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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 253

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 234/21, Urteil v. 14.12.2021, HRRS 2022 Nr. 253


BGH 1 StR 234/21 - Urteil vom 14. Dezember 2021 (LG Ingolstadt)

Vorbereitung eines Sachverständigengutachtens (keine Sachaufklärung über Exploration hinaus); tatrichterliche Beweiswürdigung (Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen).

§ 80 StPO; § 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Nachforschungen eines aussagepsychologischen Sachverständigen dürfen über „informatorische Befragungen“ dahingehend, wo beweiserhebliches Tatsachenmaterial zu finden ist, nicht hinausgehen dürfen. Sachaufklärung durch ihn - von der umfassenden Befragung des Opferzeugen im Rahmen der Exploration abgesehen - sind mit § 80 StPO nicht zu vereinbaren (vgl. BGHSt 45, 164, 174).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 17. Februar 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in neun Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und mit versuchtem sexuellen Übergriff sowie in den sechs weiteren Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, davon in einem Fall in weiterer Tateinheit mit Vergewaltigung und in den anderen fünf Fällen in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt; zudem hat es Entscheidungen im Adhäsionsverfahren getroffen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts streichelte der - die Taten abstreitende - Angeklagte die Nebenklägerin, die damals elfjährige Tochter seiner Lebenspartnerin, in den Pfingstferien 2016 in drei Fällen während der Fahrt in den Urlaub und auf einem Campingplatz unter anderem an der Scheide. Die Nebenklägerin, für die der Angeklagte wie ein Stiefvater war, wollte dies nicht, stellte sich aber schlafend (Fälle unter II. 1. und II. 2. der Urteilsgründe; Zeitraum vom 17. Mai 2016 bis 28. Mai 2016).

b) Im Zeitraum zwischen Ende September 2016 und Juli 2017 ging der Angeklagte jeweils am Wochenende des Nachts in fünf Fällen in das Kinderzimmer der Nebenklägerin und fasste sie in dem Glauben, sie würde schlafen, an Brust und Scheide; dabei wusste er, dass sie mit solchen Handlungen nicht einverstanden war. Dann drang der Angeklagte mit einem Finger in die Scheide ein und penetrierte die Nebenklägerin (Fälle unter II. 3. der Urteilsgründe).

c) In der Nacht vom 22. auf den 23. Juli 2017 zog der Angeklagte der Nebenklägerin Schlafanzug- und Unterhose aus, drückte ihre Beine, die sie zur Abwehr zusammenpresste, auseinander und drang mit seinem erigierten Glied in ihre Vagina ein (Fall II. 4. der Urteilsgründe).

d) Am Vormittag des 23. Juli 2017 offenbarte die Nebenklägerin ihrer Mutter, der Zeugin M., der Angeklagte habe sie vergewaltigt und missbrauche sie seit über einem Jahr. Verwirrt, ratlos und hilfesuchend fuhr die Zeugin mit ihrer Tochter zum Großvater, dem Zeugen J. Dieser stellte den nachgeeilten Angeklagten zur Rede, der einräumte, es tue ihm so leid, er sei lediglich mit dem Finger eingedrungen und dies nur ein paar Mal. Auf Anraten der telefonisch verständigten Polizei begaben sich die Nebenklägerin, ihre Mutter und ihr Großvater noch am Tattag in die Notaufnahme einer Klinik; letztlich lehnte es die Nebenklägerin ab, sich von der Kinderärztin S. gynäkologisch untersuchen zu lassen. Auch ließen sich weder Tochter noch Mutter von der Polizei vernehmen; das Verfahren wurde daher zunächst gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Erst nach einer Mutter-Kind-Kur und mehreren Gesprächen mit einer Mitarbeiterin eines Opferhilfevereins ließen die Nebenklägerin und ihre Mutter im November 2018 einen Termin zur polizeilichen Aussage vereinbaren.

