HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2003
4. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft und das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 54 SDÜ in der Rechtsprechung des EuGH

(Zugleich eine Besprechung des Urteils des EuGH vom 11. Februar 2003, C-187/01 und C-385/01, Strafverfahren gegen Hüseyin Gözütök und Klaus Brügge[1])

Von Rechtsanwalt Markus Rübenstahl, Mag. iur. und Assessorin Ute Krämer, Karlsruhe [2]

Der Europäische Gerichtshof hatte jüngst erstmals zu entscheiden, ob das Verbot der Doppelbestrafung aus Art. 54 SDÜ im Gebiet der Mitgliedsstaaten auch für Entscheidungen gilt, mit denen Staatsanwaltschaften das Strafverfahren eigenverantwortlich gegen eine Auflage einstellen und die auf nationaler Ebene zum (relativen) Strafklageverbrauch führen.

I. Sachverhalte

1. "Hüseyin Gözütök"

Herr Gözütök, ein schon seit langem in den Niederlanden wohnhafter türkischer Staatsangehöriger betrieb in der niederländischen Stadt Herleen einen "Coffe-Shop" ohne behördliche Erlaubnis. Am 12. Januar und am 11. Februar 1996 erfolgten durch die niederländische Polizei in diesem "Coffe-Shop" Durchsuchungen, die zur Beschlagnahme von 1 Kg Haschisch, 1,5 Kg Marihuana und 41 Haschischzigaretten führten. Aufgrund dessen wurde in den Niederlanden die Strafverfolgung des Hüseyin Gözütök eingeleitet. Nachdem er die von der niederländischen Staatsanwaltschaft im Rahmen des Artikel 74 I des Wetboek van Strafrecht (dem niederländischen Strafgesetzbuch) gemachten Vergleiche angenommen- und die Geldbeträge von 3000 NLG und 750 NLG gezahlt hatte, war die Strafverfolgung beendet. Denn durch die Erfüllung der Auflagen, der Zahlung der Geldbeträge am 23. Mai und am 18. Juni 1996 trat nach niederländischem Recht Strafklageverbrauch ein.

Nachdem eine deutsche Bank, bei der Herr Gözütök ein Konto führte, die deutschen Strafverfolgungsbehörden verständigte, dass auf diesem Konto Bewegungen von großen Geldsummen beobachtet wurden, erfolgte durch die deutsche Polizei die Festnahme von Herr Gözütök. Die Staatsanwaltschaft Aachen erhob am 1. Juli 1996 Anklage gegen ihn wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in mindestens zwei Fällen, die zwischen dem 12. Januar und dem 11. Februar 1996 stattgefunden haben sollen.

Nach der Verurteilung am 13. Januar 1997 durch das Amtsgericht Aachen wegen Handeltreibens in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, legte sowohl Herr Gözütök wie auch die Staatsanwaltschaft Berufung beim Landgericht Aachen ein. Das Landgericht stellte das Verfahren am 27. August 1997 durch Beschluss mit der Begründung, dass die Einstellung durch die niederländische Behörde gemäß Art. 54 SDÜ rechtskräftig sei und gemäß Art. 54 SDÜ in Verbindung mit dem Doppelbestrafungsverbot in Art. 103 III des deutschen Grundgesetztes ein Strafverfolgungshindernis darstelle, ein.

Die Staatsanwaltschaft legte daraufhin bei dem Oberlandesgericht Köln sofortige Beschwerde ein, die sie damit begründete, dass sich das Doppelbestrafungsverbot des Art. 54 SDÜ nur auf rechtskräftige Verurteilungen und keine sonstigen Beendigungen der Strafverfahren beziehe.

Aus der Sicht des Oberlandesgerichts kam es für die Entscheidung in diesem Verfahren daher entscheidend auf die Auslegung des Artikel 54 SDÜ an. Es setzte deshalb das Verfahren aus und legte dem Gerichtshof diese Frage zur Vorabentscheidung vor.

2. "Klaus Brügge"

Der deutsche Staatsangehörige Klaus Brügge, der am 9. Oktober 1997 in Belgien Frau Benedikt Leliaert vorsätzlich so körperlich verletzt haben soll, dass dies zu deren Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit geführt haben soll, wurde von der belgischen Staatsanwaltschaft für diese Tat wegen Körperverletzung gemäß den Artikeln 392, 398 I und 399 I des belgischen Strafgesetzbuches angeklagt. Die Geschädigte trat bei der als Strafgericht zuständigen Rechtsbank van Eerste Aenleg Veurne als Nebenklägerin auf und forderte Ersatz des erlittenen immateriellen Schadens.

Die Staatsanwaltschaft Bonn (Deutschland), die wegen der gleichen Tat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hatte, bot Herrn Brügge mit Schreiben vom 22. Juli 1998 im Rahmen der §§ 153 a, 153 I Satz 2 StPO gegen Zahlung von 1000 DM die Einstellung an. Der Angeschuldigte überwies am 13. August 1998 den Geldbetrag, der zu Gunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse abgeführt wurde und erfüllte somit die Auflage, die unter den gegebenen Voraussetzungen der §§ 153 a, 153 I Satz 2 StPO ohne gerichtliche Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens führt.

Die Rechtsbank van Eerste Aenleg Veurne hielt daher für die zu treffende Entscheidung über das dort weiterhin anhängige Strafverfahren gegen Herrn Brügge die Auslegung des Art. 54 SDÜ für erforderlich und setzte das Verfahren aus, um dem Gerichtshof die aufgeworfenen Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

3. Die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs gemäß Artikel 35 EU

Die durch den Vertrag von Amsterdam auf die Bereiche Justiz und Inneres erweiterten Befugnisse des Gerichtshofes zur Vorabentscheidung führen hier zur Möglichkeit der Auslegung des Art. 54 SDÜ im Wege der Vorabentscheidung gemäß Artikel 35 I EU. Die Zuständigkeit des Gerichthofes steht hier außer Frage, da das Oberlandesgericht Köln zur Vorabentscheidungsvorlage als letztinstanzliches (Beschwerde-)Gericht (§§ 206a I, II, 310, 311 I, II StPO, § 121 I 1 Nr. 2 GVG) gemäß Artikel 35 III EU verpflichtet - und das belgische Geicht gemäß Art. 35 EU dazu berechtigt war und keine der in Artikel 35 IV EU erwähnten Bereiche betroffen waren.

Nach Anhörung des Generalanwaltes hat der Gerichtshof wegen ihres Zusammenhangs die beiden Rechtssachen gemäß Artikel 43 der Verfahrensordnung verbunden.

4. Vorlagefragen

a) Im Fall Gözütök sollte nach der Ansicht des deutschen Gerichts die durch den Gerichtshof zu erfolgende Auslegung des Artikel 54 SDÜ nicht nur die Frage klären, ob die Strafklage auch in Deutschland verbraucht ist, wenn durch die Beendigung des Verfahrens, dem derselbe Sachverhalt zugrunde liegt[3], in einem anderen Mitgliedsstaat Strafklageverbrauch eingetreten ist, sondern insbesondere auch, ob Artikel 54 SDÜ auch dann gelten muss, wenn die zuvor durch den Mitgliedsstaat erfolgte strafklageverbrauchende Beendigung ohne Verurteilung oder ohne richterliche Zustimmung erfolgte. Sollte das Doppelbestrafungsverbot im Lichte des Artikel 54 SDÜ also auch für diese Verfahren gelten, drängte sich hier daran anschließend die Frage auf, ob es dann eine Einschränkung für den Fall geben muss, dass die nationale strafrechtliche Verfahrensordnung in dem durch das Doppelbestrafungsverbot betroffenen Mitgliedsstaat eine richterliche Zustimmung zu dieser Form der Verfahrensbeendigung verlangt.

b) Die Rechtsbank van Erste Aenleg Veurne sah es im Fall Brügge entscheidend darauf ankommen, ob es die Auslegung des Artikel 54 SDÜ zulässt, dass Herr Brügge trotz der in Deutschland durch die Staatsanwaltschaft erfolgten Einstellung des Verfahrens nach Zahlung eines Geldbetrages wegen derselben Handlung von der belgischen Staatsanwaltschaft geladen- und von einem belgischen Strafgericht verurteilt wird.

Die in diesen beiden Strafverfahren aufgeworfenen Fragen verlangen alle nach der durch Auslegung des Gerichtshofs festzustellenden grundsätzlichen Frage, ob die Anwendung des Doppelbestrafungsverbots im Rahmen des Artikel 54 SDÜ auch bei den nach national gültigen Strafverfahrensordnungen vorgesehenen zum Strafklageverbrauch führenden Beendigungsformen durch Strafverfolgungsbehörden und dann eben auch unabhängig von der Form eines Urteiles oder einer gerichtlichen Mitwirkung gilt.

II. Urteil

1. Der EuGH bezeichnet zunächst Art. 54 SDÜ (Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen [vom 19. Juni 1990], Schengen-Durchführungsübereinkommen, BGBl. 1993 II S. 1013, geändert durch VO EG Nr. 1091/2001 vom 28. Mai 2001, ABl. Nr. L 150/4) als für die Vorlagefragen entscheidende europarechtliche Norm. Dieser Artikel schreibt vor, dass niemand in einem Mitgliedsstaat wegen derselben Tat, wegen der er in einem anderen Land bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, strafrechtlich verfolgt werden darf. Die Ausgangsverfahren seien dadurch gekennzeichnet, dass die nach der maßgeblichen nationalen Rechtsordnung jeweils zuständige Staatsanwaltschaft beschließe, die Strafverfolgung gegen einen Beschuldigten zu beenden, nachdem dieser die ihm bestimmte Auflage erfüllt, namentlich einen Geldbetrag entrichtet habe. Der Gerichtshof betont, dass damit eine national zur Mitwirkung an der Strafverfolgung gesetzlich bestimmte Behörde die Einstellungsentscheidung treffe und zugleich durch die festgelegten Auflagen das vorgeworfene Verhalten geahndet werde. Im Sinne des Art. 54 SDÜ ist dem EuGH zufolge rechtskräftig abgeurteilt, wenn die Strafklage gegen den Betroffenen "aufgrund eines Verfahrens der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art" endgültig verbraucht ist. Die verhängte Sanktion sei vollstreckt, sobald die Auflage erfüllt ist. Deshalb seien die Einstellungsentscheidungen unter Art. 54 SDÜ zu subsumieren.

2. Dass für die Geltung des Art. 54 SDÜ weder eine Entscheidung in der Form eines Urteils noch die Beteiligung eines Gerichts nötig sei, schließt der EuGH daraus, dass der Wortlaut der Norm derartige "verfahrensrechtliche und formale" Erfordernisse nicht aufstelle, es vielmehr ausreiche, dass eine das Verfahren beendende und das vorgeworfene Unrecht ahndende Sachentscheidung durch die befugte Justizbehörde erfolgt.

3. Ergänzend führt der EuGH an, dass keine Bestimmung des Titels VI des Vertrages über die Europäische Union (EU), dessen Art. 34 und 31 seit Geltung des Vertrages von Amsterdam Rechtsgrundlage der Art. 54-58 SDÜ sind, und auch keine Vorschriften des SDÜ selbst eine Harmonisierung oder Angleichung des nationalen Rechts auf dem Gebiet der zum Strafklageverbrauch führenden Verfahren verlangen. Daraus folgert der EuGH, dass der Strafklageverbrauch aus Art. 54 SDÜ unabhängig davon gilt, dass eine Verfahrenseinstellung nach den diversen nationalen Strafverfahrensordnungen der Mitgliedsstaaten ganz unterschiedliche Voraussetzungen haben mag. Art. 54 SDÜ greife auch dann, wenn dies konkret der Fall sei, d.h. wenn die Verfahrenseinstellung des Erststaates im Zweitstaat rechtlich nicht in dieser Form (oder überhaupt nicht) zulässig wäre. Art. 54 SDÜ impliziere, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedsstaaten in ihre Strafjustizsysteme bestehe und die Anwendung des fremden Straf- und Strafverfahrensrechts hingenommen werde, auch wenn die Anwendung des eigenen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde. Deshalb könne die fehlende Mitwirkung eines Richters im Erstland nicht maßgeblich sein, selbst wenn diese im zweiten Mitgliedsland verfahrensrechtlich erforderlich wäre.

4. Diese Auslegung sei besonders durch den Sinn und Zweck des Art. 54 SDÜ und anderer Vorschriften des Europarechts geboten: Art. 2 I vierter Gedankenstrich EU schreibe vor, dass die Union zum Ziel habe, sich als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, zu erhalten und in diese Richtung weiterzuentwickeln. Aus Absatz 1 der Präambel des Protokolls des EU gehe hervor, dass mit der Umsetzung des Schengen-Besitzstandes - zu dem Art. 54 SDÜ gehört - im Rahmen der Europäischen Union dieselben Ziele verfolgt werden. Daraus entnimmt der EuGH, dass vorrangiger Zweck des Art. 54 SDÜ der Schutz der Freizügigkeit der Unionsbürger im Gebiet aller Mitgliedsstaaten ist. Wenn die Vorschrift nur für die Verfahrensbeendigung durch Urteil gelten würde, dann käme die Vorschrift in ungerechtfertigter Weise nur solchen Beschuldigten zu Gute, die schwerwiegender Straftaten beschuldigt werden, so dass ihr Verfahren deswegen oder wegen der Qualität der zu verhängenden Sanktionen von einem Gericht durch Urteil entschieden werden muss, nicht den Beschuldigten in Bagatellverfahren, für die häufig alternative Formen der Verfahrenserledigung vorgesehen sind.

5. Weder Art. 55 noch Art. 58 SDÜ stünden einer derartigen Auslegung des Doppelbestrafungsverbotes entgegen:

a) Art. 55 SDÜ erlaube den Mitgliedsstaaten, Ausnahmen von der Anwendung des Verbots der Doppelbestrafung vorzusehen, und müsse sich deshalb - wegen des systematischen Zusammenhangs zu Art. 54 SDÜ - auf dieselben Rechtsakte und Verfahren beziehen, die in Art. 54 SDÜ genannt sind. Dafür spreche zusätzlich, dass in fast allen Sprachfassungen der Art. 54 und 55 SDÜ derselbe Begriff zur Bezeichnung der Rechtsakte und Verfahren gebraucht werde. Die Tatsache, dass etwa in der deutschen Sprachfassung des Art. 55 SDÜ - anders als bei Art. 54 SDÜ - das Substantiv "Urteil" gebraucht wird, sieht der EuGH deshalb als nicht ausschlaggebend an, ebenso wenig, dass das Art. 54 SDÜ in der deutschen Sprachfassung von "rechtskräftig abgeurteilt" spricht.

b) Art. 58 SDÜ gestatte seinem Wortlaut nach den Mitgliedsstaaten die Anwendung von solchen Vorschriften des nationalen Rechts, die das Verbot der Doppelbestrafung in weiterem Umfang als die Art. 54-57 SDÜ gewährleisten. Auch durch eine Ausdehnung der Geltung des Art. 54 SDÜ auf staatsanwaltschaftliche Einstellungsentscheidungen verliere Art. 58 SDÜ nicht seinen Anwendungsbereich, da weiterhin nationale Normen denkbar seien, die dem Verbot der Doppelbestrafung eine größere Tragweite geben oder das Verbot an geringere Voraussetzungen knüpfen.

6. Der möglicherweise einer derartigen - erweiternden - Auslegung des Art. 54 SDÜ entgegenstehende Wille einiger nationalen Parlamente bei der Ratifikation eines inhaltsgleichen Übereinkommens der EG-Mitgliedsstaaten (vom 25. Mai 1987, vgl. auch den Vorbehalt der Bundesrepublik, BGBl. 1994 II S. 631) sei schon deswegen nicht von Bedeutung, weil dies zeitlich lange vor der Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union durch den Vertrag von Amsterdam stattgefunden habe. Nunmehr jedenfalls seien die Zielsetzungen des EU nach dem Vertrag von Amsterdam maßgeblich und vorhergehende Willensäußerungen der Mitgliedsstaaten hierdurch überholt. Zudem sind die erklärten Vorbehalte - da sie nicht als Teil des Schengen-Besitzstandes in den EUV einbezogen worden sind, rechtlich nicht mehr relevant (vgl. dazu im Einzelnen Plöckinger/Leidenmüller wistra 2003, 82.f).

7. Die eingangs wiedergegebene Auslegung verletze auch nicht die Rechte des Opfers einer Straftat, denn Art. 54 SDÜ regele nur das Verbot der strafrechtlichen Verfolgung. Eine zivilrechtliche Schadensersatzklage gegen den Beschuldigten wegen des strafverfahrensrechtlich eingestellten Vorwurfs könne - unabhängig von der prozessrechtlichen Ausgestaltung in den Mitgliedsländern - trotz Strafklageverbrauchs weiterverfolgt oder neu erhoben werden.

