HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2003
4. Jahrgang
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II. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

BGH 4 StR 85/03 / 4 StR 155/03 / 4 StR 175/03 - Beschluss vom 16. September 2003

Anfragebeschluss; Entziehung der Fahrerlaubnis; Führen von Kraftfahrzeugen (fehlende Eignung, Ungeeignetheit); spezifischer Zusammenhang zwischen Tat und Verkehrssicherheit; Gesetzesbegründung; grundsätzliche Bedeutung; BGHSt 5, 179, 180; Fahrverbot; spezifischer Schutzzweck der Maßregel; Nebenstrafe; Spezialprävention; Generalprävention; Charaktermangel; Verkehrssicherheitsprognose; allgemeine Handlungsfreiheit.

§ 69 StGB; § 132 Abs. 2 GVG; § 132 Abs. 3 GVG; § 132 Abs. 4 GVG; § 42 m Abs. 1 Satz 1 StGB a.F; § 44 StGB; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 12 Abs. 1 GG

1. Der vierte Strafsenat beabsichtigt zu entscheiden, dass sich die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nur dann im Sinne von § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB aus der Tat ergibt, wenn aus ihr konkrete Anhaltspunkte dafür zu erkennen sind, dass der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen (spezifischer Zusammenhang zwischen Tat und Verkehrssicherheit).

2. Die bisherige Rechtsprechung zu § 69 StGB in Fällen, in denen keine Katalogtat nach Abs. 2 vorliegt, ist zum einen uneinheitlich, insbesondere was Versuche einer einschränkenden Auslegung angeht, und wird daher der Aufgabe höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht mehr gerecht, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern (vgl. § 132 Abs. 4 GVG). Zum anderen ist sie nicht mehr mit der gesetzgeberischen Intention vereinbar, spezialpräventiv Gefahren für den Straßenverkehr abzuwenden, nicht aber generell eine Nebenstrafe für unter Verwendung eines Kraftfahrzeugs begangene allgemeine Straftaten zu schaffen.

3. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist eine Maßregel der Besserung und Sicherung (§ 61 Nr. 5 StGB), die ihre Rechtfertigung im Sicherungsbedürfnis der Verkehrsgemeinschaft hat. Sie ist hingegen weder Strafe, noch dient sie der allgemeinen Verbrechensbekämpfung, denn Maßregelbestimmungen, in denen eine spezielle Materie geregelt ist, haben nicht den Sinn, allgemein dem Schutz vor rechtswidrigen Taten zu dienen, sondern sie haben einen konkreten, speziellen Schutzzweck (Ablehnung der jüngsten Ansicht des 1. Strafsenats in seinem Beschluss vom 14. Mai 2003 - 1 StR 113/03 -).

4. Im Falle des § 69 StGB ist dieser Schutzzweck darin zu sehen, Kraftfahrer, die durch eine rechtswidrige Tat Anzeichen mangelnder Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen gezeigt haben, vom Straßenverkehr fernhalten. Ergibt die Anlasstat keinen konkreten Hinweis darauf, dass der Täter in Zukunft seine eigenen kriminellen Interessen über die Sicherheit des Straßenverkehrs stellen wird, so ist der Schutzzweck nicht berührt.

5. Zwar hat der Bundesgerichtshof in BGHSt 5, 179, 180 aus den Materialien zur Erstfassung der Norm über die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 42 m Abs. 1 Satz 1 StGB a.F. ) hergeleitet, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis "nicht auf Verkehrsverstöße im engeren Sinne" beschränkt bleiben solle und auch charakterliche Mängel, die sich in der Tat offenbarten, zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen könnten. Diese - seither ständige - Rechtsprechung zum allgemeinen Charaktermangel als Grundlage einer Entziehung der Fahrerlaubnis ist jedoch seit der Änderung der Norm 1964 überholt, denn in der dortigen Gesetzesbegründung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Maßnahme gerade keine Strafe sei und dass für sie nicht die Schwere des Unrechts und der Schuld, sondern die Größe der vom Täter für den Verkehr ausgehenden Gefahren maßgebend sei.

6. Nach dem Wortlaut des § 69 StGB hat der Tatrichter zwei Prüfungsschritte vorzunehmen: Er hat zum einen zu prüfen, ob die rechtswidrige Tat bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen wurde, und er hat zum anderen zu entscheiden, ob sich aus der Tat ergibt, dass der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist (Verkehrssicherheitsprognose). Bei Straftaten, die der Täter "unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers" begangen hat, ist die Prognose meist unproblematisch, weil sich die Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit aus der Tatbegehung ergeben wird. Unzutreffend ist es jedoch, auch aus dem "Zusammenhangs" - Merkmal unmittelbar auf die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen zu schließen.

