S war, die das Geschehen in der Hand hielt. Die Anerkennung eines solchen Arguments würde bedeuten, daß die Strafverfolgungsbehörden ihre aus der EMRK folgenden Verpflichtungen durch den Einsatz privater Ermittler umgehen könnten".[28]

Betrafen die vorgängigen Ausführungen des EGMR nun die Frage, ob überhaupt ein wesentlicher Beitrag einer staatlichen Behörde gegeben war, so äußerte er sich zu der Frage der Kausalität jener Mitwirkung für das Gelingen des Vorhabens eher vorsichtig bzw. nur andeutungsweise, indem es hieß, es sei "nicht erforderlich,... zu prüfen, daß Frau S selbst ohne die Einschaltung der staatlichen Behörden uneingeschränkt berechtigt gewesen wäre, die Telefonanrufe des Bf. aufzuzeichnen und so wie von ihr beabsichtigt zu verwenden. Die in diesem Fall allein zu stellende Frage ist die der Mitwirkung einer staatlichen Behörde".[29] Unter Zurückgreifen auf den im Strafrecht anerkannten Grundsatz, dass hypothetische Kausalverläufe nicht zu berücksichtigen seien, da sie die Ursächlichkeit eines realen, tatsächlichen Geschehensablaufs nicht zu beseitigen vermögen[30], ließe sich die Tatsache, "dass eine hypothetisch rein private Ersatzhandlung die tatsächliche Mitwirkung nicht ausräumt...", durchaus dahin deuten, "... dass eine kausale Bedeutung der staatlichen Mitwirkung für das tatsächliche Geschehen aus seiner Sicht (des EGMR) zu fordern ist".[31]

3. Offengebliebene Fragestellungen zum "Eingriff durch eine staatliche Behörde"

Festzuhalten bleibt, dass der EGMR auf einen sog. maßgeblichen Beitrag, eine wesentliche Beteiligung der staatlichen Behörden abstellt und dies sowohl hinsichtlich der Initiative und Urhebung als auch bezüglich des Ausführungsstadiums des Vorhabens erwähnt. Offen und ungeklärt lässt er aber die Frage, was nun genau die Beteiligung der staatlichen Behörde zu einer eben "wesentlichen", "maßgeblichen" Beteiligung erhebt, die die Staatenverantwortlichkeit begründet. Gerade der Hinweis des EGMR, dass es aus seiner Sicht nicht "allein Frau S war, die das Geschehen in der Hand hielt"[32], wirft die Folgefrage auf, ob er schon jeden noch so geringen staatlichen Beitrag ausreichen lässt oder ob er nicht vielmehr eine Art "staatliche Tatherrschaft" verlangt, die der staatlichen Behörde, wenn auch keine Allein-, so doch zumindest eine überwiegende "Haupt-Tatherrschaft" über das Geschehen einräumt. Die Frage der Beurteilung der "Maßgeblichkeit" des staatlichen Beitrages bewegt sich damit zwischen den zwei Eck- bzw. Grenzpunkten, dass das Geschehen einerseits ausschließlich und allein in den Händen der Privatpersonen liegt und folglich rein privaten Charakter trägt und andererseits ein die Eigenverantwortlichkeit der Privatpersonen vollständig ausschließendes Verhalten der staatlichen Behörden von infolgedessen klar hoheitlichem Charakter gegeben ist.[33]

Offen lässt der EGMR weiterhin, ob dieser maßgebliche Beitrag der staatlichen Behörden kumulativ im Urhebungs-/Planungsstadium und zugleich im Aus-/Durchführungsstadium des Vorhabens vorliegen muss oder ob insoweit etwa an ein Alternativverhältnis zu denken ist.

D. Der Fall A. v. Frankreich

I. Sachverhalt und Begründungserwägungen

Gerade zur Beantwortung letzterer Frage sind in dem vom EGMR früher entschiedenen Fall A. v. Frankreich nun insoweit deutlichere Hinweise zu finden:

Hier erschien die Privatperson G bei der Polizei und teilte dem zuständigen Polizeibeamten aus eigenem Antrieb mit, dass die Bf. ihn zur Tötung einer dritten Person beauftragt habe. Freiwillig bot G an, die Bf. anzurufen, um mit ihr verschiedene Möglichkeiten des Mordes zu diskutieren, und schlug vor, diese Telefongespräche aufzunehmen. Unter Eingehen auf dieses Angebot rief G vom Dienstapparat im Büro des Polizeibeamten bei der Bf. an, wobei das Telefongespräch durch den Polizeibeamten aufgezeichnet wurde.

Im Unterschied zum Fall M.M. ging die Initiative zur Aufzeichnung der Telefongespräche hier nicht von der Polizei, sondern von der Privatperson aus, so dass ein maßgeblicher Beitrag der staatlichen Behörde bei der Urhebung des Vorhabens nicht vorlag. Dennoch kam der EGMR zum Ergebnis einer Bejahung eines Eingriffs einer staatlichen Behörde in Art. 8 EMRK, was er damit begründete, dass der Polizeibeamte "einen maßgeblichen Beitrag bei der Ausführung des Vorhabens (leistete), indem er für eine kurze Zeit sein Büro, sein Telefon und ein Tonbandgerät zur Verfügung stellte..."; zudem "... handelte er in Ausübung seiner Pflichten...", so dass folglich "... die staatlichen Behörden in einem solchen Umfang involviert (waren), daß die Verantwortlichkeit des Staates i.S.d. Konvention eingreift"[34]

II. Offengebliebene Fragestellungen zum "Eingriff durch eine staatliche Behörde"

Hier finden sich also dieselben Argumente, wie sie der EGMR auch im Fall M.M. aufgegriffen hatte. Wenn der EGMR zwar auch im Fall A. v. Frankreich offen ließ, welche Kriterien im Einzelnen den staatlichen Beitrag zu einem solchen von maßgeblichen, wesentlichen Gewicht machen, so verdeutlichte er aber zumindest, dass ein solcher wesentlicher staatlicher Beitrag nicht kumulativ bei der Urhebung und zugleich der Ausführung des Vorhabens vorliegen muss. Vielmehr hielt er für ausreichend, aber eben auch erforderlich, dass bei der Ausführung des Vorhabens ein wesentlicher Beitrag der staatlichen Behörden vorlag. Unbeantwortet bleibt insoweit nun die Folgefrage, ob dies wiederum bedeutet, dass jedenfalls bzw. zumindest im Ausführungsstadium eine wesentliche staatliche Beteiligung vorliegen muss oder ob umgekehrt eine solche auch bei der Initiative und Planung des Vorhabens ausreichend sein könnte. Mit anderen Worten fragt sich, ob der eingeforderte staatliche Beitrag alternativ entweder im Initiativ- oder im Ausführungsstadium vorliegen muss oder ob nicht von einer Vorrangstellung des Ausführungsstadiums auszugehen ist, wonach als unverzichtbares Mindesterfordernis ein maßgeblicher staatlicher Beitrag jedenfalls bei der Ausführung des Vorhabens vorliegen muss, ein solcher bei der Initiative und Planung hingegen als verzichtbar erscheint.[35]

E. Weiterführende Lösungsansätze zum "Eingriff durch eine staatliche Behörde"

Jene bisher ungeklärten Fragen gehen auf das eigentliche Grundproblem zurück, anhand welcher Leitkriterien zu beurteilen ist, wann sich ein Kommunikationsvorgang zwischen Privatpersonen trotz Beteiligung staatlicher Behörden noch als private Handlung erweist und wann jener Kommunikationsvorgang gerade wegen einer sich in einer bestimmten Art und Weise gestaltenden staatlichen Beteiligung nun hoheitlichen Charakter annimmt.[36]

I. Das ablehnende Sondervotum der Richterin Palm im Fall M.M. v. Niederlande

Das Fehlen eben solcher anerkannten Beurteilungskriterien macht insbesondere das Sondervotum der Richterin Palm im Fall M.M. deutlich, die im Unterschied zum EGMR eine Verletzung des Art. 8 EMRK aus dem Grund verneinte, dass schon kein Eingriff einer staatlichen Behörde gegeben sei. Unter Aufwerfen der Frage, ob "die Polizei... so sehr in die Tonbandaufnahme involviert (war), daß die Verantwortung des Staates nach der EMRK eingreift..." oder ob "... die Polizeiaktionen eher als Information und Beratung in einer Art und Weise gesehen werden (können), die nicht zu einem Eingriff in Art. 8 EMRK führen"[37], beurteilte sie unter Aufgreifen des Ansicht des niederländischen Obersten Gerichtshofs ein- und dasselbe Tatgeschehen dahingehend, dass die Polizei eben "nicht in einer solchen leitenden Art und Weise"[38] gehandelt habe, die auf einen Eingriff einer staatlichen Behörde hinauslaufen würde. Festzuhalten bleibt insofern, dass auch Palm wie der EGMR, der von maßgeblicher, wesentlicher Bedeutung spricht, für einen staatlichen Eingriff eine bestimmte Art von leitender Beteiligung und ein "so sehr"[39] in den Kommunikationsvorgang Involviertsein verlangt, dass dies einer "beginnenden Polizeiuntersuchung nahe kam".[40] Auch nach Palm ist daher eine Art und Weise einer staatlichen Beteiligung erforderlich, die dem Gesamtgeschehen eine hoheitliche Prägung und Färbung vermittelt.

