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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 343

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 240/20, Beschluss v. 19.11.2020, HRRS 2021 Nr. 343


BGH 4 StR 240/20 - Beschluss vom 19. November 2020 (LG Mönchengladbach)

Erpresserischer Menschenraub (subjektive Voraussetzungen im Zweipersonenverhältnis: Sich-bemächtigen); Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr („Pervertierung“ des Fahrzeuges innerhalb des fließenden Verkehrs); Gefährdung des Straßenverkehrs („Beinahe-Unfall“).

§ 239a Abs. 1 StGB; § 315b StGB; § 315c Abs. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Strafbarkeit wegen erpresserischen Menschenraubes erfordert im sog. Zweipersonenverhältnis in subjektiver Hinsicht neben dem Vorsatz in Bezug auf die objektiven Tatbestandsmerkmale, dass der Täter in der Absicht handelt, die Sorge des Opfers um sein Wohl zu einer Erpressung auszunutzen. Dies setzt voraus, dass sich nach der Vorstellung des Täters die Bemächtigungssituation in gewissem Umfang stabilisieren und neben den Nötigungsmitteln des § 253 Abs. 1 StGB eigenständige Bedeutung für die Durchsetzung der erpresserischen Forderung erlangen werde. Darüber hinaus muss aus der Sicht des Täters zwischen der Entführungs- oder Bemächtigungslage und der beabsichtigten Erpressung ein funktionaler und zeitlicher Zusammenhang dergestalt hergestellt werden, dass dem Opfer die erstrebte Vermögensverfügung noch während der Dauer der Zwangslage abgenötigt werden soll.

2. Eine vollendete Gefährdung des Straßenverkehrs im Sinne des § 315c Abs. 1 StGB erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der - was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist - die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht.

3. Ein vorschriftswidriges Verhalten im fließenden Verkehr wird von § 315b StGB nur erfasst, wenn ein Fahrzeugführer das von ihm gesteuerte Kraftfahrzeug in verkehrsfeindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig einsetzt, er mithin in der Absicht handelt, den Verkehrsvorgang zu einem Eingriff in den Straßenverkehr zu „pervertieren“, und es ihm darauf ankommt, hierdurch in die Sicherheit des Straßenverkehrs einzugreifen. Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr erfordert zudem, dass durch den tatbestandsmäßigen Eingriff Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert konkret gefährdet werden. Bei Vorgängen im fließenden Verkehr muss zu einem bewusst zweckwidrigen Einsatz des Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Absicht ferner hinzukommen, dass das Fahrzeug mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz missbraucht wurde.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 14. Januar 2020

a) im Schuldspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte in den Fällen II.1. und 3. der Urteilsgründe der besonders schweren räuberischen Erpressung schuldig ist; die tateinheitliche Verurteilung wegen erpresserischen Menschenraubes entfällt;

b) mit den Feststellungen aufgehoben aa) im Fall II.6. der Urteilsgründe; bb) im Strafausspruch in den Fällen II.1. und 3. der Urteilsgründe; cc) im Ausspruch über die Gesamtstrafe sowie im Maßregelausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub in zwei Fällen, Computerbetrugs in zwei Fällen, versuchten Computerbetrugs sowie Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte, einem vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und Zerstörung eines wichtigen technischen Arbeitsmittels“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten verurteilt. Darüber hinaus hat es ihm die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und eine Sperre für die Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis verhängt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Die (tateinheitliche) Verurteilung wegen erpresserischen Menschenraubes (§ 239a Abs. 1 StGB) in den Fällen II.1. und II.3. der Urteilsgründe hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die subjektive Tatseite beweiswürdigend nicht tragfähig belegt ist.

1. Das Landgericht hat in beiden Fällen im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Der Angeklagte stieg am Tattag zu der ihm unbekannten Geschädigten K. in deren Kraftfahrzeug und forderte sie auf, loszufahren. Dabei hielt er zu Drohzwecken deutlich sichtbar ein „Teppich-/Cuttermesser“ mit ausgezogener Klinge in der rechten Hand und erklärte der Geschädigten, dass ihr nichts geschehen werde, wenn sie seine Anweisungen befolge. Unter dem Eindruck dieser Drohung fuhr die Geschädigte los. Nach einer rund zehn Minuten dauernden Fahrt forderte der Angeklagte die Zeugin auf, ihr Fahrzeug anzuhalten und ihm ihre Bankkarte nebst PIN auszuhändigen. Dieser Forderung kam die Zeugin unter dem Eindruck der fortdauernden Drohung und ihrer Furcht, der Angeklagte werde anderenfalls mit dem Messer zustechen, nach. Anschließend forderte der Angeklagte sie auf, aus ihrem Fahrzeug auszusteigen und ihre Geldbörse mit Bargeld sowie ihr Handy zurückzulassen. Nachdem die Zeugin auch dieser Forderung nachgekommen war, setzte sich der Angeklagte an das Steuer des Fahrzeugs und fuhr davon (Fall II.1. der Urteilsgründe).

b) Zwei Tage später beschloss der Angeklagte, „das bewährte Tatmuster“ zu wiederholen. In Ausführung dieses Tatentschlusses stieg er in das Kraftfahrzeug Typ Audi Q 3 zu der ihm unbekannten Geschädigten M., die auf dem Fahrersitz ihres Kraftfahrzeugs saß. Er forderte die Geschädigte auf, sofort loszufahren und hielt dabei zu Drohzwecken für die Zeugin sichtbar ein „Teppich-/ Cuttermesser“ mit ausgefahrener Klinge in seiner Hand. Die Zeugin folgte den Anweisungen des Angeklagten, der das Fahrzeug in eine abgelegene Gegend dirigierte. Als der Angeklagte die ortskundige Zeugin schließlich aufforderte, in eine einsame und kaum einsehbare Straße abzubiegen, weigerte die Geschädigte sich, weil sie fürchtete, dem Angeklagten vollends ausgeliefert zu sein. Daraufhin ließ es der Angeklagte dabei bewenden und forderte die Geschädigte an Ort und Stelle auf, ihm ihre EC-Karte nebst PIN sowie ihr Bargeld auszuhändigen. Die Zeugin kam dieser Forderung aus Furcht, der Angeklagte werde anderenfalls das Messer gegen sie einsetzen, nach und händigte ihm ihren Geldbeutel mit einem Bargeldbetrag in Höhe von 250 Euro sowie ihre EC-Karte nebst PIN aus. Anschließend stieg sie weisungsgemäß aus ihrem Kraftfahrzeug aus. Der Angeklagte fuhr mit dem Kraftfahrzeug davon (Fall II.3. der Urteilsgründe).

2. Die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe jeweils neben einer besonders schweren räuberischen Erpressung (§§ 253 Abs. 1, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB) auch den Tatbestand des erpresserischen Menschenraubes im Sinne des § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB verwirklicht, indem er sich beider Geschädigter bemächtigte, um ihre Sorge um ihr Wohl zu der später verwirklichten besonders schweren räuberischen Erpressung auszunutzen, ist zur subjektiven Tatseite nicht belegt.

a) Eine Strafbarkeit wegen erpresserischen Menschenraubes gemäß § 239a Abs. 1 StGB erfordert im sog. Zweipersonenverhältnis - wie hier - in subjektiver Hinsicht neben dem Vorsatz in Bezug auf die objektiven Tatbestandsmerkmale, dass der Täter in der Absicht handelt, die Sorge des Opfers um sein Wohl zu einer Erpressung auszunutzen. Dies setzt voraus, dass sich nach der Vorstellung des Täters die Bemächtigungssituation in gewissem Umfang stabilisieren und neben den Nötigungsmitteln des § 253 Abs. 1 StGB eigenständige Bedeutung für die Durchsetzung der erpresserischen Forderung erlangen werde (BGH, Beschluss vom 8. Juni 2017 - 4 StR 19/17, NStZ-RR 2017, 372; Urteil vom 8. März 2006 - 5 StR 473/05, NStZ 2006, 448, 449). Darüber hinaus muss aus der Sicht des Täters zwischen der Entführungs- oder Bemächtigungslage und der beabsichtigten Erpressung ein funktionaler und zeitlicher Zusammenhang dergestalt hergestellt werden, dass dem Opfer die erstrebte Vermögensverfügung noch während der Dauer der Zwangslage abgenötigt werden soll (vgl. BGH, Beschluss vom 7. November 2013 - 4 StR 340/13, StV 2014, 284, 285; Beschluss vom 8. April 2005 - 2 StR 111/05, NStZ 2005, 508; Beschluss vom 28. November 1995 - 4 StR 641/95, BGHR StGB § 239a Abs. 1 Sich-bemächtigen 5).

b) Im Rahmen der rechtlichen Würdigung ist zur subjektiven Tatseite festgehalten, dass der Angeklagte am Ende der Fahrt, „wie von Anfang an beabsichtigt“, die geschaffene (stabilisierte) Bemächtigungslage zu den Erpressungshandlungen ausnutzte. Ein Beleg hierfür ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Die Ausführungen des Landgerichts im Rahmen der Beweiswürdigung stehen dieser Annahme vielmehr entgegen.

Der Angeklagte hat, wie das Landgericht ohne nähere Ausführungen festgehalten hat, die beiden Taten „in weitem Umfang“ eingeräumt, jedoch keine Angaben dazu gemacht, welchen konkreten Zweck er mit dem Ortswechsel verfolgte. Unter Berücksichtigung der Angaben der beiden Geschädigten, dass der mit der Fahrt verbundene Ortswechsel den durch die Drohung mit dem Messer ausgelösten Druck nicht noch einmal erhöht habe, ist das Landgericht zu Gunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass er „nicht beabsichtigte, bei seinem Opfer durch das Verbringen an einen entlegenen Ort noch ein gesteigertes Gefühl der Hilflosigkeit zu wecken und es zusätzlich einzuschüchtern“, sondern lediglich die Kontaktaufnahme beider Tatopfer zu etwaigen Helfern erschweren und verzögern und dadurch seine Flucht sichern wollte. Im Rahmen der rechtlichen Würdigung ist festgehalten, dass der Ortswechsel „nach dem Tatplan“ des Angeklagten nicht dazu diente, „sein Opfer weiter einzuschüchtern, um die beabsichtigte Erpressung zu ermöglichen oder auch nur zu erleichtern“ (UA 25). Diese Erwägungen lassen sich - auch wenn das Landgericht sie zur Abgrenzung der Begehungsvarianten des Entführens und des Sich-Bemächtigens im Sinne des § 239a StGB herangezogen hat - nicht mit der Annahme vereinbaren, dass die Bemächtigungslage nach dem Vorstellungsbild des Angeklagten neben dem von ihm zu Drohzwecken eingesetzten Teppichmesser eine eigenständige Bedeutung für die spätere Erpressung entfalten sollte.

3. Da zur subjektiven Tatseite des § 239a StGB weitere Feststellungen nicht zu erwarten sind, ändert der Senat den Schuldspruch ab und fasst die Urteilsformel klarstellend neu; die Verwirklichung des Qualifikationstatbestands des § 253 Abs. 1, §§ 255, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB ist als besonders schwere räuberische Erpressung zu bezeichnen, damit der gegenüber der milderen Qualifikation des § 250 Abs. 1 StGB höhere Unrechtsgehalt deutlich wird (BGH, Urteil vom 23. November 2006 - 3 StR 366/06, NStZ-RR 2007, 77).

4. Die Schuldspruchänderung zieht die Aufhebung der Strafaussprüche in den Fällen II.1. und 3. der Urteilsgründe nach sich. Das Landgericht hat sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch bei der Strafzumessung im engeren Sinne jeweils strafschärfend berücksichtigt, dass der Angeklagte tateinheitlich zwei Delikte verwirklichte. Trotz der maßvollen Einzelstrafen vermag der Senat ein Beruhen der Strafbemessung auf diesem Rechtsfehler nicht gänzlich auszuschließen.

II.

Der Schuldspruch im Fall II.6. der Urteilsgründe hält einer rechtlichen Überprüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand.

1. a) Nach den Feststellungen fiel einer Polizeistreife das am Vortag erbeutete Kraftfahrzeug Typ Audi Q 3 der Geschädigten M. (Fall II.3. der Urteilsgründe) auf, an dessen Steuer der Angeklagte saß. Die beiden Polizeibeamtinnen näherten sich dem Fahrzeug des Angeklagten, um es einer Kontrolle zu unterziehen. Der Angeklagte entschloss sich zur Flucht, weil er der Entdeckung der vorangegangenen Straftat und seiner Festnahme entgehen wollte. Er beschleunigte plötzlich und steuerte das Fahrzeug stadtauswärts. Die beiden Polizeibeamtinnen nahmen mit ihrem Dienstkraftfahrzeug unter Hinzuziehung weiterer Polizeikräfte die Verfolgung des Angeklagten auf. Im Rahmen der rund sieben Minuten dauernden Verfolgungsfahrt überschritt der Angeklagte zunächst die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich, überholte mehrere Fahrzeuge insbesondere im Kurvenbereich, überfuhr eine Stoppstelle und bog schließlich unter Missachtung einer Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage nach rechts auf die zweispurige K10 ab, auf der reger Verkehr herrschte.

Nunmehr überholte der Angeklagte bei einer Geschwindigkeit von rund 100 km/h mehrere vor ihm die rechte Fahrspur befahrende Kraftfahrzeuge und nahm dabei die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer zumindest billigend in Kauf. Die dem Angeklagten entgegen kommenden Kraftfahrzeuge konnten Frontalzusammenstöße nur durch ein Ausweichen an den Fahrbahnrand und ein Abbremsen ihrer Fahrzeuge bis zum Stillstand vermeiden (1. Tatkomplex).

An der Kreuzung am Ende der K10 wendete der Angeklagte das von ihm gesteuerte Kraftfahrzeug unter Missachtung des dort aufgestellten Stoppschildes und fuhr unvermittelt zurück auf die K10 in nunmehr entgegengesetzter Fahrtrichtung. Aufgrund seines plötzlichen Wendemanövers musste ein aus einer bevorrechtigten Straße kommendes Kraftfahrzeug stark abbremsen, um eine Kollision zu vermeiden; dies nahm der Angeklagte zumindest billigend in Kauf (2. Tatkomplex).

Der Angeklagte setzte seine Fluchtfahrt fort und steuerte sein Fahrzeug u.a. auf Höhe der „Mittelfahrbahnmarkierung“, so dass die ihm entgegenkommenden Kraftfahrzeuge „ausweichen bzw. stark abbremsen mussten“, um eine Kollision zu vermeiden. Er geriet zudem durch Überholmanöver mehrfach in den Gegenverkehr. Der Angeklagte kam u.a. dem von der Polizeibeamtin D. geführten Streifenwagen auf ihrem Fahrstreifen so entgegen, dass sie im letzten Moment auf die Fahrspur des Gegenverkehrs ausweichen musste, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Der Angeklagte nahm zumindest billigend in Kauf, den Funkstreifenwagen durch einen Zusammenstoß zu beschädigen und dessen Insassen zu verletzen (3. Tatkomplex).

Nach Überfahren einer Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage bog der Angeklagte schließlich mit seinem Fahrzeug nach links in eine schmale und beidseits durch parkende Fahrzeuge verengte Straße ab; dort kam ihm ein weiterer Funkstreifenwagen entgegen. Obwohl der Angeklagte die Aussichtslosigkeit einer weiteren Flucht erkannte, fuhr er zunächst mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf den Funkstreifenwagen zu, obwohl ihm klar war, dass ein Passieren des Fahrzeugs unmöglich war. Erst wenige Meter vor dem schon stehenden Streifenwagen bremste er aus Selbstschutz noch auf etwa Schrittgeschwindigkeit ab und kollidierte mit der Front des Streifenwagens, der dadurch beschädigt wurde. Dies hatte der Angeklagte ebenso wie eine Verletzung der Insassen in Kauf genommen (4. Tatkomplex). Anschließend konnte der Angeklagte durch Polizeikräfte festgenommen werden.

b) Das Landgericht hat die Tat des Angeklagten im 3. Tatkomplex als tateinheitlichen vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 i.V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1b StGB, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte gewertet; tateinheitlich trete die wiederholte Verwirklichung des Tatbestands der vorsätzlichen Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB im 1. Tatkomplex sowie die vorsätzliche Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 a) und f) StGB im 2. Tatkomplex und schließlich ein weiterer vorsätzlicher gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB, ein tätlicher Angriff gegen Vollstreckungsbeamte und eine Zerstörung eines wichtigen technischen Arbeitsmittels gemäß § 305a Abs. 1 Nr. 2 StGB im 4. Tatkomplex hinzu.

2. Der Schuldspruch wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB (falsches Fahren beim Überholen) im 1. Tatkomplex hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand; es fehlt bereits an den erforderlichen Feststellungen, dass der Angeklagte durch sein Fahrverhalten Leib oder Leben eines anderen Menschen oder eine fremde Sache von bedeutendem Wert konkret gefährdet hat.

a) Eine vollendete Gefährdung des Straßenverkehrs im Sinne des § 315c Abs. 1 StGB erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der - was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist - die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 20. März 2019 - 4 StR 517/18 Rn. 5; vom 27. April 2017 - 4 StR 61/17 Rn. 6; vom 24. September 2013 - 4 StR 324/13 Rn. 5).

b) Nach diesen Maßstäben ist eine konkrete Gefahr für Leib und Leben anderer oder für Sachen von bedeutendem Wert weder festgestellt noch belegt. Die Feststellungen des Landgerichts erschöpfen sich in dem Hinweis, dass die Überholmanöver des Angeklagten die ihm entgegenkommenden Kraftfahrzeuge zu einem Ausweichen an den Fahrbahnrand und zu einem Abbremsen ihrer Fahrzeuge bis zum Stillstand veranlassten. Die Urteilsgründe ergeben jedoch nicht, dass die Handlung des Angeklagten über die ihr innewohnende hohe abstrakte Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Situation im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ geführt hat. Ob in dieser - konkreten - Situation der Eintritt einer Rechtsgutsverletzung nur noch vom Zufall abhing, kann der Senat daher nicht beurteilen. Einzelheiten zur Art der Begegnung der vom Landgericht als gefährdet angesehenen entgegen kommenden Kraftfahrzeuge mit dem Fahrzeug des Angeklagten sind nicht festgestellt; die vom Landgericht gebrauchte Wendung, die entgegenkommenden Fahrzeuge hätten nur durch dieses Ausweichen „Frontalzusammenstöße“ vermeiden können, erweist sich daher als bloße Wertung ohne nachvollziehbare Tatsachengrundlage.

3. Auch der Schuldspruch wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 a) und f) StGB (Missachtung der Vorfahrt und Wenden auf einer Kraftfahrstraße) im 2. Tatkomplex hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

a) Hinsichtlich des angenommenen Verstoßes gegen § 315c Abs. 1 Nr. 2 a) StGB fehlt es ebenfalls an den die Annahme eines „Beinahe-Unfalls“ tragenden Feststellungen zur konkreten kritischen Verkehrssituation.

b) Darüber hinaus belegen die Feststellungen das gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 f) StGB unter Strafe gestellte verbotswidrige Wenden auf Autobahnen und Kraftfahrstraßen nicht. Den Urteilsgründen ist auch in ihrem Gesamtzusammenhang bereits nicht zu entnehmen, dass es sich bei der von dem Angeklagten befahrenen K10 um eine durch das Verkehrszeichen 331 gekennzeichnete Kraftfahrstraße im Sinne des § 18 StVO handelt. Der Senat kann daher offen lassen, ob das in den Urteilsgründen nicht nachvollziehbar umschriebene konkrete Fahrmanöver des Angeklagten als Wenden im Sinne der Vorschrift angesehen werden könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 19. März 2002 - 4 StR 394/01, BGHSt 47, 252, 258 f.).

4. Auch der Schuldspruch wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr im Sinne von § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB im 3. Tatkomplex hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

a) Ein vorschriftswidriges Verhalten im fließenden Verkehr wird von § 315b StGB nur erfasst, wenn ein Fahrzeugführer das von ihm gesteuerte Kraftfahrzeug in verkehrsfeindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig einsetzt, er mithin in der Absicht handelt, den Verkehrsvorgang zu einem Eingriff in den Straßenverkehr zu „pervertieren“, und es ihm darauf ankommt, hierdurch in die Sicherheit des Straßenverkehrs einzugreifen. Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr erfordert zudem, dass durch den tatbestandsmäßigen Eingriff Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert konkret gefährdet werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Oktober 2017 - 4 StR 334/17, insoweit nicht abgedruckt in StV 2018, 429; vom 20. Oktober 2009 - 4 StR 408/09, NStZ 2010, 216). Bei Vorgängen im fließenden Verkehr muss zu einem bewusst zweckwidrigen Einsatz des Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Absicht ferner hinzukommen, dass das Fahrzeug mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz missbraucht wurde (BGH, Beschluss vom 30. Juni 2015 - 4 StR 188/15, StV 2016, 286, 287; Urteil vom 20. Februar 2003 - 4 StR 228/02, BGHSt 48, 233, 237 f.).

b) Gemessen hieran ist ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr im Sinne des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB weder objektiv noch subjektiv tragfähig belegt.

aa) Dem Urteil ist schon nicht zu entnehmen, dass der Angeklagte gezielt auf den von der Polizeibeamtin D. geführten Streifenwagen zufuhr und dabei in der Absicht handelte, sie zum Ausweichen zu zwingen.

Nach den Feststellungen fuhr der von dem „Klettenfahrzeug“ verfolgte Angeklagte bereits geraume Zeit vor der Begegnung mit dem Fahrzeug der Polizeibeamtin D. auf der „Mittelfahrbahnmarkierung“, so dass bereits mehrere vor dem von der Polizeibeamtin gesteuerten Streifenwagen fahrende Kraftfahrzeuge „ausweichen bzw. stark abbremsen“ mussten. Der Angeklagte kam sodann „auch“ dem von der Polizeibeamtin D. geführten Funkstreifenwagen auf ihrem Fahrstreifen entgegen. Dass der Angeklagte dabei sein Fahrzeug - wie das Landgericht im Rahmen der rechtlichen Würdigung ausgeführt hat - gezielt zur Erzwingung seiner Durchfahrt missbrauchte, ist weder festgestellt noch tragfähig belegt. Insoweit hätte sich das Landgericht mit der naheliegenden Möglichkeit auseinandersetzen müssen, dass der Angeklagte sein Fahrzeug auch in dieser Situation in erster Linie lediglich als Fluchtmittel zwar verkehrswidrig, aber nicht bewusst zweckwidrig in verkehrsfeindlicher Einstellung einsetzte (vgl. BGH, Beschluss vom 14. November 2006 - 4 StR 446/06, NStZ-RR 2007, 59, 60). Dass die Zeugin D. dem Angeklagten - ähnlich der Sachverhaltskonstellation, die dem Beschluss des Senats vom 30. Juni 2015 - 4 StR 188/15 (NZV 2016, 345) zugrunde lag und auf die sich das Landgericht im Rahmen seiner rechtlichen Würdigung ausdrücklich bezieht - mit ihrem Dienstfahrzeug entgegenkam, um seine weitere Fluchtfahrt zu unterbinden und der Angeklagte annahm, seine weitere Fluchtfahrt werde durch das Dienstfahrzeug verhindert und er müsse seine Weiterfahrt erzwingen, ist weder festgestellt noch liegt dies nahe.

bb) Darüber hinaus fehlt es auch insoweit an Feststellungen und tragfähigen Beweiserwägungen, dass das Fahrmanöver des Angeklagten zu einer konkreten Gefahr im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ geführt hat. Den Urteilsgründen kann auch in ihrem Gesamtzusammenhang nicht entnommen werden, mit welcher Geschwindigkeit die Polizeibeamtin D. ihr Fahrzeug bei Eintritt der kritischen Situation führte und wann sie die Gefahr, die sie zum Ausweichen veranlasste, erkannte. Auf der Grundlage der Feststellungen kann daher nicht geprüft und entschieden werden, ob das Landgericht rechtsfehlerfrei von einem Geschehen ausgegangen ist, welches die Wertung eines „Beinahe-Unfalls“ rechtfertigt.

5. Schließlich ergeben die Feststellungen und die sie tragenden Beweiserwägungen nicht, dass der Angeklagte sich im 4. Tatkomplex eines weiteren gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr schuldig gemacht hat. Insoweit fehlt es an Feststellungen zu Entfernungen, gefahrenen Geschwindigkeiten und an beweiswürdigenden Erwägungen zu dem Schädigungsvorsatz des Angeklagten, der sich angesichts des Abbremsens seines Fahrzeugs nicht von selbst versteht. Schließlich ist auch der Tatbestand des § 305a StGB bereits objektiv nicht belegt. Insoweit fehlt es an Feststellungen zu den an dem Dienstkraftfahrzeug entstandenen Schäden; eine teilweise Zerstörung des Fahrzeugs im Sinne des § 305a StGB ist daher weder festgestellt noch belegt.

6. Die Aufhebung der Schuldsprüche im Fall II.6. der Urteilsgründe zieht die Aufhebung der tateinheitlichen weiteren Schuldsprüche nach sich.

III.

Die Aufhebung der Einzelstrafen zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe sowie die Aufhebung des Maßregelausspruchs nach sich.

Die Sache bedarf im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 343

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 140; StV 2021, 500

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner