HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2003
4. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

BGH 4 StR 108/03 - Beschluss vom 6. Mai 2003 (LG Bochum)

Unerlaubtes Handeltreiben (weite Auslegung; Vollendung); versuchte Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Auffassung der Senate zum unmittelbaren Ansetzen bei vermeintlicher Mittäterschaft; Verabredung; untauglicher Versuch).

§ 25 Abs. 2 StGB; § 22 StGB; § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG; § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG; § 30 Abs. 2 StGB

1. Der Versuch der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln beginnt frühestens mit Handlungen, die in ungestörtem Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen sollen oder die im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stehen, das geschützte Rechtsgut somit unmittelbar gefährden (st. Rspr., vgl. BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Einfuhr 18 m.w.N.). Bei einem Einfuhrversuch auf dem Postwege liegen diese Voraussetzungen dann vor, wenn die Sendung bei der Post zur Weiterleitung an den Empfänger eingeliefert wird. Damit ist alles geschehen, um bei ungestörtem Fortgang die Tatbestandsverwirklichung herbeizuführen.

2. Nach Auffassung des 2. und 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (BGHSt 39, 236; BGHR StGB § 22 Ansetzen 3) kann eine nur vermeintliche Mittäterschaft eine Zurechnung von Tatbeiträgen nicht begründen. Eine Tathandlung ist als Ausführungshandlung nach Ansicht dieser Senate anderen Tatbeteiligten vielmehr nur dann zuzurechnen, sofern sie sich für den Handelnden selbst als mittäterschaftlicher Tatbeitrag darstellt, also von dem Willen getragen ist, gemeinschaftlich mit den anderen Beteiligten zum Zwecke der Tatausführung zusammenzuwirken (BGHSt aaO; BGHR StGB aaO).

3. Der vierte Strafsenat stellt für die Frage der Zurechenbarkeit einer Tathandlung eines nur vermeintlichen Mittäters auf die Vorstellung des Täters von der Tauglichkeit der Handlung, die als unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung im Sinne des § 22 StGB anzusehen ist, ab. Nach dieser Auffassung ist jedenfalls dann eine Ausführungshandlung eines vermeintlichen Mittäters als tauglich und damit zurechenbar zu betrachten, wenn sie nach der Vorstellung des Täters zur Tatbestandserfüllung führen soll und nach natürlicher Auffassung auch zur Tatbestandserfüllung führen könnte (BGHSt 40, 299, 302).


Entscheidung

BGH 2 StR 503/02 - Urteil vom 30. April 2003 (LG Frankfurt)

Heimtücke (verminderte Schuldfähigkeit während eines Teils der Tathandlung; Arg- und Wehrlosigkeit; Vorsatz: unwesentliche Abweichung vom Kausalverlauf; Ausnutzungsbewusstsein; Versagung der Strafmilderung); Beweiswürdigung (Überzeugungsbildung; Darlegung).

§ 211 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB; § 15 StGB; § 49 StGB; § 261 StPO; § 267 StPO

1. Gerät ein Täter während seiner Tathandlungen in einen Zustand nach § 20 StGB, so sind ihm dennoch alle Handlungen zuzurechnen, soweit sie vom Vorsatz erfasst waren und der Tatablauf der Vorstellung entsprach, die sich der Täter noch vor Eintritt der Schuldunfähigkeit von dem Tatgeschehen gemacht hatte. Der Eintritt der Schuldunfähigkeit während der Tatbegehung stellt sich dann als unwesentliche Abweichung vom Kausalverlauf dar. Dabei genügt es, dass der Zustand der Schuldunfähigkeit sich aus dem vorausgehenden Handeln entwickelt hat und nicht durch äußere Einflüsse ausgelöst worden ist. In einem solchen Fall ist der Täter wegen vollendeter Tat, begangen im schuldfähigen Zustand, zu bestrafen (Bestätigung von BGHSt 7, 325, 328, 329; 23, 133,135, 136).

2. Dies gilt auch für den Eintritt der erheblich verminderten Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB erst während der Tatausführung (Erweiterung der genannten Rechtsprechung).


Entscheidung

BGH 5 StR 251/03 - Urteil vom 31. Juli 2003 (LG Hamburg

Beihilfe zu einem Dauerdelikt (durch das Erklären der Waffenbedienung; unerlaubtes Führen einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe; Beendigung).

§ 27 StGB; § 53 Abs. 1 Nr. 3a lit. b WaffG a.F.; § 354 Abs. 3 StPO

Beihilfe zu einem Dauerdelikt kann auch nach dessen Beginn während seiner Begehung noch so lange geleistet werden, wie der Haupttäter den rechtswidrigen Dauerzustand nicht beendet hat.

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

BGH 4 StR 190/03 - Urteil vom 3. Juli 2003 (LG Halle)

Beweiswürdigung bei der Misshandlung einer Schutzbefohlenen durch deren Eltern (rohe Misshandlungen; Quälen; Unterlassungstäterschaft auch bei bedingtem Vorsatz; Garantenstellung der Eltern hinsichtlich des überragenden Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit ihres Kindes; Beweis der Kenntnis von Misshandlungen des anderen Elternteils).

§ 225 StGB; § 13 Abs. 1 StGB; § 15 StGB

1. Die Unterlassungstäterschaft kommt hinsichtlich sämtlicher Tatbestandsalternativen des § 225 Abs. 1 StGB in Betracht. Dabei genügt auch im Rahmen des § 225 StGB bedingter Vorsatz (BGH NStZ-RR 1996, 197, 198).

2. Quälen bedeutet das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender Schmerzen, wobei dieses Tatbestandsmerkmal typischerweise durch Vornahme mehrerer Handlungen verwirklicht wird und gerade die ständige Wiederholung für sich den besonderen Unrechtsgehalt dieser Form der Körperverletzung auszeichnet (vgl. BGHSt 41, 113, 115).

3. "Roh" ist eine Misshandlung im Sinne des Tatbestandes, wenn sie aus einer gefühllosen gegen die Leiden des Opfers gleichgültigen Gesinnung heraus erfolgt, wobei die Gefühllosigkeit keine dauernde Charaktereigenschaft zu sein braucht (vgl. BGHSt 3, 105, 109) und deshalb das Merkmal "roh" auch das "Wie" der Misshandlung betrifft.

4. Angesichts des überragenden Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit eines Menschen sind an die Eltern höchste Anforderungen in ihrer Stellung als Beschützergaranten zu stellen, insbesondere wenn es sich bei dem Opfer um einen völlig wehr- und hilflosen Säugling handelt. Spätestens von dem Zeitpunkt an, von dem Eltern erstmals Kenntnis von der Misshandlung durch den jeweils anderen Elternteil haben, müssen sie umgehend geeignete Maßnahmen ergreifen, um weiter drohende Übergriffe von dem Kind abzuwenden (vgl. BGHSt 41, 113, 117; BGH NStZ 1984, 164).


Entscheidung

BGH 4 StR 159/03 - Beschluss vom 26. Juni 2003 (LG Münster)

Sexueller Missbrauch einer Schutzbefohlenen (Beendigung des Obhutsverhältnisses; Lehrer-Schüler-Verhältnis; Tennislehrer / Nachhilfelehrer).

§ 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB

Voraussetzung für das Vorliegen eines Obhutsverhältnisses ist, dass ein Verhältnis besteht, kraft dessen einer Person das Recht und die Pflicht obliegen, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten (std. Rspr., vgl. nur BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 1 und 2). Dies versteht sich bei einer Tätigkeit als Tennistrainer nicht von selbst, sondern bedarf näherer Darlegung. Gleiches gilt für die Tätigkeit als Nachhilfelehrer.


Entscheidung

BGH 3 StR 60/03 - Urteil vom 5. Juni 2003 (LG Lüneburg)

Vergewaltigung (Ausschluss der Wirkung eines Regelbeispiels; ganz außergewöhnlich mildernde Umstände; minder schwerer Fall trotz Qualifikation; besonders erniedrigende Begleitumstände); Strafrahmenverschiebung / Milderung bei verminderter Schuldfähigkeit infolge Trunkenheit.

§ 177 Abs. 4 StGB; § 177 Abs. 5 StGB; § 177 Abs. 2 StGB; § 46 StGB; § 21 StGB; § 49 Abs. 1 StGB

1. Ein minder schwerer Fall nach § 177 Abs. 5 StGB ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn der Täter den Qualifikationstatbestand des § 177 Abs. 4 StGB und ein Regelbeispiel gemäß § 177 Abs. 2 Satz 2 StGB verwirklicht hat.

2. Vielmehr kommt es für die entsprechende Bewertung auch dann maßgeblich darauf an, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der gewöhnlich vorhandenen Fälle so sehr abweicht, dass die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint. Hierzu ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen (st. Rspr.; BGHSt 26, 97, 98 f.; BGHR StGB § 177 Abs. 2 Strafrahmenwahl 5, 6). In die gebotene Abwägung sind alle wesentlichen entlastenden und belastenden Gesichtspunkte einzubeziehen (vgl. BGH NStZ 1982, 246).

3. Die Untergrenze des § 177 Abs. 4 StGB von zwei Jahren Freiheitsstrafe hat der Tatrichter auch dann zu beachten, wenn er einen minder schweren Fall nach § 177 Abs. 5 2. Halbs. StGB annimmt (vgl. BGH NStZ 2001, 646). Allerdings kann die Regelwirkung des § 177 Abs. 2 Satz 1 StGB entfallen, wenn das vom Täter verwirklichte Regelbeispiel nach Satz 2 dieser Vorschrift mit gewichtigen Milderungsgründen zusammentrifft und nach dem gesamten Tatbild einschließlich aller subjektiven Merkmale sowie der Täterpersönlichkeit festgestellt werden kann, dass die Milderungsgründe überwiegen und sich die Bewertung der Tat als besonders schwerer

Fall als unangemessen erwiese (vgl. BGHR StGB § 177 Abs. 2 - i. d. F. d. 6. StrRG - Strafrahmen 13).

4. In den Fällen, in denen der Täter neben einem Regelbeispiel nach § 177 Abs. 2 Satz 2 StGB zugleich den Qualifikationstatbestand des § 177 Abs. 4 StGB - wenn auch als minder schwerer Fall nach § 177 Abs. 5 StGB - verwirklicht, in denen er also zusätzliches gravierendes Unrecht auf sich geladen hat, wird ein Abgehen von dem Regelstrafrahmen des § 177 Abs. 2 Satz 1 StGB allerdings nur bei Vorliegen ganz außergewöhnlich mildernder Umstände in Betracht kommen können. Dementsprechend sind, will der Tatrichter in einem solchen Fall die Untergrenze des Strafrahmens des § 177 Abs. 2 Satz 1 StGB unterschreiten, an die gebotene Gesamtwürdigung besonders strenge Anforderungen zu stellen; dabei hat er erkennbar zum Ausdruck zu bringen, dass er auch die besondere Schwere des Unrechts, das in der Verwirklichung der Voraussetzungen des Absatzes 4 begründet ist, berücksichtigt hat.


Entscheidung

BGH 1 StR 249/03 - Beschluss vom 15. Juli 2003 (LG Mannheim)

Gefährliche Körperverletzung (hinterlistig: planmäßige Verdeckung der wahren Absicht).

§ 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB

Ein Überfall ist nicht schon dann hinterlistig, wenn der Täter für den Angriff auf das Opfer das Moment der Überraschung ausnutzt, etwa plötzlich von hinten angreift. Hinterlist setzt vielmehr voraus, dass der Täter planmäßig in einer auf Verdeckung seiner wahren Absicht bezeichnenden Weise vorgeht, um dadurch dem Gegner die Abwehr des nicht erwarteten Angriffs zu erschweren und eine Vorbereitung auf die Verteidigung auszuschließen, beispielsweise auch durch Entgegentreten mit vorgetäuschter Friedfertigkeit - freundlicher Gruß, Erkundigung nach dem Weg.