Palm differenziert insoweit nun zwar zwischen einem rechtswidrigen Eingriff der Polizei in Art. 8 EMRK einerseits und einem sog. "akzeptierten Polizeiverhalten"[41] andererseits, das in der Beratung und Hilfe für bedrängte Bürger - und in der hier vorliegenden Opferhilfekonstellation speziell für Frauen, die sexueller Belästigung und Gewalt ausgesetzt sind - besteht.[42] Offen lässt aber auch sie, anhand welcher qualitativer und/oder quantitativerMa ß stäbe zu bestimmen ist, wann ein Zusammenwirken von Privatpersonen und staatlichen Behörden den Charakter einer privaten Handlung trägt und wann dieses in ein Verhalten von hoheitlicher Natur übergeht.

II. Der Fall Allan v. Großbritannien

Stellt sich das Verhalten privater Personen im Rahmen der Strafverfolgung als "prinzipiell konventionsneutral"[43] dar und erlangt das Zusammenwirken von Privatpersonen und Strafverfolgungsbehörden erst dann konventionsrechtliche Relevanz, wenn sich die staatlichen Behörden das private Verhalten zuzurechnen haben,[44] so sei auf der Suche nach inhaltlich jenes Zurechungsprinzip näher ausgestaltenden Kriterien kurz auf einen weiteren, vom EGMR entschiedenen Fall hingewiesen: So heißt es in der Entscheidung Allan v. Großbritannien[45], die den Schutz des Schweigerechts und der Selbstbelastungsfreiheit "gegen Umgehung... durch dem Staat zurechenbare Informanten in Fällen besonderer persönlicher Beziehungen zum Beschuldigten und bei funktionalen Vernehmungen anerkennt"[46], dass die Prüfung einer Verletzung des Schweigerechts "vor allem auf die Beziehung zwischen dem Informanten und dem Staat sowie auf das Verhältnis zwischen dem Informanten und dem Beschuldigten zu fokussieren ist: Das Schweigerecht ist nur dann verletzt, wenn der Informant als Agent des Staates handelte... Wann ein Informant als dem Staat zuzurechnender Agent anzusehen ist, hängt davon ab, ob der Wortwechsel zwischen dem Angekl. und dem Informanten in der gleichen Art und Weise auch erfolgt wäre, wenn die Behörden nicht eingegriffen hätten".[47] Auch hier stellt der EGMR für seine Zurechnungslösung daher auf eine sich in einer bestimmten Art und Weise gestaltende "Beziehung" zwischen der Privatperson und der staatlichen Behörde und eine den Kommunikationsvorgang tatsächlich beeinflussende Beteiligung der staatlichen Behörde ab. Unbeantwortet lässt er aber wiederum, welche Kriterien genau jene staatliche Mitwirkung zu einer solchen machen, die einem Kommunikationsvorgang zwischen Privatpersonen den Charakter einer privaten Handlung abspricht und diesem hoheitlichen Charakter verleiht.

III. Lösungsansätze im Schrifttum

Auch im Schrifttum sind zu jener Problematik bisher nur wenige Lösungsvorschläge zu finden. Hingewiesen sei beispielsweise - wenn auch nur in Kürze und mit hinweisendem Charakter - etwa auf die Ausführungen von Trechsel, der, - wenn auch im Zusammenhang mit der Freiheitsentziehung unter Verletzung der Souveränität - auf eine interessante "Analogie aus der Strafrechtsdogmatik"[48] zurückgreift und die Teilnahmelehre zur Lösung heranzieht: jene "Teilnahmeverantwortlichkeit"[49] liege vor, wenn der Mitgliedstaat zur Grundrechtsverletzung mindestens mittelbar beiträgt bzw. eine solche begünstigt.[50]

