HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2003
4. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

EGMR Nr. 39482/98 - Urteil vom 24. Juni 2003 (Dowsett v. Großbritannien)

Recht auf ein faires Verfahren (rechtliches Gehör; Waffengleichheit; Akteneinsicht; Offenlegung aller relevanten Beweismittel; Vorbereitung der Verteidigung; Verwirkung; effektiver Schutz der Verteidigungsrechte; Tatrichter; öffentliches Interesse; Heilung; Abgrenzung zum Ausnahmefall Edwards; Beweislast: zustimmendes Sondervotum Bratza / Costa).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. b EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 147 StPO

1. Die Garantien des Absatzes 3 stellen spezifische Ausprägungen des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK dar.

2. Es ist ein grundlegendes Erfordernis des Rechts auf ein faires Verfahren, dass in Strafverfahren rechtliches Gehör sowie Waffengleichheit zwischen den Strafverfolgungsbehörden und der Verteidigung zu gewähren sind. Das rechtliche Gehör bedeutet im Strafverfahren, dass sowohl der Anklage als auch der Verteidigung die Gelegenheit gegeben werden muss, von den Tatsachen und Verfahrensbeiträgen, die von der jeweils anderen Verfahrenspartei in das Verfahren eingebracht worden sind, Kenntnis zu nehmen und diese zu kommentieren. Zudem erfordert Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass die Strafverfolgungsbehörden alle in ihrem Besitz befindlichen und für das Verfahren bedeutenden den Angeklagten belastenden oder begünstigenden Beweismittel offen legt.

3. Das Recht auf Offenlegung der relevanten Beweismittel ist jedoch kein absolutes Recht. Es kann erforderlich sein, bestimmte Beweismittel vor der Verteidigung zurückzuhalten, um grundlegende Rechte anderer Bürger oder wichtige öffentliche Interessen zu schützen. Auch in diesem Fall sind jedoch nur solche Einschränkungen zulässig, die strikt verhältnismäßig sind. Zudem ist es zur Gewährung eines fairen Verfahrens des Angeklagten erforderlich, dass etwaige infolge der Einschränkungen auftretende Schwierigkeiten für die Verteidigung hinreichend durch das folgende Verfahren der Rechtspflege ausgeglichen werden.

4. In den Fällen, in denen Beweise zurückgehalten worden sind, ist es nicht die Aufgabe des EGMR, zu entscheiden, ob die Zurückhaltung verhältnismäßig war, da -grundsätzlich - die nationalen Gerichte die vor ihnen ausgebreiteten Beweise würdigen. Der EGMR hat vielmehr zu sichern, dass das Entscheidungsverfahren über die Zurückhaltung in jedem einzelnen Fall so weit wie möglich mit den Erfordernissen des rechtlichen Gehörs und der Waffengleichheit übereinstimmt und adäquate Schutzvorkehrungen für die Interessen des Angeklagten vorhält.

5. Ein Verfahren, in dem die Anklage selbst versucht, die Bedeutung der zurückgehaltenen Informationen für die Verteidigung einzuschätzen und die Rechte der Verteidigung gegenüber dem öffentlichen Interesse abzuwägen, genügt dem Art. 6 EMRK dabei nicht. Hinreichend kann ein Entscheidungsverfahren nur dann sein, wenn ein nicht an die Ergebnisse eines zuvor entscheidenden Gerichts gebundener Richter über die Zurückhaltung entscheidet, der auch die Würdigung in Bezug auf die gesamten übrigen Beweise vornehmen

kann. Die Einschätzung durch den Tatrichter selbst stellt dabei den effektivsten Schutz der Verteidigungsrechte dar. Ein Rechtsmittel, das diesen Anforderungen genügt, führt keine Heilung herbei. Unterlässt der Angeklagte, ein solches Rechtsmittel einzulegen, tritt keine Verwirkung ein.


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 153/03 - Beschluss vom 25. Juli 2003 (3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG)

Beschleunigungsgrundsatz (Überlange Dauer eines Strafverfahrens; Recht auf eine Verhandlung in angemessener Frist; von der Justiz zu vertretende Verfahrensverzögerungen; ausdrückliche Feststellung von Art und Umfang der Verletzung des Beschleunigungsgebots; Einstellung wegen eines von Verfassungs wegen anzunehmenden Verfahrenshindernisses); Rechtsstaatsprinzip (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Rechtsgüterschutz: Prüfung in jeder Verfahrenslage); Verfassungsbeschwerde; Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren; Verwarnung mit Strafvorbehalt (Verfahrensverzögerung kein besonderer Umstand; Berücksichtigung bei der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Täters).

