HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2004
5. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

BGH 5 StR 327/03 - Urteil vom 13. November 2003 (LG Potsdam)

Fahrlässige Tötung durch Gewährung von Ausgang (Psychiatrie; Unterbringung psychisch Kranker; Kausalität; condicio sine qua non; Unbeachtlichkeit hypothetischer Kausalverläufe; Pflichtwidrigkeitszusammenhang; Prüfung der Ursachenzusammenhangs; objektive Vorhersehbarkeit und Zurechnung); Bestimmung der Pflichtwidrigkeit bei der Gewährung von Ausgang (Gesetz als Maßstab; Beurteilungsspielraum).

§ 222 StGB; Vor § 13 StGB; BbgPsychKG

1. Nach ständiger Rechtsprechung ist als haftungsbegründende Ursache eines strafrechtlich bedeutsamen

Erfolges jede Bedingung anzusehen, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (BGHSt 39, 195, 197; 45, 270, 294 f.).

2. Diese Voraussetzungen liegen auch dann vor, wenn die Möglichkeit oder die Wahrscheinlichkeit besteht, dass ohne die Handlung des Täters ein anderer eine - in Wirklichkeit jedoch nicht geschehene - Handlung vorgenommen hätte, die ebenfalls den Erfolg herbeigeführt haben würde (BGHSt 2, 20, 24; 45, 270, 295). Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten entfällt allerdings der ursächliche Zusammenhang zwischen dem verkehrswidrigen Verhalten eines Angeklagten und dem Tötungs- und Verletzungserfolg, wenn der gleiche Erfolg auch bei verkehrsgerechtem Verhalten des Angeklagten eingetreten wäre oder wenn sich dies aufgrund erheblicher Tatsachen nach der Überzeugung des Tatrichters nicht ausschließen lässt (BGHSt 33, 61, 63 m.w.N.).

3. Die Prüfung der Ursächlichkeit hat mit dem Eintritt der konkreten Tatsituation einzusetzen, die unmittelbar zu dem schädigenden Ereignis geführt hat (vgl. BGHSt 33, 61, 63 f.). Die Frage, welches Verhalten pflichtgemäß gewesen wäre, ist im Hinblick auf den Pflichtenverstoß zu beantworten, der als (unmittelbare) Schadensursache in Betracht kommt. Im übrigen ist der Prüfung der tatsächliche Geschehensablauf zugrunde zu legen. Hinwegzudenken und durch das korrespondierende sorgfaltsgemäße Verhalten zu ersetzen ist daher nur der dem Täter vorwerfbare Tatumstand; darüber hinaus darf von der konkreten Tatsituation nichts weggelassen, ihr nichts hinzugedacht und an ihr nichts verändert werden (vgl. BGHSt aaO; BGHR StGB § 222 Kausalität 1). Zur konkreten Tatsituation zählen demgemäß nur solche Bedingungen, deren Grund in diesem Tatgeschehen selbst unmittelbar angelegt sind, wie etwa das eigene Verhalten von Verkehrsopfern (vgl. BGHSt 11, 1 f.; 33, 61 f.).

4. Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und wenn gerade die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg gezeitigt hat (vgl. dazu näher BGHR StGB § 222 Pflichtverletzung 5 m.w.N.).

5. Eine im Ergebnis falsche Prognose hinsichtlich der Missbrauchsgefahr beim Ausgang im Rahmen einer Unterbringung von psychisch Kranken ist nur dann pflichtwidrig, falls sie auf relevant unvollständiger Tatsachengrundlage oder unter unrichtiger Bewertung der festgestellten Tatsachen die Missbrauchsgefahr verneint worden ist.

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

BGH 4 StR 150/03 - Urteil vom 20. November 2003 (LG Lüneburg)

BGHSt (Aufgabe von BGHSt 5, 280); Auslegung des Tatbestandes des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer (erforderliche zeitliche Verknüpfung des Opfers; Begriff des Führers; Angriff auf die Entschlussfreiheit; Vollendung; List und Täuschung; Vereinzelung des Fahrers oder Mitfahrers; Ausnutzen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs); rechtsgutsbezogene Auslegung; Beförderungspflicht des Taxifahrers.