2. Das Urteil mitsamt den Feststellungen hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Die Beweiswürdigung erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

aa) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (§ 261 StPO). Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Allerdings bestehen besondere Anforderungen an die Begründung und Darstellung der Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht seine Feststellungen im Rahmen einer ?Aussage-gegen-Aussage?-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen allein auf die Angaben der Geschädigten stützt. In einer solchen Fallgestaltung, in der die Entscheidung maßgeblich davon abhängt, ob das Gericht den Angaben der einzigen Belastungszeugin folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegung einbezogen hat (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 16. Juni 2021 - 1 StR 109/21 Rn. 10; vom 6. August 2020 - 1 StR 178/20 Rn. 8; vom 18. März 2020 - 1 StR 67/20 Rn. 7 und vom 12. Februar 2020 - 1 StR 612/19 Rn. 4; je mwN).

bb) Bereits folgende Besonderheiten begegnen Bedenken:

(a) Fragwürdig ist, ob sich sämtliche vom Landgericht aufgezeigte Abweichungen in den Angaben der Nebenklägerin bei den drei Vernehmungen (der polizeilichen, ermittlungsrichterlichen und ergänzenden Vernehmung in der Hauptverhandlung) sowie bei der Begutachtung durch die Sachverständige, insbesondere bezüglich des Beginns der Tatserie und des Zeitpunkts des erstmaligen Eindringens mit einem Finger, tatsächlich mit einem ?Inkadenzphänomen? erklären ließen (insbesondere UA S. 39 f., 61; vgl. auch BGH, Urteil vom 27. Februar 2013 - 2 StR 206/12 Rn. 18). Dies ist insbesondere für das Abweichen der Aussagen bezüglich der Steigerung der Intensität der Übergriffe fraglich: Während nach den ersten beiden Vernehmungen der Angeklagte vor dem Campingurlaub in Italien gleich beim ersten sexuellen Übergriff im Kinderzimmer seinen Finger eingeführt haben soll, soll er der Exploration zufolge sich bei den ersten Taten im Intimbereich vorgetastet haben; erst bei späteren Übergriffen sei er eingedrungen (UA S. 34-36).

(b) Da die Nebenklägerin und ihre Mutter erst über ein Jahr später Anzeige erstatteten, vernahmen die Ermittlungsbehörden jene weder zeitnah und unbeeinflusst von Gesprächen mit einer Mitarbeiterin eines Opferhilfevereins noch sicherten sie im Übrigen Beweise. Im Gegenteil lässt die Mitwirkung der - nicht vernommenen - Frau T. vom Opferhilfeverein bei der Anzeigeerstattung (UA S. 30) eine Beeinflussung nicht gänzlich fernliegend erscheinen.

cc) Vor diesem Hintergrund unterliegt das Urteil des Landgerichts jedenfalls deswegen der Aufhebung, weil das Landgericht eine Fremdsuggestion durch die Mutter der Nebenklägerin nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen hat; die dem zugrundeliegende Beweiswürdigung ist unklar.

(a) Der Wertung des Landgerichts zufolge war eine Beeinflussung durch die Mutter vor allem deswegen auszuschließen, weil deren Aussage über das Gespräch mit der Nebenklägerin am Vormittag des 23. Juli 2017 ?qualitativ so hochwertig? gewesen sei (UA S. 58); insbesondere habe die Mutter ihre Gefühle authentisch wiedergegeben. Daher sei es von der Glaubhaftigkeit der Angaben dieser Zeugin überzeugt. Indes hat das Landgericht einen sich aufdrängenden Umstand nicht erörtert, der seiner Überzeugung hätte entgegenstehen können:

(1) Nach der Aussage der Mutter habe die Nebenklägerin, als ?alle im Untersuchungszimmer? in der Notaufnahme des Klinikums mit Ausnahme des ins Wartezimmer gegangenen Großvaters gewesen seien, den Vorwurf der Vergewaltigung mit dem Penis, mithin den gravierendsten Vorfall, wiederholt. Sie habe - wie am selben Tag zuvor im Kinderzimmer - nachgefragt, ob sich ihre Tochter ?sicher sei, dass es nicht nur die Finger gewesen seien? (UA S. 30). Dies geschah offensichtlich im Beisein der Kinderärztin S. Denn deren Bemerkung ?wenn es nur die Finger gewesen seien,? könne man ?sowieso keine DNA-Spuren feststellen?, ist in einer Interaktion die ärztliche Stellungnahme zum wahrgenommenen Gespräch zwischen Mutter und Nebenklägerin in dem Sinne, Mutter und Nebenklägerin mögen sich auf eine genaue Schilderung festlegen; nur bei einem Eindringen mit dem Penis sei eine gynäkologische Untersuchung, die eine Sedierung erfordere, sinnvoll. Zumindest ist nach der Aussage der Mutter die Anwesenheit der Kinderärztin bei Wiederholung des Vorwurfs der Vergewaltigung mit dem Penis nicht auszuschließen.