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 59 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB

1. Das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes fordert - nicht zuletzt im Interesse des Beschuldigten - die angemessene Beschleunigung des Strafverfahrens. Eine von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens verletzt den Beschuldigten in seinem Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren (vgl. BVerfGE 63, 45, 69).

2. Ob eine mit dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes nicht im Einklang stehende Verfahrensverzögerung vorliegt, bestimmt sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalls (vgl. BVerfGE 55, 349, 369), die in einer umfassenden Gesamtwürdigung gegeneinander abgewogen werden müssen (vgl. BGHSt 46, 159, 169, 171). Regelmäßig von Bedeutung sind dabei insbesondere der durch die Verzögerungen der Justizorgane verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstands sowie das Ausmaß der mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für den Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen. Keine Berücksichtigung finden hingegen Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte selbst verursacht hat. (vgl. BVerfG NJW 1984, 967; BVerfG NJW 1993, 3254).

3. So wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dazu anhält, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter Berücksichtigung der mit ihnen verbundenen Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zum dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen (vgl. BVerfGE 92, 277, 326), verpflichtet er im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht im Einklang stehenden überlangen Verfahrens zu sorgfältiger Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann. Ein Strafverfahren von überlanger Dauer kann den Beschuldigten - zumal dann, wenn die Dauer durch vermeidbare Verzögerung der Justizorgane bedingt ist - zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen (vgl. für das Disziplinarverfahren BVerfGE 46, 17, 29), die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleichkommen können.

4. Stellen die Strafverfolgungsbehörden eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung fest, haben sie diese Feststellung bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu berücksichtigen. Mit Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung ist es regelmäßig angezeigt, dass Art und Umfang der Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich festgestellt und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands näher bestimmt werden (vgl. BVerfG NJW 1984, 967; BVerfG NStZ 1997, 591; EGMR EuGRZ 1983, 371, 381 f.).

5. Reichen die gesetzlich bestehenden Möglichkeiten hierzu in Fällen, in denen das Ausmaß der Verfahrensverzögerung besonders schwer wiegt und zu besonderen Belastungen des Betroffenen geführt hat, nicht aus, kommt die Einstellung wegen eines von Verfassungs wegen anzunehmenden Verfahrenshindernisses in Betracht (BVerfG NJW 1984, 967; BGHSt 46, 159, 169 ff.).

6. Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit - von Ausnahmen abgesehen, in denen das Revisionsverfahren der Korrektur offensichtlich der Justiz anzulastender Verfahrensfehler dient (vgl. EGMR NJW 2002, 2856, 2857) - nicht der ermittelten Überlänge des Verfahrens hinzuzurechnen.

7. Steht nach einem Hinweis des Revisionsgerichtes ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK im Raum, muss, je länger ein Verfahren auf Grund von der Strafjustiz zu verantwortender Verzögerungen schon dauert, das nunmehr berufene Tatsachengericht umso größere Anstrengungen unternehmen, das Verfahren alsbald zu einem Ende zu bringen.

8. Zwar rechtfertigt das Vorliegen eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht für sich genommen eine Verwarnung mit Strafvorbehalt, ist also nicht ohne Weiteres ein besonderer Umstand im Sinne von § 59 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB, der die Anwendung der Vorschrift rechtfertigen könnte. Eine überlange Verfahrensdauer kann aber im Rahmen der nach § 59 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB anzustellenden Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Täters eine gewichtige Rolle spielen und so den Ausschlag für die Annahme besonde-

rer Umstände geben, die es angezeigt erscheinen lassen können, einen Täter insgesamt von Strafe zu verschonen.


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 508/01 2 BvE 1/01 - Urteil vom 30. Juli 2003 (2. Senat des BVerfG)

Abgeordneter des Deutschen Bundestags (Abgeordnetenstellung: kein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht; Funktionsschutz hinsichtlich des Parlaments); Zeugnisverweigerungsrecht (Zeugenstellung; freies Mandat); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde soweit kein anderes Verfahren zulässig ist; Organstreit; Durchsuchung und Beschlagnahme beim Abgeordneten (Herrschaftsmacht des Abgeordneten über Schriftstücke in den Räumen des Bundestages und außerhalb; Schriftstücke bei Mitarbeitern; Lockerung außerhalb des Bundestages); Genehmigungsentscheidungen des Bundestagspräsidenten (mündliche; Anspruch gegen grobe Verkennung des Abgeordnetenstatus; sachfremde, willkürliche Motive); Untersuchungsausschuss "Parteispenden"; Beschwerdebefugnis.

Art. 47 Satz 2 GG; Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 40 Abs. 2 Satz 2 GG; § 90 Abs. 1 BVerfGG; § 94 StPO

1.a) Soweit ein Abgeordneter die Verletzung eines Rechts, das sich aus seinem Status ergibt, in keinem anderen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen kann, ist die Verfassungsbeschwerde statthaft. (BVerfG)

b) Der grundsätzliche Vorrang des Organstreites gilt nur, soweit der Abgeordnete mit obersten Staats- oder Verfassungsorganen, mit denen er in einem dem Organstreitverfahren zugänglichen Verfassungsrechtsverhältnis steht, um seine Statusrechte streitet. Ist dies der Fall steht ihm zum Schutz seiner Rechte die Verfassungsbeschwerde nicht zur Verfügung, denn sie ist kein Mittel zur Austragung von Meinungsunterschieden zwischen Staatsorganen (vgl. BVerfGE 15, 298, 302; 64, 301, 312). (Bearbeiter)

2. a) In den Räumen des Bundestags hat der Abgeordnete unmittelbare Herrschaftsmacht über Schriftstücke im Sinne des Art. 47 Satz 2 GG, die seinem Direktionsrecht unterliegen. Solche Schriftstücke dürfen in den Räumlichkeiten des Bundestags auch bei dem Mitarbeiter eines Abgeordneten nicht beschlagnahmt werden. (BVerfG)

b) Soweit sich Schriftstücke außerhalb der Räume des Bundestags bei einem Mitarbeiter befinden, ist die rechtliche und tatsächliche Beherrschungsmöglichkeit des Abgeordneten soweit gelockert, dass der Schutzbereich des Art. 47 GG verlassen wird. (BVerfG)

3. Der Abgeordnete hat aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 47 Satz 2 GG nur einen Anspruch darauf, dass der Bundestagspräsident bei Genehmigungsentscheidungen nach Art. 40 Abs. 2 Satz 2 GG den Abgeordnetenstatus nicht grob verkennt und sich nicht von sachfremden, willkürlichen Motiven leiten lässt. (BVerfG)

4. Bei dem Recht des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 47 Satz 2 GG handelt es sich weder um ein Grundrecht noch um ein grundrechtsgleiches Recht. Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot nach Art. 47 GG dienen jedoch dem Schutz des für die Wahrnehmung der Aufgaben der Abgeordneten unverzichtbaren Vertrauensverhältnisses zwischen ihnen und ihren Wählern. Es handelt sich also um Ausprägungen des verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Als solche stellen sie subjektiv-öffentliche Rechte der Abgeordneten dar. Art. 38 GG ist seinerseits von § 90 Abs. 1 BVerfGG somit insoweit mitumfasst, als diese Norm in ähnlicher Weise wie die übrigen Vorschriften des Grundgesetzes, in die sie eingereiht ist, Individualrechte garantiert. Dies geschieht nicht nur durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, sondern auch durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 47 GG. Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot nach Art. 47 GG stellen Individualrechte dar, die zwar nicht "jedermann", wohl aber jeder Abgeordnete für sich in Anspruch nehmen kann. (Bearbeiter)

5. Art. 47 GG verleiht dem Abgeordneten ein besonderes Zeugnisverweigerungsrecht und ein korrespondierendes Beschlagnahmeprivileg für Schriftstücke. Mit diesem Recht schützt die Verfassung das Vertrauensverhältnis, das im Einzelfall zwischen dem Abgeordneten und einem Dritten in Rücksicht auf die Mandatsausübung zustande gekommen ist. Art. 47 GG verstärkt insofern das freie Mandat des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 GG und gewährleistet zugleich dem Bundestag als Verfassungsorgan einen Funktionsschutz. Gegen seinen Willen ist eine Beschlagnahme von gegenständlich verfestigten Mitteilungen aus dem Vertrauensverhältnis zwischen Abgeordnetem und Dritten nur dann - mit Genehmigung des Bundestags - zulässig, wenn der Mandatsträger selbst einer Straftat verdächtig ist; dann fehlt ihm die Zeugeneigenschaft. (Bearbeiter)