III. Kommentar

1. Rechtliche Bewertung

a) Zusammenfassend ist die Entscheidung des EuGH - insbesondere unter dem Blickwinkel der Rechtsordnung der Europäischen Union - als zutreffend und stringent begründet anzusehen. Ihr ist insbesondere im Ergebnis zuzustimmen. Art. 54 SDÜ wird in den Gesamtzusammenhang des EUV, dessen Zielsetzungen er durch den Vertrag von Amsterdam unterworfen wurde (vgl. Plöckinger/Leidenmühler wistra 2003, 81, 82f. m.w.N., formell durch das beigefügte 2. Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der EU und den Beschluss des Rates 1999/436/EG vom 20. Mai 1999 zur Festlegung der Rechtsgrundlagen für die einzelnen Bestimmungen und Beschlüsse, die den Schengen-Besitzstand bilden, nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrages über die Europäische Union, Abl. 1999, L 176/17 ff.), eingeordnet.

Auf dieser Basis erfolgt eine konsequente, weniger am Wortlaut der Vorschrift als an deren Zweck orientierte Auslegung des Art. 54 SDÜ. Als Normzweck wird herausgearbeitet, dass die Freizügigkeit im Unionsgebiet - zur Förderung des dynamischen Prozesses der europäischen Integration - umfassend zu gewährleisten und diesem Vertragszweck auch im Hinblick auf die Vorschriften im Bereich des VI. Titels des EUV (Bestimmungen über die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen, die sogenannte "dritte Säule" des Vertrages) Geltung zu verschaffen ist (vgl. Radtke/Busch EuGRZ 2000, 421, 424-426). Das Urteil setzt - in Übereinstimmung mit dem viertletzten Spiegelstrich der Präambel des EUV in der Fassung des Vertrags von Amsterdam - die Grundfreiheit der Freizügigkeit (Art. 18 I EGV) implizit in Beziehung zu den oben genannten Normen und verhilft ihr zu einer maximalen Wirkung.

b) Uneingeschränkt zu begrüßen sind auch folgende weitere Grundgedanken des Urteils:

aa) Aufbauend auf den Schlussanträgen des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 19. September 2002, der das Verbot der Doppelbestrafung aus Art. 54 SDÜ ausdrücklich als Grundrecht des Bürgers bezeichnete (Randziffern 114-116) behandelt auch der Gerichtshof die Norm in diesem Sinne, d.h. als subjektives Recht. Diese Einordnung ist allein richtig und angemessen, wie die entsprechende Einordnung des deutschen innerstaatlichen Doppelbestrafungsverbots gemäß Art. 103 III GG (statt aller Nolte in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 4. Auflage, 2001, Band 3, Art. 103 Rn. 182 m.w.N.) und die gleichartige Behandlung in anderen nationalen Rechtsordnungen zeigt. Durch die Teilnahme an der europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafjustiz im Rahmen des EUV und die Transformation des SDÜ in innerstaatliches Recht haben die Mitgliedsstaaten den Anwendungsbereich dieses auf nationaler Ebene als subjektiv-öffentliches Recht anerkannten Grundsatzes auf die zwischenstaatliche Ebene erweitert. Er kann in diesem Zusammenhang - in Art. 54 SDÜ - keine andere Rechtsnatur angenommen haben (nur im Ergebnis ebenso Plöckinger/Leidenmühler wistra 2003, 83).

bb) Vernünftig ist auch das Bestreben des EuGH, durch die extensive Auslegung des Art. 54 SDÜ eine Schlechterstellung durch Doppelbestrafung gerade der Beschuldigten von leichten und mittelschweren Straftaten zu verhindern, während Beschuldigte schwerster Straftaten durch die wohl allen nationalen Rechtsordnungen innewohnende Notwendigkeit gerichtlicher Klärung bereits durch den eindeutigen Wortlaut des Art. 54 SDÜ vor einer Doppelverfolgung geschützt sind. Dies gilt umso mehr, als gerade die Beschuldigten, die nach der Zahlung der verhängten Geldauflage berechtigtes Vertrauen in die derartige Erledigung des Vorwurfs haben, unmittelbar darauf - wenn sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit im Grenzgebiet Gebrauch machen - in die Gefahr kommen, ein weiteres Mal einem Strafprozess unterzogen zu werden. Dies kann im Zweitland sogar zu weit einschneidenderen Konsequenzen führen, da dort möglicherweise eine Erledigung im Wege der Verfahrenseinstellung gegen Auflagen rechtlich nicht zulässig ist. In Deutschland etwa ist die Anwendbarkeit des § 153a StPO an das formale Erfordernis geknüpft, dass es sich bei der verfolgten Straftat um ein Vergehen (d.h. eine Straftat bei der das Mindestmaß der angedrohten Strafe unter einem Jahr Freiheitsstrafe liegt, § 12 StGB) handeln muss, während in den Niederlanden und Belgien (für die "transactie") keine derartigen Schranken zu bestehen scheinen.

Müssten Beschuldigte damit rechnen, dass die meist von ihrer Zustimmung abhängigen und deshalb ausgehandelten Verfahrenseinstellungen in Nachbarländern nicht gelten, bliebe ihnen nichts anderes übrig, als den Strafprozess bis zu einem rechtskräftigen Urteil fortzuführen, d.h. eine Absprache mit Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls mit dem Gericht, dass Verfahren gegen Auflagen einzustellen, zu verweigern (vgl. Plöckinger/Leidenmühler wistra 2003, 86). Sonst müssten sie auf Freizügigkeit im Gebiet der Mitgliedsstaaten verzichten oder die Mehrfachverfolgung hinnehmen. Es besteht die Gefahr, dass die Abwägung eines Beschuldigten zugunsten eines Verzichts auf strafprozessuale Absprachen ausfällt. Dies ist nicht im Interesse der Beschleunigung des Strafverfahrens und der optimalen Nutzung der Ressourcen der Justiz (vgl. Schomburg NJW 2000, 1833, 1839f.). Es ist im Regelfall auch nicht im Interesse der Beschuldigten, denn die Sanktionierung dürfte im Urteil - gerade wenn eine Einstellungsmöglichkeit seitens der Justiz auch nur angedeutet wurde - faktisch höher ausfallen. Außerdem wird durch das Verfahren nach § 153a StPO eine Eintragung im Bundeszentralregister vermieden (§§ 3, 4 BZRG), was bei einer Geldstrafe (von Freiheitsstrafen ganz abgesehen) durch Urteil nicht möglich ist (§ 4 Nr. 1 BZRG) und bei Geldstrafen von über 90 Tagessätzen zudem zur Aufnahme der Straftat in das Führungszeugnis führt (§ 32 I 1, II Nr. 5a BZRG). Umgekehrt wäre auch ein durch fehlende europaweite Rechtskraft der Entscheidung erzwungener Verzicht auf die Wahrnehmung des Rechtes auf Freizügigkeit (Art. 18 EGV) für die wirtschaftliche Entwicklung und die soziale Kohäsion und der Union und ihrer Bürger schädlich und stünde im Gegensatz zum Zweck des Vertrages über die Europäische Union.

cc) Mit einiger Skepsis ist hingegen die Auffassung des EuGH zu betrachten, dass das Ziel der Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit bei der Strafrechtspflege nicht ohne gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedsstaaten in ihre Strafrechtssysteme und ohne gegenseitige Anerkennung der jeweiligen Entscheidungen erreicht werden könne (vgl. explizit in den Schlussanträgen des Generalanwalts Randziffern 124-126; vgl. Plöckinger/Leidenmühler wistra 2003, 85 f. m.w.N.) und auch deshalb Art. 54 SDÜ weit auszulegen sei. Dies wirkt sich hier tendenziell zugunsten des Beschuldigten und anerkannter Prinzipien der formellen und materiellen Gerechtigkeit aus. Zu bedenken ist jedoch, dass bei einer entsprechend engen Zusammenarbeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden - die auch durch die Art. 92 ff. SDÜ (Regelungen über den Informationsaustausch), Art. 39 ff. SDÜ (gegenseitige Unterstützung im Ermittlungs- und Strafverfahren) und Art. 68 f. SDÜ (Übernahme der Vollstreckung) nahe gelegt wird - die Gefahr des "forum shopping" (Anhängigmachen eines Strafverfahrens bei dem aus Strafverfolgersicht günstigsten Strafrechtssystem, vgl. Plöckinger/Leidenmühler wistra 2003, 88) besteht. Diese Gefahr wird weiter wachsen, sobald es eine europäische Staatsanwaltschaft mit - zumindest - Koordinationsfunktion geben wird, was bereits konkret diskutiert wird (vgl. EuZW 2002, 451; Hetzer ZfZ 2002, 295 ff.), ohne dass es begleitend zu einer Rechtsvereinheitlichung kommt.

Einen ähnlichen Effekt würde derselbe Rechtsgedanke haben, wenn er herangezogen werden sollte um die - in Deutschland noch nicht geltenden - Vorschriften zum Europäischen Haftbefehl gemäß dem Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 13. Juni 2002 bzw. die Art. 1 und 2 des Ratsbeschlusses selbst extensiv und die Ablehnungsgründe (für eine Überstellung) aus den Art. 3 und 4 restriktiv auszulegen. Denn auch hier ist - gemäß Ziffer 10 der dem Beschluss vorangestellten Erwägungen - der Grundgedanke, dass ein "hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten" unterstellt und das Verfahrensprinzip der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen zugrunde gelegt wird. Auch hier ist eine Harmonisierung des Straf- und Strafverfahrensrechts nicht vorgesehen. Durch den weitausgreifenden Straftatenkatalog des Art. 2 II des Beschlusses ist der gegenseitigen Anerkennung von Haftbefehlen kaum eine wirksame Grenze gesetzt. Es ist deshalb zu wünschen, dass der EuGH und die nationalen Gerichte den Argumentationstopos des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen mit Augenmaß einsetzen, jedenfalls ohne dass wesentliche Verfahrensgarantien (solche, die in den nationalen Strafprozessgesetzen die Verfahrensrechte des Beschuldigten schützen und allgemein die Grundsätze des Art. 6 I 1, III EMRK) ausgehöhlt werden. Dies könnte dadurch geschehen, dass einige Mitgliedsstaaten insofern allenfalls Minimalstandards genügen (oder ihre Standards senken) und diese durch das Instrument der "Europäisierung" des Haftbefehls überall zur Festnahme berechtigen. Dies könnte die höheren Standards in anderen Mitgliedsstaaten faktisch bald in Frage stellen und schlussendlich zu einer Harmonisierung auf niedrigem Niveau führen.

