HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 277
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 227/23, Beschluss v. 15.08.2023, HRRS 2024 Nr. 277
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 16. Dezember 2022 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).
Das Landgericht hat - soweit für die Verurteilung von Bedeutung - folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Im Verlauf des Tatabends tauschten der Angeklagte und der Geschädigte im Rahmen der zwischen ihnen bestehenden Streitigkeiten massive Beschimpfungen aus. Unter anderem versandte der Angeklagte eine Sprachnachricht an den Geschädigten mit dem Wortlaut: „Ich weiß, dass du nicht mehr leben willst, dabei werde ich dir helfen“. Zu dem in der Folge verabredeten Treffpunkt in der B. Innenstadt fuhren der Angeklagte und sein Bruder mit einem Pkw, der auf die Lebensgefährtin des Angeklagten zugelassen war. Der Angeklagte befand sich auf der Rücksitzbank des Fahrzeugs und dirigierte seinen Bruder, der das Fahrzeug führte, zu dem Aufenthaltsort des Geschädigten.
In Ausführung des zuvor an diesem Abend mit dem Angeklagten gefassten Tatplans, den Geschädigten zu töten, beschleunigte der Bruder des Angeklagten das Fahrzeug, als sie den Geschädigten auf dem Bürgersteig vor einem Gebäude entdeckten. Der Bruder des Angeklagten fuhr sodann mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 bis 25 km/h in der Absicht auf den Geschädigten zu, diesen mit dem Fahrzeug zu erfassen bzw. gegen die nahegelegene Hauswand zu quetschen. Der Angeklagte und sein Bruder erkannten, dass der Geschädigte dabei möglicherweise tödliche Verletzungen erleiden könnte; sie nahmen dies jedoch mindestens billigend in Kauf. Der Geschädigte konnte auf die Motorhaube des Pkw springen und sich abrollen; er blieb unverletzt und ergriff die Flucht.
2. Das Landgericht hat das Geschehen als versuchten Totschlag in Tateinheit mit schwerem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 212 Abs. 1, § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, § 315 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a), §§ 22, 23, 52 StGB gewertet. Den Angeklagten hat es wegen seines erheblichen Tatinteresses und seines Tatbeitrages (Zur-Verfügung-Stellen des Fahrzeugs; Weitergabe des Standorts des Geschädigten an seinen Bruder; Anwesenheit im Fahrzeug) als Mittäter sowohl des versuchten Tötungsdelikts als auch des schweren gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr angesehen.
Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge ergibt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten. Auch die Verurteilung wegen des tateinheitlichen schweren gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, § 315 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a) StGB hält revisionsrechtlicher Nachprüfung stand. Dabei ist die Strafkammer in rechtlicher Hinsicht zutreffend davon ausgegangen, dass auch im Falle eines sog. verkehrsfeindlichen Inneneingriffs ein mittäterschaftliches Handeln im Sinne von § 25 Abs. 2 StGB in Betracht kommen kann.
1. Ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 StGB liegt vor, wenn durch eine der in den Nummern 1 bis 3 genannten Tathandlungen eine Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs herbeigeführt worden ist und sich diese abstrakte Gefahrenlage zu einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert verdichtet hat (vgl. BGH, Beschluss vom 13. April 2017 - 4 StR 581/16 Rn. 3, Urteil vom 4. Dezember 2002 - 4 StR 103/02 Rn. 17). Dabei kann § 315b Abs. 1 StGB auch mittels eines Kraftfahrzeugs im Rahmen von Verkehrsvorgängen im fließenden Verkehr verwirklicht werden (sog. Inneneingriff). Dies setzt aber voraus, dass das Fahrzeug in verkehrsfeindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig eingesetzt wird und der Täter das Fahrzeug mit mindestens bedingtem Schädigungsvorsatz - etwa als Waffe oder Schadenswerkzeug - missbraucht. Erst dann liegt eine über den Tatbestand der Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c StGB hinausgehende und davon abzugrenzende verkehrsatypische „Pervertierung“ eines Verkehrsvorgangs zu einem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr im Sinne des § 315b Abs. 1 StGB vor (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 2003 - 4 StR 228/02, BGHSt 48, 233, 237; Beschluss vom 6. Juni 2023 ‒ 4 StR 70/23 Rn. 10 mwN).
2. Ein verkehrsfeindlicher Inneneingriff kann auch durch einen Mitfahrer eines Kraftfahrzeugs in Mittäterschaft begangen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Juni 2013 - 4 StR 145/13 Rn. 8 f. zu § 315b Abs. 1 Nr. 2 StGB; siehe auch OLG Hamm, Beschluss vom 31. Januar 2017 - 4 RVs 159/16, NStZ-RR 2017, 224). § 315b Abs. 1 StGB stellt kein eigenhändiges Delikt dar, bei dem der Täter nur durch ein eigenes Handeln persönlich den Tatbestand erfüllen kann.
a) Ein eigenhändiges Delikt ist dadurch gekennzeichnet, dass die Täterschaft an eine bestimmte Ausführungshandlung gebunden ist, sodass das maßgebliche Unrecht in einem eigenen verwerflichen Tun liegt und nicht in erster Linie aus der Gefährdung oder Verletzung eines Rechtsguts hergeleitet wird (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2021 - 4 StR 511/20, BGHSt 66, 294 Rn. 22 mwN). Ob dies der Fall ist, ist mit Rücksicht auf die Fassung des gesetzlichen Tatbestands sowie mit Blick auf den Zusammenhang der einschlägigen Gesetzesbestimmungen und die Entstehungsgeschichte zu entscheiden (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2020 - 5 StR 37/20, NJW 2020, 2201 Rn. 9; Urteil vom 25. Juni 1954 - 2 StR 298/53 Rn. 6, BGHSt 6, 226, 227; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Abschn. 21 Rn. 19 und 21; Auerbach, Die eigenhändigen Delikte, 1978, S. 26 ff.).
b) Gemessen hieran setzt der gefährliche Eingriff in den Straßenverkehr nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB auch in der Fallgruppe des verkehrsfeindlichen Inneneingriffs kein eigenhändiges Führen eines Kraftfahrzeugs voraus.
aa) Nach dem Wortlaut des § 315b Abs. 1 StGB kann die Sicherheit des Straßenverkehrs von jedermann beeinträchtigt werden. Die Tathandlungen der Nummern 1 bis 3 knüpfen - anders als diejenigen des § 315c StGB - nicht an ein tatbestandlich umschriebenes Verhalten an, das nur eigenhändig verwirklicht werden kann (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 31. Januar 2017 - 4 RVs 159/16, NStZ-RR 2017, 224; Kudlich in BeckOK-StGB, 59. Ed., § 315b Rn. 38; Pegel in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 315b Rn. 60; Renzikowski in Matt/Renzikowski, 2. Aufl., § 315b Rn. 23; Quarch in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 315b Rn. 8).
bb) Auch in der Fallkonstellation des verkehrsfeindlichen Inneneingriffs setzt § 315b Abs. 1 StGB allein die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale aus einer der Alternativen des § 315b Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StGB voraus. Der spezifische Unrechtsgehalt der Tat liegt dabei darin, dass das Fahrzeug nicht (mehr) als Mittel der Fortbewegung dient, sondern im fließenden Verkehr - gleich einem Fremdkörper - zur Verletzung oder Nötigung eines anderen eingesetzt wird (vgl. Wolters in SK-StGB, 10. Aufl., § 315b Rn. 26; SSW/Ernemann, 5. Aufl., § 315b Rn. 21; König in LK-StGB, 13. Aufl., § 315b Rn. 92; Zieschang in NK-StGB, 6. Aufl., § 315b Rn. 8; a. A. ohne nähere Begründung Kuckuk, KVR, Kraftverkehrsrecht von AZ, Schlagwort Verkehrsgefährdung Hindernisbereiten Erläuterungen 1, S. 21). Dies hat zur Folge, dass es für die Beschreibung des tatbestandlichen Unrechts auch nicht mehr darauf ankommen kann, ob der Täter das Kraftfahrzeug dabei eigenhändig führt.
cc) Systematische Erwägungen führen ebenfalls nicht zu einem anderen Auslegungsergebnis. Dies gilt auch mit Blick auf das Verhältnis zu § 315c StGB. Absatz 1 dieser Vorschrift enthält eine enumerative Aufzählung besonders gefährlicher Regelverstöße im Straßenverkehr, die dann zur Strafbarkeit führen, wenn dadurch eine konkrete Gefahr für bestimmte fremde Rechtsgüter verursacht wird (vgl. dazu König in LK-StGB, 13. Aufl., § 315c Rn. 5). Demgegenüber wird ein vorschriftswidriges Verhalten im fließenden Verkehr von § 315b StGB - insoweit ohne Beschränkung auf einen entsprechenden Katalog - dann erfasst, wenn es sich dabei um einen bewusst zweckwidrigen Einsatz des Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Absicht handelt und das Fahrzeug darüber hinaus mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz missbraucht wird (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 11. November 2021 ‒ 4 StR 134/21 Rn. 4; Beschluss vom 19. November 2020 ‒ 4 StR 240/20 Rn. 26 mwN; Urteil vom 20. Februar 2003 - 4 StR 228/02, BGHSt 48, 233, 236 f.; Urteil vom 31. August 1995 - 4 StR 283/95 Rn. 8, BGHSt 41, 231, 233 f.; BGH, Urteil vom 22. Juli 1999 - 4 StR 90/99 Rn. 5, BGHR StGB § 315b Abs. 1 Nr. 2 Hindernisbereiten 3). Beide Vorschriften haben verschiedene Anknüpfungspunkte, sodass sich auch die Frage der möglichen Beteiligungsformen unterschiedlich stellen kann. Damit besteht auch keine Notwendigkeit, den Anwendungsbereich des § 315b StGB hinsichtlich Täterschaft und Teilnahme auf ein eigenhändiges Delikt zu verengen.
c) Diesem Verständnis stehen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs nicht entgegen, die einen verkehrsfeindlichen Inneneingriff dahin umschreiben, dass ein Fahrzeugführer das von ihm gesteuerte Kraftfahrzeug in verkehrsfeindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig einsetzt (vgl. Beschluss vom 19. November 2020 - 4 StR 240/20 Rn. 26; Urteil vom 22. Juni 2023 - 4 StR 481/22 Rn. 31). Denn diese Ausführungen sind auf Konstellationen bezogen, in denen der Täter tatsächlich als Führer eines Kraftfahrzeugs am fließenden Verkehr teilgenommen hat; sie sind jedoch nicht im Sinne einer Beschränkung des tauglichen Täterkreises in Fällen des verkehrsfremden Inneneingriffs zu verstehen. Vielmehr kommt auch der Beifahrer als tauglicher Täter eines verkehrsfremden Inneneingriffs in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juni 2016 ‒ 4 StR 1/16 zu § 315b Abs. 1 Nr. 2 StGB; Beschluss vom 6. Juli 1989 ‒ 4 StR 321/89 Rn. 2 [Eingriff des Beifahrers in den Lenkvorgang]; Urteil vom 20. Dezember 1968 ‒ 4 StR 489/68 Rn. 15 [wuchtiges Werfen nach vorne und Griff in das Lenkrad]). In der Rechtsprechung ist im Übrigen anerkannt, dass (auch) ein Fußgänger den Tatbestand des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB verwirklichen kann (vgl. BGH, Urteil vom 31. August 1995 - 4 StR 283/95 Rn. 10, BGHSt 41, 231, 234; siehe auch BGH, Beschluss vom 14. September 2021 ‒ 4 StR 21/21 Rn. 6).
3. Unter den hier gegebenen Umständen tragen die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen die Verurteilung des Angeklagten auch wegen des in Mittäterschaft begangenen schweren gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, § 315 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a), § 25 Abs. 2 StGB.
Die Urteilsgründe belegen die Tatherrschaft des das Kraftfahrzeug nicht eigenhändig führenden Angeklagten, der das Tatfahrzeug zur Verfügung stellte, das Fahrziel vorgab, während der Tatausführung im Fahrzeug anwesend war und Einfluss auf die Handlungen seines Bruders nehmen konnte sowie ein erhebliches Tatinteresse aufwies, nachdem er zuvor mit dem Geschädigten Beleidigungen und Bedrohungen ausgetauscht hatte.
Auch die subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen sind erfüllt; insbesondere sind der bedingte Schädigungsvorsatz des Angeklagten und seine Absicht, einen Unglücksfall herbeizuführen, rechtsfehlerfrei belegt.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 277
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede