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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 700

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 85/22, Beschluss v. 03.05.2022, HRRS 2022 Nr. 700


BGH 3 StR 85/22 - Beschluss vom 3. Mai 2022 (LG Oldenburg)

Einbeziehung einer Vorverurteilung im Jugendstrafrecht (Absehen von der Einbeziehung; erzieherische Gründe von besonderem Gewicht; Anrechnung der aufgrund der Vorverurteilung vollzogenen Maßnahme; Einheitsjugendstrafe).

§ 31 JGG; § 51 StGB; § 67 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein Absehen von der nach § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG grundsätzlich vorgeschriebenen Einbeziehung einer Vorverurteilung gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 JGG erfordert Gründe, die unter dem Aspekt der Erziehung von besonderem Gewicht sind und zur Verfolgung dieses Zwecks über die üblichen Strafzumessungsgesichtspunkte hinaus das Nebeneinander zweier Jugendstrafen notwendig erscheinen lassen. Erst wenn solche Gründe festgestellt sind, ist der tatrichterliche Ermessensspielraum eröffnet.

2. Im Fall der Einbeziehung richtet sich die Anrechnung der aufgrund der Vorverurteilung vollzogenen Maßregel auf die Einheitsjugendstrafe nicht nach § 67 Abs. 4 StGB, sondern - unbeschadet einer Anwendung des § 67 Abs. 6 Satz 1 StGB - nach § 51 Abs. 2 StGB. Nach dieser Vorschrift wird auf die neu erkannte Einheitsjugendstrafe die vormalige (Jugend-)Strafe angerechnet, soweit sie vollstreckt oder durch Anrechnung erledigt ist. § 67 Abs. 4 StGB ist demnach nur insoweit von Bedeutung, als der Maßregelvollzug die Erledigung der Strafe aus dem einbezogenen Urteil bewirkt hat. Lediglich in diesem Umfang wird somit mittelbar die Dauer der Unterbringung auf die neu erkannte Strafe angerechnet.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 16. November 2021 im Strafausspruch aufgehoben; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Von der Einbeziehung eines Urteils des Amtsgerichts Oldenburg vom "01.09.2019" hat es abgesehen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen war der Angeklagte mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Oldenburg vom "23.05.2019" einer Vielzahl von Brandstiftungs- und Diebstahlsdelikten schuldig gesprochen sowie mit einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten belegt worden; zugleich war seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden. Die Maßregel wurde mehr als zwei Jahre und drei Monate in verschiedenen Einrichtungen vollzogen, bis sie im Oktober 2021 für erledigt erklärt wurde.

Während seines Aufenthalts in einer dieser Maßregelvollzugseinrichtungen schubste der 20jährige Angeklagte im Juli 2020 seinen Zimmernachbarn auf dessen Bett. Anschließend drückte er ihm, unterstützt durch den Mitangeklagten, mindestens eine Minute lang ein Kissen ins Gesicht, um ihm die Luftzufuhr abzuschneiden. Durch den Sauerstoffmangel geriet das Opfer in massive Panik und erlitt Todesangst. Der Angeklagte beendete sein Tun erst, als er das Herannahen des Pflegepersonals bemerkte.

2. Das Landgericht hat die Tat als gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5 StGB gewertet. Es hat Jugendstrafrecht angewendet, schädliche Neigungen des Angeklagten angenommen, die festgesetzte Höhe der Jugendstrafe als tat- und schuldangemessen sowie erzieherisch geboten erachtet und eine Strafaussetzung zur Bewährung abgelehnt.

Von der Einbeziehung der bei Urteilsverkündung noch nicht vollständig vollstreckten Vorverurteilung hat die Jugendkammer nach § 31 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG abgesehen. Sie hat dies insbesondere damit begründet, dass anderenfalls eine Einheitsjugendstrafe, wenn diese auf bis zu dreieinhalb Jahre festgesetzt würde, durch Anrechnung des aufgrund der Vorverurteilung erlittenen Freiheitsentzugs fast vollständig erledigt wäre. Die Einheitsjugendstrafe müsste mit „gut“ vier Jahren und sechs Monaten bemessen werden, um die zu erzieherischen Zwecken gebotene Verlängerung der tatsächlichen Haftzeit um ein Jahr und sechs Monate zu erreichen. Eine derart hohe einheitliche Strafe überstiege allerdings die Summe isolierter Strafen deutlich und sei „unter Stigmatisierungsgesichtspunkten erzieherisch nicht vertretbar“.

II.

1. Der Strafausspruch hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Absehen von der Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Oldenburg (wohl) vom 23. Mai 2019 - nach den Urteilsfeststellungen wurde die Maßregel gemäß § 63 StGB bereits ab dem 5. Juli 2019 vollzogen - in das neue Erkenntnis erweist sich als rechtsfehlerhaft.

a) Im rechtlichen Ausgangspunkt hat das Landgericht zwar zutreffend angenommen, dass ein Absehen von der nach § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG grundsätzlich vorgeschriebenen Einbeziehung gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 JGG Gründe erfordert, die unter dem Aspekt der Erziehung von besonderem Gewicht sind und zur Verfolgung dieses Zwecks über die üblichen Strafzumessungsgesichtspunkte hinaus das Nebeneinander zweier Jugendstrafen notwendig erscheinen lassen (s. BGH, Beschluss vom 1. Juni 2010 - 4 StR 208/10, StV 2011, 590). Erst wenn solche Gründe festgestellt sind, ist der tatrichterliche Ermessensspielraum eröffnet (s. BGH, Urteil vom 26. Juli 2018 - 3 StR 189/18, BGHR JGG § 31 Abs. 3 Nichteinbeziehung 4 Rn. 13).

Ebenso hat die Jugendkammer bedacht, dass hier dem Erziehungsgedanken nur noch ein geringeres Gewicht hat zukommen können, weil der Angeklagte zur Zeit der Hauptverhandlung bereits das 22. Lebensjahr vollendet hatte und somit als im strafrechtlichen Sinne erwachsen galt. Umso weniger hat es nahegelegen, dass erzieherische Gründe von besonderem Gewicht eine Ausnahme vom Grundsatz der Einheitsjugendstrafe gebieten konnten (s. BGH, Urteil vom 26. Juli 2018 - 3 StR 189/18, NStZ 2018, 660, 661 [in BGHR JGG § 31 Abs. 3 Nichteinbeziehung 4 nicht abgedruckt]).

b) Jedoch begegnet die Annahme solcher das Absehen von der Einbeziehung rechtfertigender erzieherischer Gründe durchgreifenden Bedenken. Denn die Erwägungen zur Anrechnung des aufgrund der Vorverurteilung erlittenen Freiheitsentzugs beruhen, wie der Generalbundesanwalt zutreffend dargelegt hat, auf einem falschen rechtlichen Ansatz:

aa) Für den Fall einer Einbeziehung gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG ist das Landgericht davon ausgegangen, dass - mangels einschlägiger jugendstrafrechtlicher Vorschriften (§ 2 Abs. 2 JGG) - auf die Einheitsjugendstrafe die Untersuchungs-, Organisationsund Jugendstrafhaft nach § 51 Abs. 2 StGB, der Maßregelvollzug hingegen nach § 67 Abs. 4 StGB anzurechnen wäre. Nur so erklären sich auch die in den Urteilsgründen angeführten Beispielsberechnungen, denen eine Anrechnung der Dauer der Unterbringung von etwas länger als zwei Jahren und drei Monaten, wie es § 67 Abs. 4 StGB bestimmt, auf bis zu zwei Drittel einer (fiktiven) einheitlichen Strafe zugrunde liegt.

Indes richtet sich im Fall der Einbeziehung die Anrechnung der aufgrund der Vorverurteilung vollzogenen Maßregel auf die Einheitsjugendstrafe nicht nach § 67 Abs. 4 StGB, sondern - unbeschadet einer Anwendung des § 67 Abs. 6 Satz 1 StGB (dazu sogleich bb]) - ebenfalls nach § 51 Abs. 2 StGB (vgl. BGH, Urteil vom 14. November 1995 - 1 StR 483/95, BGHSt 41, 315). Nach dieser Vorschrift wird auf die neu erkannte Einheitsjugendstrafe die vormalige (Jugend-)Strafe angerechnet, soweit sie vollstreckt oder durch Anrechnung erledigt ist. § 67 Abs. 4 StGB ist demnach nur insoweit von Bedeutung, als der Maßregelvollzug die Erledigung der Strafe aus dem einbezogenen Urteil bewirkt hat. Lediglich in diesem Umfang wird somit mittelbar die Dauer der Unterbringung auf die neu erkannte Strafe angerechnet (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 51 Rn. 13 f.; LK/Schneider, StGB, 13. Aufl., § 51 Rn. 18 f.; MüKoStGB/Maier, 4. Aufl., § 51 Rn. 41 f.; NKStGB/Kett-Straub, 5. Aufl., § 51 Rn. 26, 28).

Gemessen daran könnte hier, ungeachtet der auf die Untersuchungs- und Organisationshaft anzuwendenden Anrechnungsmethode, der Maßregelvollzug allenfalls dazu geführt haben, dass zwei Drittel der Jugendstrafe aus der Vorverurteilung als verbüßt gelten. Dies bedeutet eine Berücksichtigung der Unterbringung im Umfang von einem Jahr und acht Monaten. Auf der Grundlage der vom Landgericht getroffenen Feststellung, wonach das voraussichtliche Strafzeitende für das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts auf den 3. Januar 2022 datiert, wären bei Urteilsverkündung (16. November 2021) von einer Einheitsjugendstrafe lediglich etwa zwei Jahre und viereinhalb Monate durch den gesamten bisherigen Freiheitsentzug erledigt gewesen.

bb) Die unmittelbare Anrechnung der Dauer der Unterbringung über zwei Drittel der Strafe aus einer einbezogenen Vorverurteilung hinaus kommt nur ausnahmsweise nach § 67 Abs. 6 Satz 1 StGB in Betracht. Dessen Anwendung ist allerdings gemäß § 67 Abs. 6 Satz 3 StGB in der Regel ausgeschlossen, wenn der Untergebrachte - wie der Angeklagte - die neue Tat nach der Anordnung der Maßregel begangen hat. Das Landgericht hat eine solche Anrechnung hier rechtsfehlerfrei verneint.

cc) Nach alledem liegt der das Absehen von der Einbeziehung tragenden Erwägung, eine Einheitsjugendstrafe, die auf das erzieherisch gebotene Maß festgesetzt würde, überstiege die Summe isolierter Strafen deutlich, ein unzutreffendes Verständnis der Anrechnungsvorschriften zugrunde. Auf dem Rechtsfehler beruht der Strafausspruch (§ 337 Abs. 1 StPO), weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Jugendkammer ohne ihn das amtsgerichtliche Urteil nach § 31 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG einbezogen hätte.

Deshalb kann dahinstehen, ob der vom Landgericht aus dieser Erwägung gezogene Schluss, von einer derart hohen einheitlichen Strafe ginge eine nicht mehr hinnehmbare Stigmatisierungswirkung aus, revisionsrechtlicher Prüfung standhielte; daran könnten - zumal mit Blick auf das Bemessungskriterium der erforderlichen erzieherischen Einwirkung (§ 18 Abs. 2 JGG) - Zweifel bestehen. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend dargelegt hat, ist hier ebenso wenig der Frage nachzugehen, ob sich die im Rahmen der Rechtsfolgenbestimmung angeführte weitere Begründung für die Anwendung des § 31 Abs. 3 Satz 1 JGG, das neue Erkenntnis habe „kaum“ einen „inneren Bezug“ zur Vorverurteilung, als rechtsfehlerfrei erweist; denn nach den Urteilsgründen trägt dieses Argument die Nichteinbeziehung durch die Jugendkammer nicht selbständig.

2. Der Strafausspruch unterliegt infolgedessen der Aufhebung. Die zugehörigen Feststellungen bleiben von dem Wertungsfehler unberührt, so dass sie bestehen bleiben können (§ 353 Abs. 2 StPO). Weitergehende Feststellungen, die den bislang getroffenen nicht widersprechen, sind möglich. Zum Datum der Vorverurteilung wird eine Klarstellung geboten sein.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin: Haben die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG im Zeitpunkt der Verkündung des auf die Revision aufgehobenen Urteils vorgelegen, ist - vorbehaltlich eines Vorgehens nach § 31 Abs. 3 Satz 1 JGG - eine rechtskräftige Vorverurteilung auch dann in das neue Erkenntnis einzubeziehen, wenn die vormals ausgeurteilte Strafe zwischenzeitlich vollstreckt ist. Wie bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 StGB (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. September 2019 - 3 StR 341/19, NStZ-RR 2020, 7; vom 10. Juni 2020 - 3 StR 135/20, juris Rn. 13) hat das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht auf den Vollstreckungsstand zum Zeitpunkt der Tatsachenverhandlung im ersten Rechtsgang abzustellen (s. BGH, Beschlüsse vom 13. November 1991 - 2 StR 463/91, BGHR JGG § 31 Abs. 2 Einbeziehung 6; vom 31. März 2011 - 2 StR 8/11, StraFo 2011, 288 f.; Schatz in Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 8. Aufl., § 31 Rn. 25).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 700

Bearbeiter: Christian Becker