HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2001
2. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

BGH 5 StR 259/01 - Beschluß vom 7. August 2001 (LG Berlin)

BGHSt; Beihilfe; Anstiftung; Mauerschützen; Vergatterung von Soldaten, Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze; Totschlag; Vermeidbarer Verbotsirrtum; Bestimmen; Versuchte Anstiftung; Mittelbare Täterschaft

§ 27 StGB; § 212 StGB; § 26 StGB; § 17 StGB; § 30 StGB

1. Vergatterung von Soldaten an der innerdeutschen Grenze vor befehlsgemäßem tödlichen Schußwaffengebrauch gegen einen unbewaffneten Flüchtling ist als Beihilfe zum Totschlag strafbar. (BGHSt)

2. Wer an der Durchsetzung des Grenzregimes der DDR mit der darin enthaltenen offensichtlich menschenrechtswidrigen Anweisung zu notfalls tödlichem Schußwaffengebrauch durch verantwortliche Gestaltung der maßgeblichen Befehle mitgewirkt hat, ist für den tödlichen Schußwaffengebrauch nach dem regelmäßig milderen Recht der Bundesrepublik Deutschland als mittelbarer Täter, nach dem Recht der DDR als Anstifter verantwortlich (BGHSt 40, 218; 45, 270). Nicht mittelbarer Täter bzw. Anstifter ist dagegen, wer die maßgeblichen Befehle durch eine Vergatterung lediglich aktualisiert. (Bearbeiter)

3. Mit der Vergatterung oder ihrer Veranlassung hat der Beschwerdeführer - in Befolgung und Förderung der allgemeinen Befehlslage - die unmittelbaren Täter in ihrem zuvor bereits anderweits geweckten Tatentschluß lediglich maßgeblich bestärkt (vgl. auch BGHR StGB § 26 - Bestimmen 3). (Bearbeiter)

4. Ein über die bloße Vergatterung hinausgehenden konkreten Befehl in der aktuellen Situation des unmittelbar bevorstehenden Schußwaffengebrauchs würde zu abweichender Beurteilung veranlassen (vgl. BGHSt 42, 65, 68 ff.). (Bearbeiter)

5. Die Entscheidung des Senats hat die Konsequenz, daß Fälle der Vergatterung ohne anschließenden tödlichen Schußwaffengebrauch nicht etwa nach Vorschriften über versuchte Anstiftung oder nach wehrstrafrechtlichen Spezialnormen (vgl. BGHR StGB § 25 Abs. 1 - Mittelbare Täterschaft 6) strafbar sind. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 3 StR 231/01 - Beschluß vom 15. August 2001 (LG Oldenburg)

Unterlassene Prüfung eines möglichen strafbefreienden Rücktritts; Beweiswürdigung; Beendeter, unbeendeter Versuch; Korrigierter Rücktrittshorizont; Zweifelsgrundsatz

§ 24 StGB; § 261 StPO

1. Erkennt der Täter im unmittelbaren Zusammenhang mit der letzten Ausführungshandlung seine Vorstellung als irrig, so erlangt die an der wahrgenommenen Wirklichkeit korrigierte Vorstellung für den Rücktrittshorizont maßgebliche Bedeutung (BGHSt 36, 224). Deshalb bedürfen in einem solchen Fall die Vorstellungen des Täters besonders eingehender Erörterung (vgl. BGHR StGB § 24 1 Satz 1 Versuch, unbeendeter 31, 33).

2. Aus nur möglichen, im Zweifel gebliebenen Umständen darf nichts zu Lasten des Angeklagten hergeleitet werden, auch nicht die Möglichkeit eines Rücktritts ausgeschlossen werden.