§ 316a StGB; § 22 PBefG

1. Zur Auslegung des Tatbestandes des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer: (BGHSt)

2. [a)] Erforderlich ist eine zeitliche Verknüpfung dergestalt, dass das Opfer bei Verüben des Angriffs entweder Führer oder Mitfahrer eines Kraftfahrzeugs ist. (BGHSt)

3. [b)] Führer im Sinne des § 316 a StGB ist, wer das Kraftfahrzeug in Bewegung zu setzen beginnt, es in Bewegung hält oder allgemein mit dem Betrieb des Fahrzeugs und/oder mit der Bewältigung von Verkehrsvorgängen beschäftigt ist. Daran fehlt es, sobald der Fahrer sich außerhalb des Fahrzeugs befindet, ferner, regelmäßig wenn das Fahrzeug aus anderen als verkehrsbedingten Gründen anhält und der Fahrer den Motor ausstellt. (BGHSt)

4. [c)] Einen tatbestandsmäßigen Angriff auf die Entschlussfreiheit verübt, wer in feindseliger Absicht auf dieses Rechtsgut einwirkt. Dabei genügt es für die Vollendung, dass das Opfer den objektiven Nötigungscharakter der Handlung erkennt. List und Täuschung stellen regelmäßig noch keinen Angriff dar. (BGHSt)

5. [d)] Die "Vereinzelung" des Fahrers oder Mitfahrers begründet für sich allein noch kein Ausnutzen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs. (Aufgabe von BGHSt 5, 280) (BGHSt)

6. Diese Rechtsprechungsänderung gilt auch dann, soweit ein nach § 22 PBefG zur Beförderung verpflichteter Taxifahrer betroffen ist. Dass sich die mit der Bestimmung des Fahrziels verbundene räuberische Absicht gegen einen Taxifahrer richtet, rechtfertigt keine andere Beurteilung und macht die List oder Täuschung noch nicht zu einem Angriff auf die Entschlussfreiheit des Kraftfahrzeugführers. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 2 StR 283/03 - Urteil vom 15. Oktober 2003 (LG Kassel)

BGHSt; schwerer Raub (Nötigungshandlung; Wegnahme; finale Beziehung: Motivwechsel; Gewaltausübung: Unterlassen der Beendigung, fortdauernde Fesselung, Ausnutzen der faktischen Wirkung, Erfordernis aktiven Tuns); Vorsatzwechsel; BGHSt 32, 88; Ingerenz; gefährliches Werkzeug.

§ 249 StGB; § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB; § 240 StGB; § 13 StGB

1. Gewalt zur Wegnahme unter Verwendung eines Mittels im Sinne von § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b StGB wendet an, wer das Tatopfer zunächst mit anderer Zielrichtung gefesselt hat und im engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit der so bewirkten Wehrlosigkeit des Opfers dessen Sachen entwendet. (BGHSt)

2. Nach einer zunächst mit anderer Zielsetzung begangenen Nötigung kommt ein Schuldspruch wegen Raubs nicht in Betracht, wenn es nur gelegentlich der Nötigungshandlung zur Wegnahme kommt oder die Wegnahme der Nötigung nur zeitlich nachfolgt, ohne dass eine finale Verknüpfung besteht (BGH NStZ-RR 2002, 304, 305). Hingegen ist auch bei einer zunächst mit anderer Zielrichtung erfolgten Nötigung, die der Täter zur Wegnahme ausnutzt, der Raubtatbestand erfüllt, wenn die Gewalt noch andauert oder als aktuelle Drohung erneuter Gewaltanwendung auf das Opfer einwirkt und dieses dazu veranlasst, die Wegnahme zu dulden (BGHR StGB § 249 Abs. 1 Drohung 3). (Bearbeiter)

3. Es überzeugt nicht, dass das bloße Ausnutzen einer ohne Wegnahmevorsatz begonnenen andauernden Freiheitsberaubung sprachlich nicht als "Gewalt" angesehen werden könne oder dass der Raubtatbestand von seiner Struktur her ein aktives Handeln erfordere. Das Abstellen allein auf die aktive Gewaltanwendung wird auch dem Charakter der Freiheitsberaubung als Dauerdelikt nicht gerecht. Wer einen anderen einschließt oder fesselt, übt gegen diesen Gewalt aus. Durch das Aufrechterhalten dieses Zustands setzt sich diese Gewaltausübung bis zum Lösen der Fesselung fort. (Bearbeiter)

4. Es kann offen bleiben, ob das Aufrechterhalten einer Fesselung als Gewaltanwendung durch positives Tun oder durch Unterlassen wegen aus Ingerenz folgender Garantenpflicht des Täters anzusehen ist. (Bearbeiter)

5. Der Einwand, dass der Unrechtsgehalt bei einem durch pflichtwidriges Aufrechterhalten einer Fesselung begangenen Raub nicht dem der aktiven Tatbestandsverwirklichung entspreche, erscheint jedenfalls dann nicht begründet, wenn die aus anderen Gründen erfolgte Gewaltanwendung durch positives Tun und ihre Ausnutzung zur Wegnahme durch den Täter zeitlich und räumlich dicht beieinander liegen (Abgrenzung von BGHSt 32, 88). (Bearbeiter)