HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2004
5. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die November-Ausgabe publiziert insbesondere die Entscheidung des BVerfG zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der EMRK und zur Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR. Zu dieser Entscheidung ist ein knapper HRRS-Praxishinweis aufgenommen. Grundsätze der Auslegung der EMRK selbst unterbreitet Ihnen der Aufsatz von Frau Dr. Daniela Demko (LLM) zur Rechtsprechung des EGMR in Sachen Hörfalle und die aufgenommene Entscheidung des EGMR zur Meinungsfreiheit des Rechtsanwalts.

Aus der Rechtsprechung des BGH scheint insbesondere eine Entscheidung des vierten Strafsenates hervorhebenswert, in welcher der Senat § 136a StPO auf einen Fall des Missbrauchs der Untersuchungshaft zur Herbeiführung einer Verfahrensabsprache anwenden musste.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede Wiss. Ass.


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

867. BVerfG 2 BvR 1481/04 (Zweiter Senat) - Beschluss vom 14.10.2004 (OLG Naumburg)

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens; Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK); Mangelhafte Umsetzung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR); Rechtsstaatsprinzip (Bindung an Recht und Gesetz; Berücksichtigung der EMRK und der Entscheidungen des EGMR; faires Verfahren); Stellung der EMRK in der nationalen Rechtsordnung (Normenhierarchie; einfaches Bundesgesetz); Berücksichtigung der EMRK im Verfassungsbeschwerdeverfahren (kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab; Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes); völkerrechtliche Bindungswirkung von Entscheidungen des EGMR (Bindung an einen bestimmten Streitgegenstand [res iudicata]; keine die Rechtskraft beseitigende Wirkung); Umsetzungen von die Bundesrepublik Deutschland verurteilenden Entscheidungen des EGMR (keine schematische "Vollstreckung"; Beendigung eines fortdauernden Konventionsverstoßes; Herbeiführung eines konventionsgemäßen Zustandes); Anforderungen an gerichtliche Entscheidungen nach verurteilenden Entscheidungen des EGMR (Kenntnisnahme der entsprechenden Texte und Judikate; Berücksichtigung im Willensbildungsprozess; erkennbare Auseinandersetzung; nachvollziehbare Begründung einer Abweichung).

Art. 6 GG: Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 97 Abs. 1 GG; Art. 59 Abs. 2 GG; Art. 23 GG; Art. 24 GG; Art. 25 GG; Art. 8 EMRK, Art. 6 EMRK; Art. 36 Abs. 2 EMRK; § 621 g ZPO; § 620 e ZPO; § 621 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ZPO; § 1684 Abs. 4 Satz 1 und 2 BGB; § 359 Nr. 6 StPO; § 48 VwVfG

1. Zur Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische "Vollstreckung" können gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen. (BVerfG)

2. Bei der Berücksichtigung von Entscheidungen des Gerichtshofs haben die staatlichen Organe die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung in ihre Rechtsanwendung einzubeziehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich bei dem einschlägigen nationalen Recht um ein ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will. (BVerfG)

3. Die Bindungswirkung einer Entscheidung des EGMR

erstreckt sich auf alle staatlichen Organe und verpflichtet diese grundsätzlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) einen fortdauernden Konventionsverstoß zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen. (Bearbeiter)

4. Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle sind als einfache Bundesgesetze kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab Ein Beschwerdeführer kann insofern vor dem Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar die Verletzung eines in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Menschenrechts mit einer Verfassungsbeschwerde rügen (vgl. BVerfGE 74, 102, 128 m.w.N.). (Bearbeiter)

5. Die Gewährleistungen der Konvention beeinflussen jedoch die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Aus Art. 1 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG folgt die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung heranzuziehen. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes, sofern dies nicht zu einer - von der Konvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) - Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; BVerfG NJW 2001, 2245 ff.). (Bearbeiter)

6. Die über das Zustimmungsgesetz zur EMRK durch den Gesetzgeber ausgelöste Pflicht zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Konvention und der Entscheidungen des EGMR erfordert zumindest, dass die entsprechenden Texte und Judikate bei der Rechtsanwendung zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen. (Bearbeiter)

7. Sind für die Beurteilung eines Sachverhalts Entscheidungen des EGMR einschlägig, so sind grundsätzlich die vom Gerichtshof in seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Würdigung, namentlich die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen, und es hat eine Auseinandersetzung mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen stattzufinden (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004, 317, 319). (Bearbeiter)

8. Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs etwa wegen einer geänderten Tatsachenbasis gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht oder deutsche Verfassungsbestimmungen, namentlich auch gegen Grundrechte Dritter verstößt. (Bearbeiter)

9. Hat der EGMR in einem konkreten Beschwerdeverfahren unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland einen Konventionsverstoß festgestellt und dauert dieser Verstoß an, so ist die Entscheidung des Gerichtshofs im innerstaatlichen Bereich zu berücksichtigen, das heißt die zuständigen Behörden oder Gerichte müssen sich mit der Entscheidung erkennbar auseinander setzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen. (Bearbeiter)

10. Bei einem Konventionsverstoß durch Gerichtsentscheidungen verpflichten weder die EMRK noch das Grundgesetz dazu, einem Urteil des Gerichtshofs, in dem festgestellt wird, dass die Entscheidung eines deutschen Gerichts unter Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zustande gekommen sei, eine die Rechtskraft dieser Entscheidung beseitigende Wirkung beizumessen (vgl. BVerfG EuGRZ 1985, 654). (Bearbeiter)

11. Hat ein Gericht im Rahmen des geltenden Verfahrensrechts die Möglichkeit zu einer weiteren Entscheidung, bei der es das einschlägige Urteil des Gerichtshofs berücksichtigen kann, so ist es verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, den Beschwerdeführer lediglich auf eine vom EGMR zugesprochene Entschädigung in Geld zu verweisen, obwohl eine Restitution weder an tatsächlichen noch an rechtlichen Gründen scheitern würde. (Bearbeiter)

12. Für die verfassungsgerichtliche Nachprüfung der Auslegung und Anwendung völkerrechtlicher Verträge, die durch Gesetz die Kraft innerstaatlichen deutschen Rechts erhalten haben, gelten dieselben Grundsätze wie für die verfassungsgerichtliche Nachprüfung von Gerichtsentscheidungen, d.h. es kann grundsätzlich nur daraufhin geprüft werden, ob sie willkürlich sind oder auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen oder mit anderen verfassungsrechtlichen Vorschriften unvereinbar sind (vgl. BVerfGE 18, 441, 450; 94, 315, 328). Allerdings ist das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit auch dazu berufen, Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands begründen können, nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen (vgl. BVerfGE 58, 1, 34; 59, 63, 89; 109, 13, 23). Aus diesem Grund kann es geboten sein, abweichend von dem herkömmlichen Maßstab die Anwendung und Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch die Fachgerichte zu überprüfen. Dies gilt in besonderem Maße für die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, die dazu beiträgt, eine gemeineuropäische Grundrechtsentwicklung zu fördern. (Bearbeiter)


Entscheidung

868. EGMR Nr. 60115/00 - Urteil vom 20. April 2004 (Amihalachioaie v. Moldawien)

Meinungsfreiheit von Rechtsanwälten bei der öffentlichen Kritik von (Verfassungs-) Gerichten (Bedeutung der Rechtsanwälte für das Justizwesen; Presse; Schutz der Form der Meinungskundgabe; Eingriff; Rechtfertigung; Verhältnismäßigkeit; Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt: bereichsbezogene Bestimmtheit; Interessenausgleich; legitimes Ziel; notwendig in einer demokratischen Gesellschaft; dringendes gesellschaftliches Bedürfnis; Sondervoten Loucaides und Thomassen: enge Auslegung der Schranken des Art. 10 II EMRK). Redaktioneller Hinweis.

Art. 10 EMRK; Art. 5 Abs. 1 GG

1. Rechtsanwälten steht die Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK zu. Sie dürfen insbesondere auch die Rechtspflege öffentlich kritisieren, solange bestimmte Grenzen gewahrt bleiben. Art. 10 EMRK schützt nicht nur die verbreiteten Ideen und Informationen an sich, sondern auch die Wahl der Form, in der diese vorgetragen werden. Dabei muss ein Ausgleich der betroffenen Interessen vorgenommen werden. Namentlich sind insoweit das öffentliche Interesse an Informationen über Fragen, die sich aus Gerichtsentscheidungen ergeben, die Anforderungen an eine einwandfreie Rechtspflege und das Ansehen der Rechtsanwaltschaft einzubeziehen.

2. Obschon den Vertragsstaaten bei der Herbeiführung eines solchen Ausgleichs ein Beurteilungsspielraum zukommt, wird der Ausgleich doch von einer europäischen Überprüfung begleitet, welche sich sowohl auf das nationale Recht, als auch auf die dieses anwendenden Entscheidungen bezieht. Zur Beurteilung derartiger Fälle prüft der EGMR den behaupteten Eingriff im Lichte des gesamten Falles einschließlich der Grundaussage der Äußerungen sowie der Umstände, unter denen sie getroffen worden sind. Hierbei prüft der EGMR, ob für den Eingriff ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis besteht, der Eingriff bei der Verfolgung eines legitimen Ziels verhältnismäßig ist und ob die von den nationalen Stellen zur Rechtfertigung vorgetragenen Gründe stichhaltig und hinreichend sind.

3. Eine Verletzung der Meinungsfreiheit liegt danach etwa vor, wenn der Anwalt zwar einen Mangel an Respekt vor dem Verfassungsgericht zeigt und er nur mit einer höhenmäßig niedrigen Buße belegt wird, seine Äußerungen jedoch in einer hitzigen Debatte über ein Thema öffentlichen Interesses getroffen worden sind und weder die Richter persönlich beleidigen, noch schwerwiegend sind.