HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2003
4. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

EGMR Nr. 39647/98 u. 40461/98 - Urteil vom 22. Juli 2003 (Edwards und Lewis v. Großbritannien)

Recht auf ein faires Verfahren (Tatprovokation; entrapment; Waffengleichheit; kontradiktorisches / adversatorisches Verfahren; rechtliches Gehör; Beweisrecht; Gesamtbetrachtung; verdeckte Ermittler; V-Leute; fair trial; Jasper; Fitt; Tatfrage: Jury, Tatgericht).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG

1. Das öffentliche Interesse an einer effektiven Verbrechensbekämpfung kann die Verwertung von Beweisen, die durch eine polizeiliche Tatprovokation (entrapment) gewonnen worden sind, nicht rechtfertigen. Sie stellt einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK dar.

2. Es ist nicht die Aufgabe des EGMR, das Vorliegen einer Tatprovokation (entrapment) festzustellen. Wenn mögliche Beweise hinsichtlich einer Tatprovokation (entrapment) zurückgehalten werden, prüft der EGMR jedoch, ob der Einwand einer Tatprovokation (entrapment) in einer Form erhoben werden konnte, welche die Verteidigungsrechte adäquat wahrt.

3. Das Recht auf ein faires Verfahren erfordert ein kontradiktorisch (adversatorisch) ausgestaltetes Verfahren, in dem zwischen Verteidigung und Anklage Waffengleichheit besteht. Das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren bedeutet, dass sowohl der Anklage als auch der Verteidigung die Gelegenheit gegeben werden muss, von den Verfahrensbeiträgen der Gegenseite Kenntnis zu erhalten und diese zu kommentieren. Zusätzlich erfordert Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, dass die Strafverfolgungsorgane der Verteidigung alle für die Anklage bedeutenden Beweismittel offen legen, die sich in ihrem Besitz befinden. Letzteres Recht kann zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsinteressen eingeschränkt werden, soweit die Benachteiligung der Verteidigung adäquat durch das Verfahren ausgeglichen wird und die Einschränkungen strikt verhältnismäßig bleiben.

4. Beziehen sich zurückgehaltene Beweise auf Feststellungen zur Tatfrage, von der die über diese entscheidenden Personen (jury oder das Tatgericht) Kenntnis erhalten haben, oder können sie sich auf diese beziehen, kann ihnen eine so entscheidene Bedeutung zukommen, dass das vom Gerichtshof in den Entscheidungen Jasper und Fitt (mit 9:8 Stimmen) für ausreichend erklärte Entscheidungsverfahren über die Zurückhaltung von Beweismitteln unzureichend wird. Kann danach der Einwand der Tatprovokation (entrapment) nicht voll erhoben werden, kann Art. 6 EMRK verletzt sein.


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 1321/02 - Beschluss vom 13. Oktober 2003 (3. Kammer des Zweiten Senats)

Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Schutz vor Zwang zur Selbstbezichtigung; nemo tenetur; Offenheit des Schutzbereichs); Auskunftspflicht nach § 100 KO (Ergänzung durch strafrechtliches Verwertungsverbot von Verfassungs wegen); Verwertung (äußere Umstände; Zeitpunkt der Erstellung der Bilanz; sonstiger Inhalt der Bilanz).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; § 100 KO; § 97 InsO

1. Art. 2 Abs. 1 GG enthält in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ein allgemeines Persönlichkeitsrecht, das als unbenanntes Freiheitsrecht die speziellen Freiheitsrechte ergänzt, die bestimmte Aspekte der Persönlichkeit schützen. Seine Aufgabe ist es, im Sinn des obersten Konstitutionsprinzips der Menschenwürde die Grundbedingungen für die Persönlichkeitsentfaltung zu sichern, die von den speziellen Freiheitsgarantien nicht erfasst sind (vgl. BVerfGE 54, 148, 153; 79, 256, 268). Sein Schutzbereich ist daher nicht abschließend bestimmbar, sondern gerade für bisher unbekannte Persönlichkeitsgefahren offen.

2. Als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat das Bundesverfassungsgericht den Schutz vor einem Zwang zur Selbstbezichtigung anerkannt (vgl. BVerfGE 38, 105, 114 f.; 56, 37, 41 f.), der in zahlreichen Vorschriften des materiellen und prozessualen Rechts gewährleistet ist (vgl. den Überblick in BVerfGE 56, 37, 42 ff.). Der Einzelne soll vom Staat grundsätzlich nicht in eine Konfliktlage gebracht werden, in der er sich selbst strafbarer Handlungen oder ähnlicher Verfehlungen bezichtigen muss, in Versuchung gerät, durch Falschaussagen ein neues Delikt zu begehen, oder wegen seines Schweigens in Gefahr kommt, Zwangsmitteln unterworfen zu werden.


Entscheidung

BVerfG 1 BvR 1677/03 - Beschluss vom 29. September 2003 (1. Kammer des Ersten Senats)

Begründungsanforderung bei letztinstanzlichen Entscheidungen (Abweichung vom ausdrücklichen Wortlaut einer Vorschrift); Abweichung von höchstrichterlicher Rechtsprechung (Rechtfertigung: Begründung oder Fallumstände); Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Zivilprozess (Ablehnung ohne Begründung).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 114 ff. ZPO; § 127 ZPO.

1. Grundsätzlich bedürfen mit ordentlichen Rechtsbehelfen nicht mehr angreifbare Gerichtsentscheidungen von Verfassungs wegen keiner Begründung (vgl. BVerfGE 50, 287, 289 f.). Art. 3 Abs. 1 GG verlangt mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Gebundenheit des Richters an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) aber die Begründung auch einer letztinstanzlichen Entscheidung dann und insoweit, als von dem eindeutigen Wortlaut einer Rechtsnorm abgewichen werden soll und der Grund hierfür sich nicht hinreichend aus den dem Betroffenen bekannten Gründen oder für ihn ohne weiteres erkennbaren Besonderheiten des Falles bestimmen lässt

2. Auch wenn ein Gericht von der Auslegung einer Norm des einfachen Rechts abweicht, die die höchstrichterliche Rechtsprechung ihr bislang gegeben hat, führt dies zur Annahme eines Verfassungsverstoßes, wenn sich eine Rechtfertigung hierfür weder aus den Entscheidungsgründen noch aus den übrigen Umständen des Falles entnehmen lässt (vgl. BVerfGE 71, 122, 136; 81, 97, 106).


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 1580/03 - Beschluss vom 25. September 2003 (3. Kammer des Zweiten Senats)

Berufsfreiheit (vorläufiges Berufsverbot; Rechtsanwalt; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: konkrete Gefahr für die Rechtsordnung; Funktionsfähigkeit der Rechtspflege als wichtiges Gemeinschaftsgut; unbefristetes Verbot: Amtspflicht zur Aufhebung).

Art. 12 Abs. 1 GG; § 132a Abs. 1 StPO; § 70 StGB

Das die Freiheit der Berufswahl einschränkende vorläufige Berufsverbot ist nur zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft. Ein solch wichtiges Gemeinschaftsgut ist auch die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege.


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 1707/02 - Beschluss vom 9. Oktober 2003 (3. Kammer des Zweiten Senats)

Fristbeginn für die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde (Gegenvorstellung gegen Beschwerdeentscheidung; Zeitpunkt des Zugangs der ursprünglichen Beschwerdeentscheidung); Durchsuchung; Beschlagnahme; Verwertungsverbot (substantiierte Darlegung; hypothetische Ermittlungsverläufe).

Art. 13 Abs. 1 GG; § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; § 94 StPO; § 98 Abs. 2 S. 2 StPO; § 102 StPO

1. Werden gegen mit ordentlichen Rechtsbehelfen nicht mehr angreifbare Entscheidungen Gegenvorstellungen erhoben, die ausschließlich materiell-rechtliche Rügen enthalten, so ist der Zeitpunkt des Zugangs der ursprünglichen Beschwerdeentscheidung für den Fristbeginn gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG maßgeblich. Dies gilt auch dann, wenn ein weiteres Beschwerdeverfahren durchgeführt wird, das den Gegenstand des vorangegangenen Beschwerdeverfahrens betrifft.

2. Wird mit einer Verfassungsbeschwerde ein Verwertungsverbot geltend gemacht, muss der Beschwerdeführer substantiiert darlegen, ob ein geltend gemachter formaler Fehler bei der Durchsuchung die Beweiserlangung bei hypothetisch rechtmäßiger Vorgehensweise gehindert hätte und ob dies verfassungsrechtlich zu beanstanden wäre (vgl. BVerfG StV 2002, 113).


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 1785/02 - Beschluss vom 9. Oktober 2003 (3. Kammer des Zweiten Senats)

Durchsuchungsbeschluss (effektiver Grundrechtsschutz; Anforderungen; Begründung; Kontrollmöglichkeit durch den Betroffenen; messbarer und kontrollierbarer Eingriff in die Grundrechte; Verlust der rechtfertigenden Kraft nach einem halben Jahr; richterliche Bestätigung); Verhältnismäßigkeit zwischen der staatlichen Maßnahme und dem bestehenden Tatverdacht; Richter als Kontrollorgan der Strafverfolgungsbehörden; spezifisches Verfassungsrecht.

Art. 13 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 94 StPO; § 98 StPO

1. Art. 13 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes verpflichtet den eine Durchsuchung anordnenden Richter als Kontrollorgan der Strafverfolgungsbehörden, durch eine geeignete Formulierung des Durchsuchungsbeschlusses im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren sicherzustellen, dass der Eingriff in die Grundrechte messbar und kontrollierbar bleibt (BVerfGE 103, 142, 151).

2. Die Befugnis der Staatsanwaltschaft, von der einmal erteilten Durchsuchungsanordnung nach ihrem Ermessen auch zu einem späteren Zeitpunkt Gebrauch zu machen, ist durch objektive Merkmale begrenzt. Spätestens nach Ablauf eines halben Jahres hat ein Durchsuchungsbeschluss - zur Sicherung eines effektiven Grundrechtsschutzes - seine rechtfertigende Kraft verloren. Jedoch kann auf der Grundlage einer richterlichen Bestätigung nach dem vorgenannten Zeitablauf eine dem ursprünglichen Beschluss entsprechende strafprozessuale Maßnahme ohne weiteres durchgeführt werden.


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 399/03 - Beschluss vom 30. September 2003 (2. Kammer des Zweiten Senats)

Substantiierte Begründung der Verfassungsbeschwerde innerhalb der Monatsfrist nach § 93 Abs. 1 BVerfGG (Vorlage der angegriffenen Gerichtsentscheidungen oder Mitteilung von deren Inhalt; weitere Unterlagen; Gutachten); Besitzverbot für Seidentücher im Strafvollzug (Missbrauchsgefahr; Tränkung mit Drogen).

§ 93a Abs. 2 BVerfGG; § 93 Abs. 1 BVerfGG; § 19 Abs. 2 StVollzG

Zur hinreichend substantiierten Begründung einer Verfassungsbeschwerde müssen innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG nicht nur die angegriffenen Gerichtsentscheidungen vorgelegt oder ihrem wesentlichen Inhalt nach mitgeteilt werden, sondern ggf. darüber hinaus auch weitere Unterlagen des Verfahrens, wenn ohne deren Kenntnis nicht beurteilt werden kann, ob die in der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen berechtigt sind.