HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2001
2. Jahrgang
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IV. Nebenstrafrecht, Haftrecht und Jugendstrafrecht


Entscheidung

BGH 3 StR 191/01 - Urteil vom 22. August 2001 (LG Oldenburg)

Betrug; Verleitung zu Börsenspekulationen (Telefonvertrieb); Kausalität (Mitursächlichkeit); Unerfahrenheit; Strafzumessung bei Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes; Verwarnung mit Strafvorbehalt; Berechnung des Vermögensschadens bei Optionsgeschäften

§ 263 StGB; § 89 Abs. 1 BörsenG; § 46 StGB; § 59 StGB; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK

1. "Unerfahren" im Sinne des § 89 Abs. 1 Börsengesetz ist eine zum Abschluß eines Börsenspekulationsgeschäftes verleitete Person dann, wenn sie infolge fehlender Einsicht die Tragweite des konkreten Spekulationsgeschäfts in seiner ganzen Bedeutung nicht verläßlich überblicken kann, wobei es auf die Verhältnisse des Einzelfalls ankommt. Dabei kann aus der Tatsache allein, daß ein Anleger bereits vorher bei Warenterminoptionsgeschäften Kapitalverluste erlitten hatte oder sich allgemein der Möglichkeit von Verlusten bewußt war, nicht auf die Einsicht in deren Funktionsweise und grundlegenden Prinzipien geschlossen werden. Dabei kann es ein Indiz für ihre Unerfahrenheit sein, daß sie trotz der vorangegangenen, verlustreichen Optionsgeschäfte nochmals Optionen gekauft haben, die kaum eine realistische Gewinnchance boten (vgl. BGHR BörsenG § 89 Unerfahrenheit 1).

2. Der Verleitung eines Anlegers zur Börsenspekulation steht nicht entgegen, daß dieser Optionen aufgrund der ihm vom Angeklagten vorgetäuschten guten Gewinnchancen, aber auch aus Neugier gekauft hat, weil die Mitursächlichkeit für den Erwerb genügt.

3. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt gemäß § 59 StGB hat Ausnahmecharakter und gilt in der Regel nur für den unteren Kriminalitätsbereich. Dabei sind die Voraussetzungen des § 59 Abs. 1 Nr. 2 StGB nur dann gegeben, wenn bestimmte Umstände die zu beurteilende Tat von den Durchschnittsfällen deutlich abheben und diesen gegenüber das Tatunrecht, die Schuld und die Strafbedürftigkeit wesentlich mindern, und deshalb einen Verzicht auf die Verurteilung angezeigt erscheinen lassen. Die lange Verfahrensdauer kann dabei ein besonderer Umstand sein. Sie stellt allerdings nicht ohne weiteres einen "besonderen Umstand" im Sinne des § 59 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar (vgl. BGHSt 27, 274, 275 f.)

4. Der Betrugsschaden im Sinne einer Vermögensgefährdung kann bei Optionsgeschäften aus der Differenz zwischen der erhobenen Gebühr (Aufschlag auf die Börsenprämie) und einer angemessenen, marktüblichen Provision der Originalbeschaffungskosten (plazierte Börsenprämie zuzüglich Brokerkommission) errechnet werden. Der Vermögensschaden der Anleger besteht dagegen nicht in Höhe des gezahlten Optionspreises, wenn die Optionen nicht völlig wertlos waren (vgl. BGHSt 32, 22, 23 ff.; BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 26; a.A. noch BGHSt 31, 115).

5. Einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK kommt neben dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil sowie den Belastungen durch eine lange Verfahrensdauer bei der Strafzumessung eine eigenständige Bedeutung von Gewicht zu (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13 und MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 12).


Entscheidung

BGH 1 StR 211/01 - Urteil vom 9. August 2001 (LG München I)

BGHR; Anwendung von Jugendstrafrecht oder von allgemeinem Strafrecht bei einem heranwachsenden Gewalttäter; Schwere dissoziale und emotionale Persönlichkeitsstörung; Zweifeln an weiteren Entwicklungsfortschritten; Unbehebbare Entwicklungsrückstände; Gründe von ganz besonderem Gewicht; Nachreifung; Erörterungsmangel (Beweiswürdigung); Aufklärungspflicht; Zweifelsgrundsatz; Schwachsinn; Erziehung Erwachsener

§ 105 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 JGG; § 31 Abs. 3 JGG; § 244 Abs. 2 StPO; § 20 StGB; Art. 2 Abs. 1 GG

1. Zur Anwendung von Jugendstrafrecht oder von allgemeinem Strafrecht bei einem heranwachsenden Gewalttäter mit schwerer dissozialer und emotionaler Persönlichkeitsstörung und daraus entstehenden Zweifeln an weiteren Entwicklungsfortschritten. (BGHR)

2. Ob ein Heranwachsender bei seiner Tat im Sinne des § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG noch einem Jugendlichen gleichstand, ist im wesentlichen Tatfrage, wobei dem Jugendrichter ein erheblicher Beurteilungsspielraum eingeräumt ist (vgl. BGHSt 36, 37). Das Jugendgerichtsgesetz geht bei der Beurteilung des Reifegrades nicht von festen Altersgrenzen aus, sondern es stellt auf eine dynamische Entwicklung des noch jungen Menschen in dem Lebensabschnitt vom 18. bis zum 21. Lebensjahr ab. Einem Jugendlichen gleichzustellen ist der noch ungefestigte, in der Entwicklung stehende, noch prägbare Heranwachsende, bei dem Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam sind. Hat der Täter dagegen bereits die einen jungen Erwachsenen kennzeichnende Ausformung erfahren, dann ist er nicht mehr einem Jugendlichen gleichzustellen und auf ihn ist das allgemeine Strafrecht anzuwenden. Dabei steht die Anwendung von Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht nicht im Verhältnis von Regel und Ausnahme. § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG stellt keine Vermutung für die grundsätzliche Anwendung des einen oder anderen Rechts auf. Nur wenn der Tatrichter nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten Zweifel nicht beheben kann, muß er die Sanktionen dem Jugendstrafrecht entnehmen (BGHSt aaO S. 40). (Bearbeiter)

3. Nach der Entscheidung des Senats in BGHSt 22, 41, 42 kann die Anwendung des Jugendstrafrechts ausnahmsweise auch dann ungerechtfertigt sein, wenn der Heranwachsende in dieser Phase seine Entwicklung bereits abgeschlossen hat, selbst wenn er noch einem Jugendlichen gleichsteht. Kann nicht mehr erwartet werden, daß er über die erreichte Entwicklungsstufe hinaus gelangt und die im Jugendstrafrecht vorgesehenen Rechtsfolgen bei ihm nicht mehr wirksam werden können, ist auf ihn Erwachsenenstrafrecht anzuwenden. (Bearbeiter)

4. Eine die Chancen jeder Nachreifung gering achtende, pessimistische Prognose völliger Entwicklungsunfähigkeit bereits in der Lebensphase zwischen dem 18. und dem 21. Lebensjahr kann nur auf Grund einer Zusammenschau aller für die gesamte Entwicklung maßgeblichen tatsächlichen Umstände und nur ausnahmsweise mit Sicherheit gestellt werden. Liegen über das tatgegenständliche schwere Tötungsdelikt hinaus weitere erhebliche Gewalthandlungen vor und stehen Erkenntnisse über den Umgang mit Aggression und Gewalt auch aus den Entwicklungsphasen als junger Erwachsener zur Verfügung, so sind diese Umstände vollständig heranzuziehen und vertieft zu würdigen, bevor ausnahmsweise die weittragende Diagnose unbehebbarer Entwicklungsrückstände ausgesprochen werden kann.

5. Nach der Rechtsprechung des Senats kann in Ausnahmefällen neben einer gesetzlichen Höchststrafe eine andere Jugendstrafe nach § 31 Abs. 3 JGG bestehenbleiben (BGHSt 36, 37, 42).

6. Dem Grundgesetz ist für den besonderen Bereich des Jugendstrafrechts keine absolute Grenze für die Verhängung einer Jugendstrafe zu entnehmen.

7. Für die Anwendung des § 31 Abs. 3 JGG müssen im Einzelfall Gründe vorliegen, die unter dem Gesichtspunkt einer Erziehung eines jungen Erwachsenen von ganz besonderem Gewicht sind (so schon BGH NStZ 1985, 410) und zur Verfolgung dieses Zweckes über die üblichen Strafzumessungsgesichtspunkte hinaus das Nebeneinander zweier Jugendstrafen notwendig erscheinen lassen.


Entscheidung

BGH 4 StR 115/01 - Urteil vom 9. August 2001 (LG Frankenthal)

Vorliegen schädlicher Neigungen (Feststellung bei einer schweren Anlaßtat); Jugendstrafe; Schwere der Schuld

§ 17 JGG

1. Unter schädlichen Neigungen sind erhebliche - seien es anlagebedingte, seien es durch unzulängliche Erziehung oder Umwelteinflüsse bedingte - Mängel zu verstehen, die ohne längere Gesamterziehung die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten in sich bergen, die nicht nur gemeinlästig sind oder den Charakter von Bagatelldelikten haben (st. Rspr., vgl. BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 5 m.w.N). Sie können sich auch schon in der ersten Straftat des Jugendlichen zeigen. Es bedarf dann aber regelmäßig der Feststellung von Persönlichkeitsmängeln, die wenn auch verborgen schon vor der Tat entwickelt waren, auf sie Einfluß gehabt haben und weitere Taten befürchten lassen (vgl. BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 3, 7).

2. Bei einer schwer wiegenden Tat sind die Anforderungen an die schon vor der Tatbegehung entwickelten Persönlichkeitsmängel, auch dann, wenn es sich um die erste Straftat handelt, nicht zu hoch anzusetzen. Wer die hohe Hemmschwelle bei Tötungsdelikten überwindet, wird in aller Regel, wenn die Tat nicht durch außergewöhnliche Umstände geprägt ist, erhebliche Persönlichkeitsmängel aufweisen, die Anlaß zu der Befürchtung weiterer gravierender Straftaten geben und - unabhängig davon, daß auch die Schwere der Schuld Jugendstrafe rechtfertigt - die Ahndung nur mit Zuchtmitteln als nicht ausreichend und verfehlt erscheinen ließen.