dd) Merkwürdig ist angesichts des Ansatzes des EuGH, der die Rechtskraft der Entscheidung als maßgeblich für die Anwendbarkeit des Art. 54 SDÜ ansieht, dass der Gerichtshof mit keinem Wort auf die Vorschrift des § 153a I 5 StPO eingeht, mit der die Rechtskraft der Entscheidung auf die Verfolgung als Vergehen beschränkt wird, d.h. eine Verfolgung als Verbrechen nach deutschem Recht möglich bleibt. Wenn man nicht davon ausgehen will, dass die Vorschrift übersehen wurde, muss man annehmen, dass der EuGH dieser keine entscheidende Bedeutung zumisst, was damit zusammenhängen kann, dass er keine rein normativ-dogmatische Betrachtung anstellt, sondern eine mehr am Rechtstatsächlichen orientierte. Offenkundig ist eine Entscheidung nach § 153a StPO darauf angelegt, das Strafverfahren endgültig zu beenden (SK-StPO/Weßlau § 153a Rn. 1, 2, 70 m.w.N.). Zudem liegt bei prozessualen Taten (§ 264 StPO), bei denen ein Vergehen im Raum steht, in aller Regel die Begehung eines Verbrechens fern. Überdies ist durch die beschränkte Rechtskraft - § 153a I 5 StPO - der entsprechende Wille des Gesetzgebers, dass die Entscheidung abschließend sein möge, zum Ausdruck gekommen. Die prozessuale Tat, d.h. der Lebenssachverhalt, kann nur als ein rechtliches "aliud" verfolgt werden, auch wenn es nach h.M. nicht einmal neuer Tatsachen und Beweismittel bedarf (Weßlau aaO. Rn. 72; LR/Beulke § 153a 99 m.w.N. str.). Man muss davon ausgehen, dass diese - formal höchst eingeschränkte - Rechtskraft für den EuGH ausreicht.

ee) Eine näheren Erörterung wäre möglicherweise auch der Umstand wert gewesen, dass der Beschuldigte Gözütök in einem der Ausgangsverfahren - ausweislich des Urteils (Rn. 9) ausschließlich - türkischer Staatsangehöriger war und deshalb nicht die Unionsbürgerschaft im Sinne des Art. 17 EGV besaß. Angesichts der Tatsache, dass die Freizügigkeit dem Wortlaut des Art. 18 EGV nach nur Unionsbürgern zusteht, und der EuGH zur Begründung der weiten Auslegung des Art. 54 SDÜ dem "Recht auf Freizügigkeit" (Rn. 38 des Urteils) maßgebliche Bedeutung zubilligte, stellt sich doch die Frage, ob Herr Gözütök ein solches Recht überhaupt hatte. Auch in der - vom EuGH argumentativ verwerteten - Präambel des EUV wird nach Erwähnung der gemeinsamen Unionsbürgerschaft beschlossen "die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit ihrer Bürger durch den Aufbau eines Raums ... des Rechts ... zu fördern". Nicht nur die Sicherheit, auch die Freizügigkeit ist wohl diejenige der Unionsbürger.

Dennoch ist dem Ergebnis, auch EU-Ausländer in den Schutzbereich des Art. 54 SDÜ einzubeziehen, uneingeschränkt zuzustimmen. Art. 54 SDÜ macht seinem Wortlaut nach ("wer ... abgeurteilt ist") im Gegensatz zu Art. 18 EGV keinerlei Unterschied zwischen Unionsbürgern und Ausländern. Die Vorschrift dürfte sich mithin als ein (subjektiv-öffentlichrechtliches) "Jedermannsrecht" darstellen. Eine andere - nach der Staatsbürgerschaft differenzierende - Auslegung ist wohl bereits mit dem Wortlaut des Art. 54 SDÜ nicht vereinbar.

Hinzu kommt, dass der "freie Personenverkehr" in der EU ganz allgemein als Ziel der Union anzusehen ist (Art. 2 4. Spiegelstrich EUV). Es kann sich dabei wohl kaum nur um die Freizügigkeit von Unionsbürgern handeln, denn in derselben Vorschrift werden geeignete Maßnahmen bzgl. der Kontrolle an den Außengrenzen, des Asyls und der Einwanderung zur Gewährleistung des freien Personenverkehrs in den Blick genommen werden. Wenn nach Auffassung der Vertragsparteien hier ein Zusammenhang bestand, muss Art. 54 SDÜ als Element der dritten Säule der Union - die in Art. 2 4. Spiegelstrich angesprochen ist - auch im Hinblick auf (aufenthaltsberechtigte) Nicht-Unionsbürger gelten, da die anderen Regelungsbereiche offensichtlich diesen Personenkreis betreffen. Wenn in diesen Bereichen vereinheitlichende Maßnahmen - auch durch das SDÜ - angestrebt sind, um den Personenverkehr zu begünstigen, so mit Rücksicht darauf, dass auch andere Personen als nur Unionsbürger den Wegfall der Grenzkontrollen aufgrund des Schengen Abkommens nutzen würden (vgl. Plöckinger/Leidenmühler wistra 2003, 81 und 83).

Auch die entsprechenden Vorschriften des nationalen Rechts (etwa Art. 103 III GG; "niemand") diskriminieren nicht unter dem Gesichtspunkt der Staatsangehörigkeit. Es ist nicht ersichtlich, dass die Vorschrift des Art. 54 SDÜ von 1990 - dem die Doppelbestrafungsverbote der nationalen Rechtsordnungen zugrunde lagen - dies sollte, vielmehr ging es um die Vermeidung von Doppelbestrafungen auch aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit, insofern kann keine Unterscheidung nach der Nationalität des Beschuldigten erstrebenswert sein.

Gerade auch die andere Formulierung des Art. 54 SDÜ im Vergleich zu der der Grundfreiheiten der Unionsbürger (Art. 17-22 EGV: "jeder Unionsbürger") weist darauf hin, dass nur der weitergehende direkte Rechtsanspruch auf Freizügigkeit auf diese Personengruppe beschränkt ist, während der weniger weitreichende indirekte Schutz über Art. 54 SDÜ auch anderen zu Gute kommen soll, da es insoweit eher auf die tatsächliche Möglichkeit zum freien Personenverkehr im Schengen-Gebiet und der hieraus resultierenden Gefahr der - unbilligen - Doppelbestrafung ankommen muss.

