HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2002
3. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 4 StR 485/01 - Urteil vom 22. März 2002 (LG Essen)

BGHSt; BGHR; dienstliche Erklärung über Wahrnehmungen, eines erkennenden Richters aus einer früheren Hauptverhandlung; Beweiswürdigung (Inbegriff der Hauptverhandlung); Anfechtbarkeit der Einstellung wegen Geringfügigkeit; Verbrechen (Entfallen des Vorwurfs und Einstellung nach § 153 StPO); Strafklageverbrauch; Ausschluss des Richters bei Zeugenstellung (Beweisantrag; Unzulässigkeit); Gerichtskundigkeit (überschaubare Mitteilung gegenüber Wahrnehmungen in der früheren Hauptverhandlung).

§§ 22 Nr. 5, 250, 261 StPO; § 153 Abs. 2 Satz 4 StPO; Vor § 1, § 336 StPO; § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO

1. Äußert sich ein erkennender Richter in einer dienstlichen Erklärung über Wahrnehmungen, die er in einer früheren Hauptverhandlung gemacht hat, darf der Inhalt der dienstlichen Erklärung nicht für die Beurteilung der Schuld- und Straffrage im Rahmen der Beweiswürdigung verwertet werden (in Abgrenzung zu BGHSt 39, 239). (BGHSt)

2. Der gerichtliche Beschluss, mit dem ein Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt wird ist durch § 153 Abs. 2 Satz 4 StPO nicht jeglicher Anfechtung entzogen. Die Vorschrift ist vielmehr einschränkend dahin auszulegen, dass sich die Unanfechtbarkeit allein auf die Ermessensentscheidung bezieht, die Beschwerde jedoch dann gegeben ist, wenn eine prozessuale Voraussetzung für die Einstellung fehlte, etwa dann, wenn das Verfahren ein Verbrechen zum Gegenstand hat oder wenn eine erforderliche Zustimmung nicht erteilt worden ist. Dies gilt jedoch nur für den Angeklagten und die Staatsanwaltschaft, während dem Nebenkläger nach der Sondervorschrift des § 400 Abs. 2 Satz 2 StPO in keinem Falle ein Anfechtungsrecht zusteht. Diese Auffassung führt allerdings zu Wertungswidersprüchen. (Bearbeiter)

3. Nach § 336 Satz 2 StPO sind dem Urteil vorausgehende Entscheidungen, die das Gesetz ausdrücklich für unanfechtbar erklärt, der Beurteilung des Revisionsgerichts entzogen. Damit sind Beschlüsse der Oberlandesgerichte, auf die diese Voraussetzung nach § 304 Abs. 4 Satz 2 1. Halbs. StPO zutrifft, von § 336 Satz 2 StPO erfasst. Ist jedoch von einer § 336 Satz 2 StPO unterfallenden fehlerhaften Entscheidung eine Verfahrensvoraussetzung betroffen, die in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen festzustellen ist, hat das Revisionsgericht zu prüfen, ob die Mängel so gravierend sind, daß sie zur Nichtigkeit der Entscheidung führen. Ein solcher Ausnahmefall komm nur dann in Betracht kommt, wenn es unter Berücksichtigung der Belange der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens vom Standpunkt der Gerechtigkeit unerträglich wäre, die Entscheidung als verbindlichen Richterspruch hinzunehmen. Einem hiernach nicht aufzuhebenden Beschluss des OLG kommt konstitutive Wirkung zu. (Bearbeiter)

4. Um der missbräuchliche Herbeiführung des Ausschlusses nach § 22 Nr. 5 StPO zu begegnen, ist nach ständiger Rechtsprechung dem als Zeugen benannten Richter die Möglichkeit einzuräumen, in einer dienstlichen Erklärung dazu Stellung zu nehmen, ob er zu der behaupteten Beweistatsache etwas bekunden kann (vgl. BGHSt 44, 4, 9). Verneint er dies, so kann hierin genügend Grund zu Annahme liegen, die Aufrechterhaltung des Beweisantrages geschehe nur deshalb, um den Richter auszuschalten und das Gericht an der Ausübung seines Amtes zu hindern. Der Beweisantrag kann dann als unzulässig abgelehnt werden (BGHSt 7, 330; BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 1 Unzulässigkeit 4). Dienstliche Erklärungen der genannten Art, erfüllen nicht ohne weiteres die Voraussetzungen einer Zeugenaussage im Sinne des § 22 Nr. 5 StPO. Der Richter, der eine solche Erklärung abgibt, gerät damit noch nicht in die Zwangslage, seine eigenen Angaben im Vergleich mit anderen Zeugenaussagen einer Bewertung unterziehen zu müssen. (Bearbeiter)

5. Ob etwas anderes dann zu gelten hat und der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 2 StPO i.V.m. § 22 Nr. 5 StPO vorliegt, wenn das Gericht trotz Ablehnung der auf eine förmliche Zeugenvernehmung der erkennenden Richter gerichteten Beweisanträge den Inhalt der dienstlichen Erklärungen seiner Beweiswürdigung zugrundelegt, kann offen bleiben. (Bearbeiter)

6. Die Feststellung schuldrelevanter Tatsachen ist dem Freibeweis nicht zugänglich, sondern unterliegt den in den §§ 244 bis 265 StPO festgelegten Regeln des Strengbeweises, der dienstliche Erklärungen als Beweismittel nicht vorsieht (BGHSt 45, 354, 357). (Bearbeiter)

7. Aussageinhalte der in einer früheren Hauptverhandlung vernommenen Prozessbeteiligten können jedenfalls nicht als gerichtskundig behandelt werden, da es sich insoweit um Beweisergebnisse handelt, die auf komplexen, ausschließlich auf den Einzelfall bezogenen Wahrnehmungen des Richters beruhen (vgl. BGHSt 45, 354, 359). (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 3 StR 370/01 - Urteil vom 18. April 2002 (LG Düsseldorf)

Teilschweigen des Angeklagten (Begrenzung der möglichen nachteiligen Schlüsse); nemo tenetur; Schweigerecht; Darstellung der Ermittlungen (Aussagen) zur Ermöglichung der Revision bei Schlussfolgerungen zum Nachteil des Beschuldigten; Beweiswürdigung; Urteilsgründe.

§ 261 StPO; § 267 StPO; Art. 20 Abs. 3 GG

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kann es zwar von indizieller Bedeutung sein, wenn ein Angeklagter zu einem bestimmten, einheitlichen Geschehen Angaben macht und insoweit lediglich die Beantwortung bestimmter Fragen unterläßt (sog. Teilschweigen, vgl. BGHSt 45, 367, 369 f. m. w. N.). Das Schweigen bildet dann einen negativen Bestandteil seiner Aussage, die in ihrer Gesamtheit der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 261 StPO unterliegt (vgl. BGH NStZ 2000, 494, 495 m. w. N.). Entsprechendes kann gelten, wenn er nicht die Beantwortung an ihn gestellter Fragen verweigert, sondern zu einem Geschehen von sich aus nur lückenhafte Angaben macht. (Bearbeiter)

2. Macht ein Angeklagter Angaben zur Sache, wobei er einen bestimmten Punkt eines einheitlichen Geschehens von sich aus verschweigt, dürfen daraus für ihn nachteilige Schlüsse gezogen werden. Die Schlussfolgerung ist jedoch nur dann berechtigt, wenn nach den Umständen Äußerungen zu diesem Punkt zu erwarten gewesen wären, andere mögliche Ursachen des Verschweigens ausgeschlossen werden können und die gemachten Angaben nicht ersichtlich fragmentarischer Natur sind. (BGHR)

3. Der Hergang der Ermittlungen und insbesondere der Inhalt der früheren Angaben eines Angeklagten oder Zeugen müssen zwar grundsätzlich in den Urteilsgründen nicht dokumentiert werden. Solche Darstellungen erweisen sich, wenn sie für die Beweiswürdigung nicht von Bedeutung sind, als überflüssig und als vermeidbare Quelle von Rechtsfehlern (BGH NStZ-RR 1999, 272 m. w. N.). Wird aber aus dem Aussageverhalten ein bestimmter Schluss gezogen, so ist dieses in der Weise darzustellen, dass die Berechtigung dieser Folgerung nachvollziehbar ist. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 1 StR 557/01 - Beschluss vom 12. März 2002 (LG Deggendorf)

Befangenheit eines Schöffen (Ablehnungsantrag; Presseberichte über angebliche Äußerungen eines Schöffen; ursprünglich berechtigtes aber durch Ermittlungen ausgeräumtes Misstrauen; Besorgnis der Befangenheit; persönliche ungeheuerliche Vorwürfe gegenüber dem Verteidiger); Sicherungsverwahrung (Gefährlichkeitsprognose und Prozessverhalten); Sachverständigenbeweis und ungeeigneter Zeugenbeweis; Beweiswürdigung

§ 66 StGB; § 338 Nr. 3 StPO; §§ 24, 26, 30 StPO; §§ 48, 72, 242 StPO

1. Ursprünglich berechtigtes Misstrauen gegen die Unbefangenheit einer Schöffin wegen eines Pressezitats kann durch ein widerspruchsfreies Ergebnis der Ermittlungen zu dem Pressezitat ausgeräumt werden (vgl. BGHSt 4, 264, 269, 270).

2. Die Besorgnis der Befangenheit eines Schöffen folgt nicht allein daraus, dass er sich den rechtlich erheblichen Unterschied zwischen Befangenheit und Besorgnis der Befangenheit nicht vergegenwärtigt hat.

3. Ungeheuerliche Vorwürfe gegenüber dem Verteidiger, können eine Voreingenommenheit gegen den Angeklagten besorgen lassen. Ein ungeheuerlicher Vorwurf liegt nicht vor, wenn Hinweise auf vorhergehende Verfahrensvorgänge an denen der Verteidiger beteiligt war, in tatsächlicher Hinsicht im Kern nicht falsch sind. Ein in diesem Zusammenhang unterlaufener Irrtum ist unwesentlich und daher ebenfalls kein Anzeichen für Befangenheit.

4. Ein Zeuge kann grundsätzlich nur über seine eigenen Wahrnehmungen vernommen werden (BGHSt 39, 251, 253). Er ist als Beweismittel völlig ungeeignet, wenn er nicht über die besondere Befähigung verfügt, die zur Wahrnehmung eines Vorgangs erforderlich ist, der nur einem Sachverständigen verständlich werden kann.

5. Eine bindende Beweisregel des Inhalts, dass einem Zeugen, der zu anderen Punkten vorsätzlich die Unwahrheit ausgesagt hat, generell nicht geglaubt werden dürfe, besteht jedoch nicht (BGH StV 1999, 80, 81). Falschbelastungen sind hinsichtlich ihrer Indizwirkung für die Persönlichkeit des Aussagenden schwerwiegender als eine falsche entlastende Aussage.

6. Die Gefährlichkeitsprognose bei der Sicherungsverwahrung kann nicht auch mit dem Prozessverhalten des Angeklagten begründet werden (vgl. BGH StV 1993, 469). Es ist aber nicht zu beanstanden, wenn ein Gericht dargelegt, dass auch das Prozessverhalten keinen Anlass gibt, die Gefährlichkeitsprognose in Zweifel zu ziehen.


Entscheidung

BGH 2 AR 127/02 - Beschluss vom 15. Mai 2002 (AG Bergheim)

Verfahrensverbindung; Vorlagevoraussetzungen (örtliche Zuständigkeit; keine Anrufung des gemeinsamen oberen Gerichts).

§ 4 StPO; § 13 Abs. 2 StPO

Die Verbindung nach § 13 Abs. 2 StPO erfolgt durch Anträge der beteiligten Staatsanwaltschaften, die sich also über die Verbindung einig sein müssen, nicht durch eine entsprechende Vereinbarung der beteiligten Gerichte. Dem Erfordernis der Antragstellung ist genügt, wenn jede der beteiligten Staatsanwaltschaften der Verbindung ausdrücklich zustimmt. Die Vereinbarung besteht in einem förmlichen Abgabebeschluss (BGH NStZ 1982, 294) und einem darauf folgenden förmlichen Übernahmebeschluss. Durch die Entscheidung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts kann die Übereinstimmung der zuständigen Staatsanwaltschaften nicht ersetzt werden (BGHSt 21, 247, 249). Von den beteiligten Gerichten kann das gemeinschaftliche obere Gericht nicht angerufen werden.


Entscheidung

BGH 3 StR 79/02 - Beschluss vom 18. April 2002 (LG Itzehoe)

Beschleunigungsgrundsatz; rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (rechtsstaatliche Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems; Gesamtbetrachtung; einzelne Verfahrensabschnitte; Ausgleich; Gesamtdauer).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 46 Abs. 2 StGB

Die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK setzt voraus, dass die Sache insgesamt nicht in angemessener Frist verhandelt worden ist, wobei eine gewisse Untätigkeit innerhalb eines einzelnen Verfahrensabschnittes dann nicht zu einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK führt, wenn dadurch die Gesamtdauer des Verfahrens nicht unangemessen lang wird (BGH MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 9).


Entscheidung

BGH 1 StR 540/01 - Beschluss vom 3. April 2002 (LG Konstanz)

Unmittelbarkeit (Zeuge vom Hörensagen; Inhalt abgehörter fremdsprachlicher Telefongespräche; Erforderlichkeit der Vernehmung des Übersetzers abgehörter Telefongespräche); Beweiswürdigung; Reichweite der Aufklärungspflicht; erweiterter Verfall

§ 250 StPO; § 261 StPO; § 73 StGB; § 73 d StGB

Der Zeuge vom Hörensagen ist unter dem Gesichtspunkt der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 250 StPO), aber auch unter dem der ordnungsgemäßen Beweiserhebung als solcher (§ 261 StPO) grundsätzlich ein zulässiges Beweismittel. Handelt es sich hingegen um den Beweis eines Vorganges, dessen wahrheitsgemäße Wiedergabe nur durch eine Person möglich ist, welche ihn selbst wahrgenommen hat; ist dem Gericht die Ersetzung dieses Beweismittels verwehrt (vgl. BGHSt 27, 135, 137).