Auch Tietje stellt in seinen, wenn auch etwas allgemeiner gehaltenen Ausführungen darauf ab, dass "ein Eingriff in den Schutzbereich der Kommunikationsfreiheit vorliegt, wenn ein Hoheitsträger an dem Kommunikationsvorgang beteiligt ist".[51] In einer differenzierten Untersuchung zum Umgehungsverbot der EMRK durch den Einsatz von Privatpersonen bei der Strafverfolgung spricht Gaede

insoweit von einer "staatliche(n) Mitverantwortung...", welche "... die private Natur der späteren Eingriffshandlung (überlagert)"[52] und stellt in einer sich "im jeweiligen Recht der EMRK seinen Anfangsgrund findende(n) Vorverlagerung des Menschenrechtsschutzes"[53] auf eine über ein allgemeines Lebensrisiko hinausgehende "staatliche Risikosetzung"[54] ab. Esser geht davon aus, dass die Anforderungen an den entscheidenden Beitrag der Strafverfolgungsbehörden "nicht allzu hoch"[55] anzusetzen und "mittlerweile eher niedriger einzustufen"[56] seien, wobei er den weiterführenden Gedanken an "positive Handlungspflichten zum Schutz des Privatlebens..." aufwirft und "... eine staatliche Schutzpflicht zur Abwehr privater Eingriffe in die von Art.8 EMRK geschützten Rechte"[57] für denkbar hält.

F. Begründungserwägungen des EGMR zum 2. Prüfungsschritt der "Verletzung" des Art. 8 EMRK

An das Zwischenergebnis einer Bejahung eines maßgeblichen staatlichen Beitrages und damit eines Eingriffs durch eine staatliche Behörde in den Schutzbereich des Art.8 EMRK schließt der EGMR die Prüfung der "Verletzung"[58] des Art.8 EMRK bzw. umgekehrt, positiv formuliert, der Voraussetzungen einer Rechtfertigung jenes Eingriffs an. Danach verletzte ein solcher Eingriff Art.8 EMRK, "es sei denn, er basiert auf einem Gesetz i.S.d. EMRK, verfolgt ein gem. Art. 8 II EMRK legitimes Ziel und ist in einer demokratischen Gesellschaft hinsichtlich dieses Zieles verhältnismäßig".[59] In den Fällen M.M. v. Niederlande und A. v. Frankreich kam der EGMR nun zum Ergebnis einer Verletzung des Art.8 EMRK, weil es schon an einer entsprechenden Grundlage im nationalen Recht, also einem Gesetz i.S.d. EMRK fehlte.[60] Allein schon dies genügte dem Gerichtshof und es sei "nicht erforderlich zu prüfen, ob der vorliegende Eingriff ein legitimes Ziel verfolgte oder in einer demokratischen Gesellschaft diesbezüglich verhältnismäßig war".[61] Infolgedessen fanden sich folgerichtig auch keine weitergehenden Auseinandersetzungen mit der in Art. 8 Abs. 2 EMRK niedergelegten "Schrankenregelung".[62]

G. Schlussbemerkung

Lag der Schwerpunkt der Ausführungen des EGMR in den Fällen M.M. v. Niederlande und A. v. Frankreich bei dem ersten Prüfungsschritt des Vorliegens eines "Eingriffs durch eine staatliche Behörde", so bleibt insoweit anzuwarten, in welcher Weise er sich zur inhaltlichen Ausgestaltung der von ihm eingeforderten maßgeblichen, wesentlichen Beteiligung der staatlichen Behörden zukünftig äußern wird. Wünschenswert wäre insofern, dass er es nicht nur bei einem Berufen auf die berühmten "Umstände des Einzelfalls" beließe - die unbestritten ja stets von Bedeutung sind -, sondern Leitkriterien formuliert, an denen er sich zur Beurteilung der Maßgeblichkeit der die völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit begründenden Beteiligung einer staatlichen Behörde orientiert und ausrichtet.


[1] Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, § 17 Rn.6, S. 121.

[2] Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 1996, Art.25 Rn.49, S.552.

[3] Frowein/Peukert, (Fn.2), Art.25 Rn. 50, S. 553; Grabenwarter, (Fn.1), § 17 Rn. 6, S. 121.

[4] Frowein/Peukert, (Fn.2), Art.25 Rn. 40, S. 548; Grabenwarter, (Fn.1), § 17 Rn. 6, S. 121

[5] So auch Gaede, StV 1/2004, 46, 46.

[6] Beulke, Strafprozeßrecht, 2001, § 23 Rn. 481g, S. 247.

[7] Frowein/Peukert, (Fn.2), Art. 8 Rn.6; Grabenwarter, (Fn.1), § 22 Rn.9, S. 207; Meyer-Ladewig, Handk. EMRK, 2003, Art. 8 Rn.35.

[8] Die folgende Besprechung konzentriert sich allein auf Art. 8 EMRK, nicht jedoch auf die Anschlussfrage eines mit Blick auf Art. 6 EMRK zu beantwortenden Verwertungsverbots bei Hörfallen; vgl. insoweit die weiterführende Untersuchung von Gaede, StV 1/2004, 46, 48 ff.

[9] EGMR, A. v. Frankreich, U.v. 23.11.1993, Serie A, Nr. 277-B.

[10] EGMR, M.M. v. Niederlande, U. v. 8.4.2003, Beschwerde Nr. 39339/98, StV 1/2004, 1ff.

[11] Siehe zum "normgestützte(n) case-law" auch Gaede, StV 1/2004, 46, 46; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1999, Rn. 167.

[12] Vgl. auch die - in drei Grundschritte unterteilte - Strukturierung der Prüfung eines Umgehungsverbots bei Gaede, StV 1/2004, 46, 50ff.

[13] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1,1.

[14] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1,2 Ziff. 36-42.

[15] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1,2 Ziff. 36.

[16] EGMR, M.M.v.Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff. 42.

[17] EGMR, M.M.v.Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff. 43, 44-46.

[18] So die Formulierung der Richterin Palm im abweichenden Sondervotum, StV 1/2004, 1,2.

[19] Frowein/Peukert, (Fn.2), Art. 25 Rn.49, S. 553: "das Handeln einzelner Amtsträger ist dem Staat zuzurechnen, soweit es mit dem diesem übertragenen Aufgabenbereich in Verbindung steht".

[20] Gaede, StV 1/2004, 46, 47.

[21] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff. 37.

[22] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff. 39.

[23] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff. 39.

[24] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff. 37.

[25] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff. 39.

[26] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff. 39.

[27] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff. 37.

[28] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff. 40.

[29] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff.41.

[30] Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2001, S. 52 Rn. 161.

[31] Gaede, StV 1/2004, 46, 51.

[32] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff.40.

[33] Dahingehend auch Gaede, StV 1/2004, 46, 51.

[34] EGMR, A.v.Frankreich, Ziff. 36, StV 1/2004, 1,2 Ziff.38.

[35] Für ein Alternativverhältnis scheint sich unter Heranziehung des Gedankens positiver Handlungspflichten zum Schutz des Privatlebens Esser auszusprechen, vgl. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002, S. 149.

[36] Vgl. dazu auch Tietje, MDR 11/1994, 1078, 1080.

[37] Sondervotum der Richterin Palm, StV 1/2004, 1,2.

[38] Sondervotum der Richterin Palm, StV 1/2004, 1,2.

[39] Sondervotum der Richterin Palm, StV 1/2004, 1,2.

[40] Sondervotum der Richterin Palm, StV 1/2004, 1,3.

[41] Sondervotum Palm, StV 1/2004, 1,2.

[42] Vgl. zu jener "Opferfallgruppe" auch die Ausführungen von Gaede, StV 1/2004, 46, 47f.

[43] Esser, (Fn.35), S. 178.

[44] Esser, (Fn.35), S. 178, 180; Gaede, StV 1/2004, 46, 47.

[45] EGMR, Allan v. Großbritannien, U.v. 5.11.2002, Beschwerde Nr. 48539/99, StV 5/2003, 257 ff.

[46] Gaede, StV 5/2003, 260, 260.

[47] EGMR, Allan v. Großbritannien, StV 5/2003, 257, 259 Ziff.51.

[48] Trechsel, EuGRZ 1987, 69, 77.

[49] Trechsel, EuGRZ 1987, 69, 77.

[50] Trechsel, EuGRZ 1987, 69, 77 mit weiteren Ausführungen.

[51] Tietje, MDR 11/1994, 1078, 1080.

[52] Gaede, StV 1/2004, 46, 51.

[53] Gaede, StV 1/2004, 46, 51.

[54] Gaede, StV 1/2004, 46, 52.

[55] Esser, (Fn.35), S. 185.

[56] Esser, (Fn.35), S. 149.

[57] Esser, (Fn.35), S. 149; vgl. zudem seine Ausführungen zur Zurechnungslösung im Fall EGMR, Stocke v. Deutschland, Serie A Nr. 199, wonach es auf "eine persönliche Verantwortlichkeit der... beteiligten Beamten" ankomme, S. 180.

[58] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff.43ff.

[59] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff.43.

[60] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff.45; EGMR, A.v.Frankreich, Serie A Nr. 277-B, §§ 36f.

[61] EGMR, M.M. v. Niederlande, StV 1/2004, 1, 2 Ziff.46.

[62] Grabenwarter, (Fn.1), § 22 Rn. 29, S. 221; siehe dazu näher § 22 Rn. 30ff. sowie § 18 Rn. 5ff.; zudem Meyer-Ladewig, (Fn.7), Art.8 Rn.42ff.; Frowein/Peukert, (Fn.2), S. 329 ff.; Esser, (Fn.35), S. 145 ff.