2. Konsequenzen und Ausblick

a) Die Entscheidung dürfte für Deutschland unmittelbar zur Folge haben, dass Einstellungsentscheidungen von Staatsanwaltschaften der EU-Mitgliedsstaaten (außer der Republik Irland, die den Schengen-Besitzstand nicht übernommen hat, dies aber jederzeit tun kann, und Dänemark, für das besondere Bestimmungen gelten; das Vereinigte Königreich ist auf Antrag - jedenfalls hinsichtlich Art. 54 SDÜ - durch den Ratsbeschluss vom 29. Mai 2000, Abl. 2000 L 131/43 ff. einbezogen; für die assoziierten Staaten Norwegen und Island gelten ebenfalls Sonderregelungen, vgl. im Einzelnen Plöckinger/Leidenmühler wistra 2003, 82), die eine Ahndung (speziell durch Zahlung einer Geldbuße) vorsehen, die dann auch erfolgt ist und nach nationalem Recht rechtskräftig sind, ein Prozesshindernis für die zugrunde liegende prozessuale Tat (§ 264 StPO) bilden (vgl. Schomburg NJW 2000, 1833, 1834; Hecker StV 2001, 307).

b) Die Auffassung des Bundesgerichtshofs (BGH NStZ 1998, 149; BGH NJW 1999, 1270 mit Anmerkung Schomburg StV 1999, 244), wonach lediglich ausländische gerichtliche Entscheidungen die Rechtskraftwirkung des Art. 54 SDÜ auslösen würden, wird nunmehr zu korrigieren sein (vgl. auch BayObLG StV 2001, 263).

c) Damit ist jedoch nicht gesagt, dass eine belgische "transactie" (vgl. BGH NJW 1999, 1270) als Entscheidung einer Verwaltungsbehörde (nämlich des belgischen Finanzministeriums als Zollbehörde) zum Strafklageverbrauch gemäß Art. 54 SDÜ führt, denn der EuGH stellt vorliegend ausdrücklich auf die Beteiligung der Staatsanwaltschaft als Justizbehörde ab. Auch wird es möglicherweise darauf ankommen, ob die zu leistende Zahlung "ahndende" Funktion hat oder zu anderen Zwecken (etwa: fiskalischen Zwecken oder zum Schadensausgleich) erfolgt, d.h. ansatzweise einer Kriminalstrafe vergleichbar ist.

Die "transaction" nach Art. 216 bis der belgischen Strafprozessordnung, die durch die Staatsanwaltschaft verfügt wird und überhaupt der niederländischen "transactie" vergleichbar ist (vgl. Schlussanträge Rz. 66) würde nach der Rechtsprechung des EuGH wohl den europaweiten Strafklageverbrauch herbeiführen.

d) Gleichfalls müsste die Entscheidung des BGH zur französischen "ordonnance de non-lieu par de raison de fait" (BGH StV 1999, 478f. mit der die Anwendung des Art. 54 SDÜ abgelehnt wurde) nunmehr nicht zwingend anders ausfallen. Weil es sich dabei um einen gerichtlichen (wohl zweitinstanzlichen) Beschluss (durch ein Appellationsgericht!) zur Verfahrenseinstellung mangels Beweisen im Zwischenverfahren handelt (vgl. etwa §§ 210 II, 211 StPO), welcher nach der Auskunft der französischen Behörden durch das Auftauchen neuer belastender Indizien - unter Umständen reichen auch neue Perspektiven auf bereits bekannte Tatsachen aus (Kühne StV 1999, 480) - überholt sein kann, meinte der BGH, eine derartige Entscheidung genüge nicht den Anforderungen der "rechtskräftigen Aburteilung" im Sinne des Art. 54 SDÜ. Dies kann vor dem Hintergrund, dass auch eine Einstellung nach § 153a StPO gemäß Absatz 1 Satz 5 der Vorschrift nur vor der Verfolgung wegen eines Vergehens, nicht wegen eines Verbrechens schützt, immerhin in Zweifel gezogen werden, denn die definitive Rechtskraft kann hiernach jedenfalls nicht der Maßstab des EuGH sein. Zweifelhaft ist es jedenfalls, wenn in einem Zweitland auf der Basis derselben Beweislage, die im Erstland zu der Einstellungsentscheidung aus tatsächlichen Gründen geführt hat, ein Verfahren eingeleitet und wegen diesem verurteilt werden kann. Denn soweit sich die gegebene Beweislage nicht ändert, ist nach dem Recht des Erstlandes Rechtskraft (vgl. etwa § 211 StPO) gegeben (vgl. Kühne aaO. S. 480f.).

Es erscheint vorzugswürdig anzunehmen, dass Art. 54 SDÜ bei beschränktem Strafklageverbrauch durch die Verfahrenseinstellung nach nationalem Recht des Erstlandes im Zweitland ein entsprechend beschränktes Verfahrenshindernis begründet, welches nach den Kriterien, die im Erstland gelten (neue Tatsachen oder Beweismittel bzw. rechtliche Wertung als Verbrechen o.ä.), überwunden werden kann.

e) Zweifelhaft bleibt nach der Entscheidung des EuGH, wie eine Einstellung nach § 153 I und II StPO bei geringer Schuld und fehlendem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung - ohne jede Sanktion - zu beurteilen ist. Klar scheint, dass es auf die (fehlende) Beteiligung des Gerichts (§ 153 I 2 StPO) an der Verfügung der Staatsanwaltschaft nach Auffassung des EuGH an sich nicht entscheidend ankommen kann. Jedoch ist in der dt. Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass die Einstellung in dieser Form nicht einmal zu einem beschränkten Strafklageverbrauch führt (Meyer-Goßner StPO § 153 Rn. 37). Wenn der EuGH tatsächlich die Wertungen des nationalen Verfahrensrechts (im Erstland) unbesehen heranzieht, wäre ein Strafklageverbrauch eigentlich abzulehnen.

Auch fehlt es hier an dem für den EuGH wesentlichen Gesichtspunkt der Ahndung des Tatvorwurfs, der geeignet ist, das Vertrauen des Beschuldigten hinsichtlich des Strafklageverbrauchs zu begründen. Jedoch spricht vieles dafür, die befriedende Funktion der Einstellung nach § 153 I 2 StPO, die stets "endgültig" gemeint ist (vgl. LR/Beulke § 153 Rn. 56; KMR/Plöd § 153 Rn. 1f.) - man könnte von faktischer Rechtskraft sprechen - anzuerkennen. Zudem handelt es sich hier um eine Form der bewussten Nichtsanktionierung geringfügigen Unrechts durch die Staatsanwaltschaft (Diversion), welche gleichfalls als staatliche Reaktion auf eine Straftat in Betracht kommt und auch eine Form der Disposition über den staatlichen Strafanspruch durch Justizbehörden darstellt und insofern auf der europarechtlichen Ebene - im Rahmen des Art. 54 SDÜ - als Freispruch angesehen werden könnte.

f) Jedenfalls dann, wenn ein Gericht beteiligt war (§ 153 I 1 StPO), lässt sich die Entscheidung möglicherweise als Freispruch - im Sinne des Art. 54 SDÜ - ansehen, da unter Mitwirkung eines Gerichts entschieden wurde, von einer Sanktionierung abzusehen. Dies ließe die Annahme eines Strafklageverbrauchs - solange keine zusätzlichen Tatsachen oder Beweismittel zu Tage treten, die zu einer anderen rechtlichen Bewertung führen müssten - zu.

g) Bei einer Einstellung durch Gerichtsbeschluss gemäß § 153 II StPO liegen die Dinge hinsichtlich der Rechtskraft wieder etwas anders: Die Einstellung nach dieser Vorschrift schafft zwar allenfalls einen beschränkten Strafklageverbrauch, der nach herrschender Meinung durch neue Tatsachen oder Beweismittel, welche die rechtliche Bewertung des Sachverhalts ändern, in Fortfall gerät (Meyer-Goßner StPO § 153 Rn. 38, str.). Der hier besprochenen Entscheidung dürfte zu entnehmen sein, dass dies dem EuGH genügt. Hinzu kommt, dass der tatsächliche Unterschied zu § 153a I 5 StPO im Einzelfall geringfügig ist. Auch hier würde zur Durchbrechung der Rechtskraft ausreichen, dass eine neue Zeugenaussage - oder eine Änderung derselben - einen gewaltlosen Diebstahl als gewaltsamen Raub erscheinen lässt, was genauso leicht möglich ist wie dass bei § 153 StPO eine neue Zeugenaussage etwa zur Höhe des verursachten Vermögensschadens gemacht wird. Aus der Perspektive des EuGH dürften derart feine Differenzierungen nicht entscheidend für die Frage sein, ob Rechtskraft im Sinne des Art. 54 SDÜ gegeben ist. § 153 II StPO führt daher wie § 153a StPO zum (beschränkten bzw. bedingten) Strafklageverbrauch nach dieser Vorschrift, zumindest soweit im Zweitland keine neuen Tatsachen und Beweismittel zu Tage treten.

h) Klar ist, dass Verfahrenseinstellungen nach §§ 154, 154a (wie sich aus dem Normtext selbst ergibt) und 170 II StPO (hierzu vgl. LR/Rieß § 170 Rn. 49) nicht zum Verbot der Doppelbestrafung nach Art. 54 SDÜ führen, da sie ihrer Wesensart nach vorläufig und nicht rechtskraftfähig sind. Trotz einer Einstellung nach § 170 II StPO ist nach h.M. eine Fortführung des Verfahrens aus jedem denkbaren Grund zulässig (RGSt 67, 316), eine intern geänderte Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch Staatsanwaltschaft - auch ohne neue Tatsachen und Beweismittel (Rieß aaO.) - reicht aus. Ein Vertrauenstatbestand gegenüber dem Beschuldigten wird hinsichtlich einer endgültigen Verfahrensbeendigung schon deshalb nicht gesetzt, weil eine Mitteilungspflicht an den Beschuldigten nur in den gesetzlich genannten Fällen besteht (§ 170 II 2 StPO), und ihm die Einstellungsgründe im Regelfall nicht mitgeteilt werden, auch auf Ersuchen nur, soweit kein schutzwürdiges Interesse entgegensteht (RiStBV Nr. 88 Satz 1; vgl. LR/Rieß § 170 Rn. 43).

i) Insgesamt bietet es sich an, darauf abzustellen, ob die der Verfahrenserledigung zugrunde liegenden Norm ihrer Natur nach bei unverändertem Sachverhalt auf eine endgültige Verfahrenserledigung abzielt sowie befriedende - nicht nur und nicht unbedingt ahndende - Funktion hat und zugleich einen gewissen Vertrauenstatbestand beim Beschuldigten schafft. Soweit dies der Fall ist, ist im Zweitland ein (gegebenenfalls durch eine wesentliche Veränderung der Sach- und Beweislage eingeschränkter bzw. auflösend bedingter) Strafklageverbrauch nach Art. 54 SDÜ anzunehmen.


[1] Der Autor Rübenstahl ist Anwalt in der Kanzlei Redeker Sellner Dahs & Widmaier Rechtsanwälte bei Prof. Dr. Gunter Widmaier, die Autorin Krämer macht dort zur Zeit ein Praktikum. Für ein Feedback, für Anregungen oder Kritik können Sie sich unter ruebenstahl@herrenstrasse23.de an die Autoren wenden.

[2] HRR-Strafrecht, 2003, 17; Volltext: http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/eugh/01/c-187-01.php3.

[3] Diese Frage - Konsequenz der Auslegung des europäischen Rechts für das deutsche Recht im konkreten Fall - konnte (durfte) der EuGH mangels Zuständigkeit nicht beantworten.