(2) Dies begründet einen durchgreifenden Widerspruch. Denn die Zeugin S. hat einen solchen Gesprächsinhalt nicht bestätigt; als sie die Art der Übergriffe erfragt habe, habe die Nebenklägerin nicht von einem Geschlechtsakt berichtet (UA S. 31). Mit diesem Widerspruch hätte sich das Landgericht auseinandersetzen müssen, zumal die Nebenklägerin gegenüber dem zuvor aufgesuchten Großvater ein Eindringen mit dem Penis ebenfalls nicht erwähnte (UA S. 29). Auch die Glaubhaftigkeit der Aussage der Mutter, wenngleich sie nicht die unmittelbare Belastungszeugin ist, ist hier - der Beweisführung des Landgerichts folgend - in einer umfassenden Gesamtschau zu beurteilen; die Kammer hätte sich nicht auf das für authentisch gehaltene erste Gespräch beschränken dürfen.

(b) Überdies hat das Landgericht nicht rechtsfehlerfrei gewürdigt, ob der Inhalt der Angaben der Nebenklägerin im Zusammenhang mit den von der Strafkammer angesprochenen Sorgerechtsstreitigkeiten zwischen dem Angeklagten und der Zeugin M. um den gemeinsamen Sohn A. (UA S. 50 f.) und möglichen innerfamiliären Beeinflussungen stehen könnte (vgl. BGH, Urteil vom 20. Mai 2015 - 2 StR 455/14 Rn. 23; Beschluss vom 25. April 2006 - 1 StR 579/05 Rn. 11). Die in diesem Zusammenhang allein erörterte ?Erpressbarkeit? des Angeklagten bis zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung greift ersichtlich zu kurz, wenn die Mutter schon vorher die Nebenklägerin beeinflusst und sich daran ?gebunden? gefühlt haben sollte.

dd) Zudem hat das Landgericht rechtsfehlerhaft seine Überzeugung auf fehlenden Belastungseifer der Nebenklägerin gestützt (insbesondere UA S. 45 f., 49, 51, 55). Die wiederholte Wertung, die Nebenklägerin habe vielfach Gelegenheiten zur Mehrbelastung nicht genutzt, ist für sich genommen nichtssagend; einem solchen Umstand kann allenfalls eine untergeordnete Bedeutung zukommen.

b) Die aufgezeigten Beweiswürdigungsfehler erfassen sämtliche Fälle. Auch die vom Angeklagten gegenüber der Mutter und dem Großvater dem Grunde nach eingeräumten Missbrauchstaten bedürfen jedenfalls mit Blick auf die Intensität und Anzahl der sexuellen Übergriffe der neuen Verhandlung. Dem nunmehr zur Entscheidung berufenen Tatgericht ist eine insgesamt neue, in sich stimmige Beweiswürdigung zu ermöglichen.

c) Die Adhäsionsentscheidung kann infolge der Aufhebung der Verurteilung ebenfalls keinen Bestand haben (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2021 - 1 StR 315/21 Rn. 14 mwN).

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass die Nachforschungen eines aussagepsychologischen Sachverständigen über ?informatorische Befragungen? dahingehend, wo beweiserhebliches Tatsachenmaterial zu finden ist, nicht hinausgehen dürfen. Sachaufklärung durch ihn - von der umfassenden Befragung des Opferzeugen im Rahmen der Exploration abgesehen - wäre mit § 80 StPO nicht zu vereinbaren (vgl. UA S. 27 und dazu BGH, Urteile vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 Rn. 31 f., BGHSt 45, 164, 174 und vom 14. November 1961 - 5 StR 445/61 Rn. 6; Rogall in SK-StPO, 5. Aufl., § 80 Rn. 16 ff.).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 253

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2022, 118; StV 2022, 369

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede