HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2003
4. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 2 StR 215/02 - Urteil vom 24. Januar 2003 (LG Bad Kreuznach)

BGHSt; Unterbrechung / Aussetzung der Hauptverhandlung (Ermessen; zwingende Anwendung; neu hervorgetretene Umstände; Vorbereitung; wirksame Verteidigung); Tat im prozessualen Sinne (Nichtanzeige einer Straftat; Mittäterschaft und Anstiftung); Kettenanstiftung.

§ 265 Abs. 3 StPO; § 25 Abs. 2 StGB; § 26 StGB; § 138 StGB; § 264 StPO; § 265 Abs. 4 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK

1. § 265 Abs. 3 StPO räumt dem Gericht kein Ermessen ein, die Hauptverhandlung lediglich zu unterbrechen; bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ist die Verhandlung auszusetzen. (BGHSt)

2. Ob die Behauptung ungenügender Vorbereitung der Verteidigung zutreffend war, hat das Gericht grundsätzlich nicht zu überprüfen; für § 265 Abs. 3 StPO genügt das entsprechende Vorbringen des Angeklagten. (Bearbeiter)

3. Es ist der Zweck des § 265 StPO, den Angeklagten und den Verteidiger in die Lage zu versetzen, die Verteidigung auf den neuen Gesichtspunkt einzurichten (vgl. BGHSt 18, 56). (Bearbeiter)

4. Das erkennende Gericht hat die Entscheidung, ob die Hauptverhandlung nach § 265 Abs. 4 StPO auszusetzen ist, nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen (vgl. BGHSt 8, 92, 96; BGH StV 1998, 252). Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, wenn der Angeklagte selbst keinen Anlass sah, einen solchen Antrag zu stellen. § 265 Abs. 4 StPO ist allenfalls dann verletzt, wenn das Gericht von der Aussetzungsmöglichkeit keinen Gebrauch macht, obwohl es "auf der Hand liegt" oder "unübersehbar ist", dass eine Aussetzung oder längere Unterbrechung zur genügenden Vorbereitung geboten ist (vgl. BGHSt 8, 92, 96; BGH NStZ 1983, 281). Dass eingeräumte Ermessen ist vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbar (vgl. BGHSt 8, 92, 96; BGHR StPO § 265 Abs. 4 Verteidigung angemessene 2 und 5; BGH StV 1998, 252). (Bearbeiter)

5. Ob grundsätzlich Tatidentität im Sinne von § 264 StPO zwischen angeklagter Mittäterschaft und ausgeurteilter Anstiftung anzunehmen ist, kann hier offen bleiben. Maßgebend für die Begriffsbestimmung der prozessualen Tat sind die Umstände des Einzelfalls (vgl. dazu u.a. BGHSt 35, 60 ff.). (Bearbeiter)

6. Die Nichtanzeige eines Verbrechens nach § 138 StGB und das Verbrechen selbst betreffen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 32, 215, 219; BGH NStZ 1993, 50 f.) grundsätzlich denselben geschichtlichen Vorgang und damit dieselbe Tat im Sinne des § 264 StPO. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 1 StR 464/02 - Beschluss vom 15. Januar 2003 (LG München I)

BGHSt; Absprache; Deal; Glaubwürdigkeit eines Geständnisses; Beweiswürdigung (lückenhafte Darlegung; Erörterungsmangel; Überzeugungsbildung); Wahrheitsfindung; Amtsermittlungsgrundsatz; Aufklärungspflicht; Beruhen.

§ 261 StPO; § 267 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; 337 StPO

1. Bei der Verurteilung eines Angeklagten aufgrund von Geständnissen der Mitangeklagten, die Gegenstand einer verfahrensbeendenden Absprache sind, muss die Glaubhaftigkeit dieser Geständnisse in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise gewürdigt werden. Dazu gehören insbesondere das Zustandekommen und der Inhalt der Absprache. (BGHSt)