7. Eine Beschränkung der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB auf die Fälle einer negativen Verkehrssicherheitsprognose erscheint zudem unter dem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt der allgemeinen Handlungsfreiheit angezeigt (vgl. Senatsbeschluss vom 5. November 2002 - 4 StR 406/02). Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist ein schwerwiegender Eingriff in die Grundrechtssphäre des einzelnen, die insbesondere dann, wenn sie dazu führt, dass die Ausübung des Berufs eingeschränkt wird, existenzvernichtend wirken und die Resozialisierung nachhaltig stören kann.


Entscheidung

BGH 4 StR 382/03 - Beschluss vom 30. September 2003 (LG Bielefeld)

Zwingende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang; symptomatischer Zusammenhang: Mitwirkung).

§ 64 StGB

Nach ständiger Rechtsprechung ist nicht erforderlich, dass der Hang die alleinige Ursache für die Anlasstaten ist. Vielmehr ist ein symptomatischer Zusammenhang auch dann zu bejahen, wenn der Hang neben anderen Umständen mit dazu beigetragen hat, dass der Angeklagte erhebliche rechtswidrige Taten begangen hat, und dies bei unverändertem Suchtverhalten auch für die Zukunft zu besorgen ist (BGH NStZ 2000, 25 f.; BGHR StGB § 64 Zusammenhang, symptomatischer 1).


Entscheidung

BGH 5 StR 389/03 - Beschluss vom 22. September 2003 (LG Berlin)

Strafzumessung (ausländerrechtliche Folgen; besondere Umstände; zwingender Ausweisungsgrund).

§ 46 StGB; § 47 Abs. 1 AuslG

1. Etwaige den Angeklagten treffende ausländerrechtliche Folgen sind keine Umstände, die der Tatrichter bei der Strafzumessung erörtern muss. Nur besondere Umstände

können im Einzelfall eine andere Beurteilung rechtfertigen (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Ausländer 5, 6).

2. Dies gilt selbst dann, wenn ein zwingender Ausweisungsgrund nach § 47 Abs. 1 AuslG in Betracht kommt. Ist die Ausweisung aber nicht zwingend geboten, ist ohnehin davon auszugehen, dass die Ausländerbehörden etwaige Härten im Rahmen ihres - gerichtlich überprüfbaren - Ermessens zu bedenken haben.


Entscheidung

BGH 5 StR 341/03 - Beschluss vom 27. August 2003 (LG Hamburg)

Revisibilität der besonderen Schuldschwere (unzulängliche Aufreihung schuldmindernder und schulderhöhender Umstände; reine Feststellung eines Übergewichts ohne Analyse der einzelnen Strafzumessungskriterien; Relativierung durch verminderte Steuerungsfähigkeit).

§ 57a StGB; § 46 StGB; § 21 StGB

1. Das Revisionsgericht hat die tatrichterliche Entscheidung zur besonderen Schuldschwere grundsätzlich hinzunehmen. Ihm ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle versagt. Es hat nur zu prüfen, ob der Tatrichter alle Umstände bedacht und rechtsfehlerfrei abgewogen hat, darf seine Wertung aber nicht an die Stelle derjenigen des Tatrichters setzen (BGHSt 40, 360, 370).

2. Der Tatrichter genügt seiner Pflicht zur Gesamtwürdigung nicht, wenn er die schuldmindernden und schulderhöhenden Umstände nur summarisch gegenüberstellt, um ein mögliches Überwiegen festzustellen.


Entscheidung

BGH 3 StR 481/02 - Beschluss vom 11. September 2003 (LG Hildesheim)

Sicherungsverwahrung (Ermessen; Darlegungspflichten; eingeschränkte Revisibilität; pathologisches Spielen; Ausnahmevorschrift; strikte Bindung an die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes; Einwirkung durch langjährigen erstmaligen Strafvollzug; mit Veränderung des Lebensalters verbundene Haltungsänderungen).

§ 66 Abs. 2 StGB

1. Nach § 66 Abs. 2 StGB liegt die Unterbringung im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters. Ordnet er die Unterbringung nach § 66 Abs. 2 StGB an, so müssen die Urteilsgründe nicht nur erkennen lassen, dass er sich seiner Entscheidungsbefugnis bewusst war; sie müssen auch darlegen, aus welchen Gründen er von ihr in einer bestimmten Weise Gebrauch gemacht hat (st. Rspr.; BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 2; BGH NStZ-RR 1996, 196 jeweils m. w. N.).

2. Bei der Ausübung des Ermessens nach § 66 Abs. 2 StGB ist der Tatrichter strikt an die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes gebunden (BGH NStZ 1985, 261). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll er die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt.

3. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen dieser Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind (BGH NStZ 1984, 309; 1996, 331); soweit es in anderen Entscheidungen heißt, sie dürften berücksichtigt werden (BGH NStZ 1985, 261; 1989, 67; 2002, 30; BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 3, 6), besagt dies inhaltlich nichts anderes. Es besteht dabei freilich keine Vermutung dafür, dass langjährige, erstmalige Strafverbüßung stets zu einer Verhaltensänderung führen wird. Je länger die verhängte Freiheitsstrafe und je geringer die bisherige Erfahrung des Täters mit Verurteilung und Strafvollzug ist, desto mehr muss sich der Tatrichter aber mit diesen Umständen auseinandersetzen (vgl. BGH NStZ 1996, 331).


Entscheidung

BGH 1 StR 147/03 - Urteil vom 10. September 2003 (LG München)

Grundsätze der nachträglichen Gesamtsstrafenbildung (Vorrang vor § 67 f StGB); Auslegung der Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft (Beschränkung; Rechtsfolgenausspruch); erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit (Rechtsfrage; Sachverständige; Drogenabhängigkeit; BtM-Auswirkungen; schwerste Persönlichkeitsveränderung; psychische Abhängigkeit in extremen Einzelfällen eine "andere seelische Abartigkeit"; ALIC).

§ 21 StGB; § 55 StGB; § 67 f StGB; § 300 StPO

1. Bei Drogenabhängigkeit ist zwar in besonders gelagerten Fällen eine Verminderung - oder gar ein Ausschluss - der Schuldfähigkeit auf der Basis einer "schweren seelischen Abartigkeit" oder einer "krankhaften seelischen Störung" nicht von vorneherein ausgeschlossen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs begründet jedoch die Abhängigkeit von Betäubungsmitteln für sich allein noch nicht die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB. Derartige Folgen sind bei einem Rauschgiftsüchtigen nur ausnahmsweise gegeben, wenn langjähriger Betäubungsmittelgenuss zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt hat oder der Täter unter starken Entzugserscheinungen leidet und dadurch dazu getrieben wird, sich mittels einer Straftat Drogen zu verschaffen, ferner unter Umständen dann, wenn er das Delikt im Zustand eines akuten Rausches verübt (BGH NStZ 2002, 31 [32]; BGH NStZ 2001, 83 [84]; BGH StV 1997, 517).

2. Psychische Abhängigkeit kann in extremen Einzelfällen eine "andere seelische Abartigkeit" darstellen.


Entscheidung

BGH 4 StR 252/03 - Beschluss vom 11. September 2003 (LG Halle)

Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (Aufrechterhaltung trotz des Vorwurfs, dass der Angeklagte noch nie einen Therapieversuch unternommen habe); Kosten- und Auslagenentscheidung (Billigkeit; notwendige Auslagen der Nebenklägerin; Einstellung hinsichtlich einer festgestellten Straftat lediglich wegen eines Rechtsfehlers bei der Strafzumessung).

§ 64 StGB; § 467 Abs. 1 und 4 StPO; § 472 Abs. 2 StPO; § 473 Abs. 1 StPO

Die rechtlich bedenkliche Erwägung in einem Urteil, dass die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB nicht in Betracht kommt, weil der alkoholabhängige Angeklagte noch nie einen Therapieversuch unternommen habe, gefährdet den Bestand des Urteils dann nicht, wenn aufgrund der Feststellungen zur Persönlichkeit des Angeklagten sicher ausgeschlossen werden kann, dass beim Angeklagten die hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolgs besteht (vgl. hierzu BVerfG StV 1994, 594).


Entscheidung

BGH 4 StR 305/03 - Beschluss vom 11. September 2003 (LG Saarbrücken)

Tötungsvorsatz (Hemmschwelle; Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit; Wissenselement; Willenselement: eigene Verletzung des Täters, Alkoholisierung, Streit, Affekt); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Beweiswürdigung, Alter des Angeklagten).

§ 15 StGB; § 212 StGB; 64 StGB

1. Zwar liegt es bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen nahe, dass der Täter auch mit der Möglichkeit, dass das Opfer dabei zu Tode kommen könne, rechnet. Angesichts der hohen Hemmschwelle gegenüber einer Tötung ist jedoch immer auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Täter die Gefahr des Todes nicht erkennt oder jedenfalls darauf vertraut hat, dieser Erfolg werde nicht eintreten. Der Schluss auf bedingten Tötungsvorsatz ist daher nur dann rechtsfehlerfrei, wenn der Tatrichter in seine Abwägungen erkennbar alle Umstände einbezogen hat, die ein solches Ergebnis in Frage stellen (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 6. März 2002 - 4 StR 30/02 und BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 30 m.w.N.)

2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 Abs. 1 StGB) darf nicht mit der Begründung unterbleiben, er passe wegen seines Alters nicht zu anderen Therapieteilnehmern.