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

BGH 5 StR 92/01 - Urteil vom 3. September 2001 (LG Hamburg)

Rechtsbeugung (Anwendung von Verfahrensvorschriften; Ermessensmißbrauch; Verschleppungsabsicht); Beschleunigungsgrundsatz (Verbot rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung bei Haftsachen); Freiheitsberaubung; Unterlassen; Ordnungshaft; Beschwerde; Nachteil; Rechtsweggarantie; Rechtsstaatsprinzip; Rechtsbruch; Beweiswürdigung; Richterliche Unabhängigkeit; Anordnung der aufschiebenden Wirkung

§ 339 StGB; § 239 StGB; § 13 StGB; Art. 97 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 182 GVG; § 306 Abs. 2 StPO; § 261 StPO; § 307 Abs. 2 StPO; Art. 5 Abs. 4 MRK; Art. 6 Abs. 1 MRK

1. Zögerliche Bearbeitung einer Rechtssache innerhalb eines objektiv vertretbaren Zeitraums ist Rechtsbeugung, wenn der Richter mit seiner Verfahrensweise aus sachfremden Erwägungen gezielt zum Vorteil oder zum Nachteil einer Partei handelt. (BGHSt) In einem solchen Fall wären zwar die äußeren Schranken des dem Richter für die Bearbeitung von Rechtssachen in zeitlicher Hinsicht eingeräumten Ermessens eingehalten, so daß eine Ermessensüberschreitung ausgeschlossen wäre. Es läge jedoch ein Ermessensmißbrauch durch Überschreitung der inneren Schranken des Ermessens vor. (Bearbeiter)

2. Nach ständiger Rechtsprechung stellt nicht jede unrichtige Rechtsanwendung eine Beugung des Rechts im Sinne von § 339 StGB dar. Nur der Rechtsbruch als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege soll unter Strafe gestellt sein. Rechtsbeugung begeht daher nur der Amtsträger, der sich bewußt und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt. Selbst die (bloße) Unvertretbarkeit einer Entscheidung begründet eine Rechtsbeugung nicht (st. Rspr.).

3. Rechtsbeugung kann nicht nur in Form von Sachentscheidungen, sondern auch durch einen Verstoß gegen Verfahrensrecht begangen werden kann (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 42, 343 m.w.N.). Zu den wesentlichen Grundprinzipien des Strafverfahrensrechts zählt das unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 GG und der allgemeinen prozessualen Fürsorgepflicht abzuleitende als Beschleunigungsgebot bezeichnete Verbot rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung.

4. Das Prinzip, daß Haftsachen besonders zügig zu bearbeiten sind, gilt auch bei der Anordnung von Ordnungshaft nach § 178 Abs. 1 Satz 1, 2. Alternative GVG. Rechtsbeugung durch Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot ist auch im Bereich der Ordnungshaft nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

5. Das Interesse an einer wirksamen Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit gebietet es, auch die der Rechtsfindung nur mittelbar dienenden, sie vorbereitenden und ihr nachfolgenden Sach- und Verfahrensentscheidungen in den Schutzbereich richterlichen Wirkens über dessen Kernbereich hinaus einzubeziehen (BGHZ 90, 41, 45). Da eine Strafandrohung, zumal in Form eines Verbrechenstatbestandes, noch weit mehr als eine Maßnahme der Dienstaufsicht geeignet sein wird, den Richter in seinem Verhalten zu beeinflussen, darf auch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten eine Überprüfung richterlicher Tätigkeit am wenig konkreten Maßstab des Beschleunigungsgebots nicht zu einer grundlegenden Beeinträchtigung der sachlichen Unabhängigkeit des Richters führen.

6. Bei der Auslegung des Rechtsbeugungstatbestandes ist darauf Bedacht zu nehmen, daß die richterliche Unabhängigkeit gewahrt bleibt. Bei der Entscheidung der Frage, ob in der verzögerten Bearbeitung einer Rechtssache ein Rechtsbruch im Sinne des § 339 StGB liegen kann, ist davon auszugehen, daß es grundsätzlich dem Richter überlassen bleibt, welchem der von ihm zu erledigenden vielfältigen Dienstgeschäfte er den Vorrang vor anderen einräumt, welche Mittel er im Einzelfall für die Förderung einer Rechtssache geeignet hält und welche Gründlichkeit er der Sachbearbeitung widmet. An bestimmte Dienstzeiten ist er dabei nicht gebunden (BVerwGE 78, 211, 213).

7. Ein dem Richter im Grundsatz zuzubilligender großzügiger Ermessensspielraum bei der Einteilung seiner Dienstgeschäfte schließt strafrechtlich relevante Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot nicht in jedem Fall aus. Sie werden insbesondere dann in Betracht kommen, wenn der Richter gegen zwingende Vorschriften verstößt, in denen der Gesetzgeber - wie beispielsweise in § 115 StPO - das allgemeine Beschleunigungsgebot konkretisiert hat oder wenn der Richter untätig bleibt, obwohl besondere Umstände sofortigen Handeln - etwa die Veranlassung der Freilassung eines Inhaftierten nach Aufhebung des Haftbefehls - zwingend gebieten.

8. Da richterliche Entscheidungen, gegen die eine Beschwerde möglich ist, Sachverhalte unterschiedlicher Art betreffen und mehr oder minder schwere Eingriffe in die Rechtssphäre der Beschwerdeführer zum Gegenstand haben, können besondere Umstände eine Weiterleitung der Beschwerden vor Ablauf der Frist im Ausnahmefall allerdings gleichwohl erfordern. Die drohende vollständige Vollstreckung einer angeordneten Freiheitsentziehung kann für sich allein keine Pflicht zum sofortigen Tätigwerden begründen. Grundsätzlich bleibt auch in diesen Fällen dem Richter ein Spielraum für die Einteilung seiner dienstlichen und - weil er an feste Dienstzeiten nicht gebunden ist (vgl. BVerwGE 78, 211, 213) - auch seiner privaten Angelegenheiten.


Entscheidung

BGH 1 StR 167/01 - Urteil vom 4. September 2001 (LG Stuttgart)

Nötigung; Schwere räuberische Erpressung; Begriff des Vermögens (Unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln); Betrug; Vermögensschaden (Erbrachte Geldleistung im Rahmen eines verbotenen oder sittenwidrigen Geschäftes und Ausbleiben der vereinbarten Gegenleistung); Tateinheit; Versuch; Beendigung; Vollendung

§ 255 StGB; § 253 StGB; § 240 StGB; § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB; § 263 StGB; § 52 StGB; § 22 StGB

1. Wer einen Rauschgifthändler mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zur Herausgabe von Drogen nötigt, um sich zu Unrecht zu bereichern, macht sich nicht der Nötigung, sondern der räuberischen Erpressung schuldig kann (BGHR BtMG § 29 1 Nr. 1 Sichverschaffen 2, vgl. auch BGHR StGB § 263 1 Versuch 1).

2. Die Rechtsordnung kennt im Bereich der Vermögensdelikte kein wegen seiner Herkunft, Entstehung oder Verwendung schlechthin schutzunwürdiges Vermögen (vgl. BGHSt 8, 254, 256; BGH NStZ-RR 1999, 184, 185 f.). Auch an Sachen wie Rauschgift, die jemand aufgrund einer strafbaren Handlung besitzt und als Tatmittel zur Begehung geplanter Straftaten bereitstellt, kann unbeschadet ihrer Zweckbestimmung oder Bemakelung Erpressung und Betrug begangen werden.

3. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß derjenige einen Vermögensschaden erleidet, der eine Geldleistung im Rahmen eines verbotenen oder sittenwidrigen Geschäftes erbringt, ohne die vereinbarte Gegenleistung zu erhalten. Betrug ist daher auch möglich beim unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (vgl. BGH bei Holtz, MDR 1979, 806).

4. Wird unmittelbar anschließend nach einem vollendeten Betrug das Mittel der Gewalt eingesetzt, um das Opfer davon abzuhalten, sein Rückgabeverlangen durchzusetzen, (vgl. auch BGHSt 25, 224, 226; BGHR StGB § 263 1 Versuch 1 m.w.N.;), findet auch der Erpressungstatbestand Anwendung. Dabei liegt Tateinheit zwischen Betrug und Erpressung vor, weil der Betrug zwar vollendet, aber noch nicht beendet war.