2. Für die Bewertung eines Geständnisses gilt der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (BGHSt 39, 291, 303). Der Tatrichter muss, will er die Verurteilung des Angeklagten auf dessen Einlassung stützen, von deren Richtigkeit überzeugt sein. Wann und unter welchen Umständen er diese Überzeugung gewinnen darf oder nicht, kann ihm aber grundsätzlich nicht vorgeschrieben werden. Die Freiheit der tatrichterlichen Würdigung stößt aber dort auf Grenzen, wo der Angeklagte nicht etwa die Sachverhaltsannahmen der Anklage als richtig bestätigt, sondern sich vielmehr, ohne den Sachverhalt einzuräumen, auf eine Stellungnahme beschränkt, die gleichsam ein bloß prozessuales Anerkenntnis oder eine nur formale Unterwerfung enthält (BGH NStZ 1999, 92 m.w. Nachw.). (Bearbeiter)

3. Das Gericht bleibt auch bei einem Geständnis des Angeklagten dem Gebot der Wahrheitsfindung verpflichtet. Jedes Geständnis muss daher auf seine Glaubhaftigkeit überprüft werden; sich hierzu aufdrängende Beweiserhebungen dürfen nicht unterbleiben. Dies gilt um so mehr, wenn sich das Strafverfahren gegen mehrere Angeklagte richtet, von denen nicht alle ein Geständnis ablegen. Denn bei dieser Sachlage besteht die Gefahr, dass die geständigen Mitangeklagten den nichtgeständigen zu Unrecht belasten, weil sie sich dadurch für die eigene Verteidigung Vorteile versprechen. (Bearbeiter)

4. Eine Beweiserhebung ist insbesondere dann unerlässlich, wenn die der Verurteilung zugrunde gelegten Geständnisse auch bezügliche der Tatbeteiligung der Geständigen widersprüchliche Angaben enthalten. In einem solchen Fall darf nicht offen bleiben, von welchen Tatbeiträgen der einzelnen Angeklagten der Tatrichter bei seinem Schuldspruch und seiner Strafzumessung ausgeht. (Bearbeiter)

5. Maßgeblich für die Bewertung eines Geständnisses ist seine Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte. Dies schließt auch das Zustandekommen, den Inhalt und gegebenenfalls das Scheitern einer verfahrensbeendenden Absprache mit ein. Nur so kann das Revisionsgericht überprüfen, dass sich die geständigen Angeklagten durch ein Geständnis gegen die Zusage einer Strafe nicht nur eigene Vorteile verschafft, sondern sich auch zu Lasten des nicht geständigen Angeklagten eingelassen haben. Fehlen solche Darlegungen in den Urteilsgründen, so kann dies ein sachlich-rechtlicher Fehler sein. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 4 StR 472/02 - Beschluss vom 21. Januar 2003 (LG Bielefeld)

BGHR; Verständigung (faires Verfahren; Deal); Strafzumessung (zugesagte Obergrenze; Vertrauenstatbestand).

§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 46 Abs. 2 Satz 1 StGB; § 265 Abs. 1 und 2 StPO

1. Der Hinweis des Gerichts, es sei an eine getroffene Absprache im Strafverfahren wegen sich neu ergebender schwerwiegender Umstände zu Lasten des Angeklagten nicht mehr gebunden, ist protokollierungspflichtig (im Anschluss an BGHSt 43, 195). (BGHR)

2. Der Angeklagte kann sich im Revisionsverfahren auf die protokollierte zulässige Vereinbarung, eine zugesagte Strafobergrenze werde nicht überschritten, berufen (vgl. BVerfG StV 2000, 3; BGHSt 45, 227, 228). (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 4 StR 423/02 - Urteil vom 6. Februar 2003 (LG Frankenthal)

Vernehmung einer Vertrauensperson (Unerreichbarkeit; Sperrerklärung; audiovisuelle Vernehmung); Bestechung; Vorteilsannahme (Unrechtsvereinbarung; Bestimmtheit; überspannte Anforderungen); Beweiswürdigung (Darlegungsanforderungen beim Freispruch).

§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 54 StPO; § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO; § 331 StGB; § 332 StGB

1. Ein Zeuge ist nicht unerreichbar, wenn die Verteidigung im Beweisantrag eine bestimmte Person unter Angabe einer ladungsfähigen Anschrift als Zeuge benannt hatte. Die Vernehmung eines Zeugen ist nicht schon deshalb unzulässig, weil er mit der Vertrauensperson identisch ist, deren Identität die zuständige Innenbehörde unter Berufung auf § 96 StPO nicht hat preisgeben wollen. Auch eine rechtmäßige Sperrerklärung führt nicht zu einem Beweisverbot, sondern bedeutet nur, dass das mit der Sache befaßte Gericht die Weigerung der Behörde, die Identität eines Zeugen zu offenbaren, hinnehmen muss. Kennt das Gericht aber aus sonstigen Erkenntnisquellen die Identität des Zeugen, steht seiner Ladung und Vernehmung die Sperrerklärung nicht entgegen. Dies gilt auch dann, wenn in einem Beweisantrag eine bestimmte Person benannt ist und diese mit der Vertrauensperson identisch sein kann, auf die sich die vorliegende Sperrerklärung bezieht (vgl. BGHSt 39, 141, 144 f.).

2. Von der Vernehmung eines solchen namentlich genannten Zeugen darf jedoch abgesehen werden, soweit durch die Vernehmung Gefahr für Leib oder Leben des Zeugen droht. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hat das Gericht in eigener Verantwortung zu prüfen (vgl. BGH aaO S. 145).

3. Spricht das Gericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen frei, so sind die der Beweiswürdigung zugrunde liegenden wesentlichen Erwägungen in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise in den Urteilsgründen darzulegen (vgl. BGHSt 37, 21, 22). Die Anforderungen an eine umfassende Würdigung der festgestellten Tatsachen sind beim freisprechenden Urteil nicht geringer als im Fall der Verurteilung. Hat der Tatrichter die zur Verurteilung erforderliche Überzeugung vom Vorliegen eines äußeren oder inneren Tatmerkmals nicht gewonnen, müssen die Urteilsgründe in überprüfbarer Weise belegen, dass er die für die Schuld des Angeklagten sprechenden Beweisergebnisse ebenso wie entgegenstehende in ihrer Bedeutung zutreffend gewertet hat und dass die Anwendung des Zweifelssatzes auf der Grundlage einer umfassenden Gesamtwürdigung dieser Ergebnisse erfolgt ist (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 11).

4. Zur Verurteilung wegen Vorteilsannahme gemäß § 331 StGB a.F. genügt nicht schon die Feststellung der Annahme eines Vorteils durch den Amtsträger, und zwar auch dann nicht, wenn die Zuwendung mit Rücksicht auf seine Dienststellung oder aus Anlass oder bei Gelegenheit einer Amtshandlung erfolgt (vgl. BGHSt 39, 45, 46; BGH NStZ 1984, 24). Die Anforderungen an die Bestimmtheit der zu entgeltenden Diensthandlungen dürfen aber namentlich dann, wenn der Amtsträger den Vorteil um eines künftigen Verhaltens willen erhält, nicht überspannt werden. Es genügt, wenn unter den Beteiligten Einverständnis besteht, dass der Amtsträger innerhalb eines bestimmten Aufgabenbereichs oder Kreises von Lebensbeziehungen nach einer gewissen Richtung hin tätig werden soll und die ins Auge gefaßte Diensthandlungen dabei nach ihrem sachlichen Gehalt mindestens in groben Umrissen erkennbar und festgelegt ist (st. Rspr.: BGHSt 39, 45, 46/47; BGH NStZ 1999, 561). Für die Annahme dieser Voraussetzungen kann von Bedeutung sein, ob der Amtsträger nur für einen beschränkten Aufgabenkreis zuständig ist, welcher Art die Beziehungen des Vorteilsgebers zu der Dienststelle des Amtsträgers sind und ob die Interessen des Vorteilsgebers sich dem Aufgabenbereich des Amtsträgers zuordnen lassen (vgl. BGH aaO).


Entscheidung

BGH 1 StR 512/02 - Beschluss vom 16. Januar 2003 (LG Regensburg)

Anschluss des Nebenklageberechtigten (Zeitpunkt des Anschlusses); Hinweispflicht; Entpflichtung des Sachverständigen nach Erstattung des Gutachtens (Aufklärungspflicht; Ermessen; Sachkunde und Rechtskenntnisse); nemo tenetur-Grundsatz (keine belastende Verwertung des Verteidigungsverhaltens auch hinsichtlich der Sicherungsverwahrung).

§ 66 StGB; § 400 StPO; § 395 Abs. 4 Satz 1 StPO; § 265 StPO; § 76 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 83 Abs. 1 StPO; § 245 StPO; § 244 Abs. 2 StPO

1. Nach § 76 Abs. 1 Satz 2 StPO kann ein Sachverständiger zwar auch wegen mangelnder Sachkunde entbunden werden. Für eine Anwendung dieser Vorschrift auf Fallgestaltungen, bei denen sich die mangelnde Sachkunde erst nach Erstattung des Gutachtens herausstellt, besteht jedoch kein Raum: hierfür gilt § 83 Abs. 1 StPO.

2. Ob das Gericht verpflichtet ist, ein neues Gutachten einzuholen, kann revisionsrechtlich nur mit der Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO) oder der Verfahrensrüge wegen fehlerhafter Ablehnung eines entsprechenden Beweisantrages (§ 244 Abs. 4 Satz 2 2. Halbsatz StPO) beanstandet werden. Im Fall eines als ungenügend erachteten Gutachtens kann der Richter zwar aufgrund des ihm in § 83 Abs. 1 StPO eingeräumten Ermessens eine neue Begutachtung anordnen. Eine Pflicht hierzu besteht hingegen nur, wenn dies die Aufklärungspflicht gebietet (§ 244 Abs. 2 StPO) oder die Voraussetzungen des § 244 Abs. 4 Satz 2 2. Halbsatz StPO vorliegen. Wird die fehlende Sachkunde des Sachverständigen geltend gemacht, kann ein revisibler Verfahrensfehler nur in einer Verletzung von § 244 Abs. 2 oder Abs. 4 StPO liegen.

3. Wie bei der Strafzumessung darf zulässiges Verteidigungsverhalten auch im Zusammenhang mit Sicherungsverwahrung nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden (vgl. nur BGH StV 1993, 469), selbst wenn der Schuldspruch schon rechtskräftig ist (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Nachtatverhalten 4, 19 m. w.N.).

4. Beruht ein Gutachten eines Sachverständigen - den das Gericht gemäß § 78 StPO erforderlichenfalls (auch) in rechtlicher Hinsicht anzuleiten hat - auf rechtlich fehlerhaften Erwägungen und wirken diese im Urteil weiter, können sie dessen Bestand gefährden.

5. Der Nebenklageberechtigte kann sich dem Verfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluß (BGH NStZ-RR 1997, 136) in jeder Lage anschließen, § 395 Abs. 4 Satz 1 StPO; ob er zur Zeit des Anschlusses noch Rechtsmittel einlegen könnte, ist unerheblich. Um so weniger führt die Rechtskraft des Schuldspruchs zu einem Entzug der Befugnisse der Nebenklage aus einem früheren Anschluss.


Entscheidung

BGH 4 StR 540/02 - Beschluss vom 28. Januar 2003 (LG Münster)

Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen (Erforderlichkeit zur Ermittlung der Wahrheit; Aufklärungspflicht; erforderliche freibeweisliche Vorklärung).

§ 244 Abs. 2 StPO; § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO

Nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO kann ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen abgelehnt werden, wenn dessen Vernehmung nach pflichtgemäßem Ermessen zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Maßgebendes Kriterium dabei ist, ob die Erhebung des beantragten Beweises ein Gebot der Aufklärungspflicht ist (BGHSt 40, 60, 62; BGHR StPO § 244 Abs. 5 Satz 2 Auslandszeuge 9, 10).


Entscheidung

BGH 5 StR 27/03 - Beschluss vom 26. Februar 2003 (LG Bremen)

Körperverletzung mit Todesfolge (Fahrlässigkeit; Vorhersehbarkeit; objektive Zurechnung; Eigenverantwortlichkeit); Schuldspruchänderung ohne Änderung des Strafausspruchs im Ausnahmefall in entsprechender Anwendung von § 349 Abs. 2 und Abs. 4 StPO.

§ 21 StGB; § 49 Abs. 1 StGB; § 224 Abs. 1 StGB; § 213 StGB; § 227 StGB; § 18 StGB; § 349 Abs. 2 und Abs. 4 StPO

Schuldspruchänderung im ungewöhnlich gelagerten Ausnahmefall in entsprechender Anwendung von § 349 Abs. 2 und Abs. 4 StPO durch Beschluss, nachdem der Generalbundesanwalt die Verwerfung der Revision nach § 349 Abs. 2 StPO beantragt hat.