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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 958

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 109/21, Beschluss v. 16.06.2021, HRRS 2021 Nr. 958


BGH 1 StR 109/21 - Beschluss vom 16. Juni 2021 (LG Konstanz)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen; Ausschluss von Scheinerinnerungen).

§ 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt die sichere Verneinung von Pseudoerinnerungen voraus, dass entweder suggestive Einflüsse ausgeschlossen oder weitere Beweise angeführt werden, mit denen die Richtigkeit der Zeugenaussage belegt werden kann (BGH, Urteil vom 20. Mai 2015 - 2 StR 455/14 Rn. 19).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 2. Oktober 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die Revision der Nebenklägerin gegen das vorgenannte Urteil wird als unbegründet verworfen.

Die Nebenklägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Angeklagten insoweit im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

3. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels des Angeklagten, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen verurteilt und ihm auferlegt, an die Nebenklägerin einen Geldbetrag in Höhe von 10.000 Euro zu zahlen. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Die Revision der Nebenklägerin ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der 1983 geborene Angeklagte beaufsichtigte in den Jahren 1998 bis 2000 alle ein bis zwei Wochen abends als Babysitter die 1990 geborene Nebenklägerin und ihren jüngeren Bruder in deren Wohnung. Dabei kam es zu jeweils nicht näher feststellbaren Zeitpunkten zwischen Anfang 1998 und Ende 2000 im Schlafzimmer der Mutter der Nebenklägerin zu folgenden drei Taten, bei denen der Angeklagte und die Nebenklägerin jeweils völlig unbekleidet waren:

a) Der Angeklagte und die Nebenklägerin lagen auf einer neben dem Bett befindlichen Matratze. Dabei beugte sich der sexuell erregte Angeklagte über die Nebenklägerin und berührte mit seinem Penis deren Bauch, wodurch es zum Samenerguss kam (Fall II. 1. der Urteilsgründe).

b) Der Angeklagte schlug der Nebenklägerin bei einer anderen Gelegenheit vor, auszuprobieren, ob sein Penis in ihre Scheide passe. Dies lehnte die Nebenklägerin ab. Der Angeklagte legte sich gleichwohl auf die auf dem Rücken auf dem Bett liegende Nebenklägerin und versuchte, mit seinem Penis in ihre Scheide einzudringen, was für die Nebenklägerin schmerzhaft war. Sie forderte ihn deshalb zum Aufhören auf, drückte ihn mit den Händen weg und versetzte ihm Schläge. Daraufhin fixierte der Angeklagte die Beine der Nebenklägerin mit seinen Beinen und versuchte nach wie vor, in sie einzudringen. Trotz mehrerer Versuche gelang dies dem Angeklagten nicht und er ließ schließlich von der Nebenklägerin ab, obwohl ihm ein Eindringen tatsächlich und auch nach seiner Vorstellung weiter möglich gewesen wäre (Fall II. 2. der Urteilsgründe).

c) Bei einer weiteren Gelegenheit saß der Angeklagte auf der Bettkante. Er schlug der Nebenklägerin nun vor, auszuprobieren, ob sein Penis im Sitzen in ihre Scheide passe. Die Nebenklägerin setzte sich mit dem Gesicht zum Angeklagten auf dessen Schoß und der Angeklagte versuchte mit dem erigierten Penis in ihre Scheide einzudringen, was ihm jedoch nicht gelang. Auch als sich die Nebenklägerin auf seine Aufforderung mit dem Rücken zu ihm auf seinen Schoß setzte, war dem Angeklagten ein Eindringen in die Vagina der Nebenklägerin nicht möglich (Fall II. 3. der Urteilsgründe).

2. Der Angeklagte hat die Begehung der ersten Tat eingeräumt, die beiden weiteren Vorfälle aber bestritten. Das Landgericht ist auf Grund der Angaben der Nebenklägerin, die es als glaubhaft angesehen hat, von den Taten überzeugt. Es geht in rechtlicher Hinsicht davon aus, dass drei tatmehrheitliche Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern vorliegen. Vom unbeendeten Versuch der Vergewaltigung sei der Angeklagte im Fall II. 2. der Urteilsgründe strafbefreiend zurückgetreten.

II.

Die Verurteilung des Angeklagten hält bereits einer sachlichrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Eines Eingehens auf die ebenfalls erhobene Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO) in Bezug auf die Nichteinholung eines aussagepsychologischen Gutachtens bedarf es daher nicht.

1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist rechtsfehlerhaft.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn das Tatgericht zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung stellt. Allerdings bestehen besondere Anforderungen an die Begründung und Darstellung der Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht - wie hier - seine Feststellungen im Rahmen der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen allein auf die Angaben der Geschädigten stützt. In einer solchen Konstellation, in der die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, ob das Gericht den Angaben der einzigen Belastungszeugin folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegung einbezogen hat (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 6. August 2020 - 1 StR 178/20 Rn. 8; vom 12. Februar 2020 - 1 StR 612/19 Rn. 4; vom 18. März 2020 - 1 StR 67/20 Rn. 7; vom 5. April 2016 - 1 StR 53/16 Rn. 3 und vom 20. April 2017 - 2 StR 346/16 Rn. 6).

b) Diesen Anforderungen wird das Urteil des Landgerichts - auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs - nicht gerecht.

aa) So ist bereits die Wertung des Landgerichts, die Angaben der Nebenklägerin hinsichtlich aller Taten seien „subjektiv wahr“ und gäben „das jeweilige Geschehen objektiv richtig wieder“ (UA S. 14), - unabhängig davon, dass dieser rechtliche Maßstab im Hinblick auf die Relevanz der subjektiven Einschätzung bereits Bedenken begegnet - nicht tragfähig begründet. Denn die Nebenklägerin hatte - wie das Landgericht im Einzelnen ausgeführt hat (UA S. 12) - an den dem Fall II. 2. der Urteilsgründe zugrunde liegenden Sachverhalt keine genaueren Erinnerungen. Sie erinnerte sich lediglich an einen nassen Fleck auf dem Laken. Zudem konnte die Nebenklägerin nicht einordnen, ob es sich insoweit um ein gesondertes Geschehen gehandelt oder dieses mit den anderen Taten im Zusammenhang gestanden habe. Wie das Landgericht vor diesem Hintergrund zu der Einschätzung gelangt ist, die Nebenklägerin habe das objektive Geschehen insgesamt - insbesondere aber zu Fall II. 1. der Urteilsgründe - richtig wiedergegeben, erschließt sich dem Senat nicht.

bb) Des Weiteren ist die Wertung der Strafkammer nicht nachvollziehbar, die Nebenklägerin habe zu dem Kerngeschehen konstante Angaben bei ihrer polizeilichen Vernehmung durch die Polizeibeamtin S., deren Datum in den Urteilsgründen im Übrigen nicht mitgeteilt wird, und in der Hauptverhandlung gemacht, die sich mit ihren vorhergehenden Äußerungen gegenüber der kirchlichen Seelsorgerin Z. und ihren späteren Therapeutinnen decken (UA S. 17). Wie sich insbesondere aus der Darstellung des Landgerichts zu den Angaben der Nebenklägerin gegenüber der Therapeutin W. ergibt, waren die Ausführungen der Nebenklägerin vielmehr diffus und beinhalteten gerade keine Schilderung konkreter Vorfälle (UA S. 16).

cc) Auch sind die Überlegungen des Landgerichts, mit denen es fremdsuggestive Einflüsse auf den Aussageinhalt ausgeschlossen hat, lückenhaft. Das Landgericht hat zwar die Möglichkeit einer unbewussten Falschbelastung des Angeklagten durch die Nebenklägerin erörtert, wesentliche Gesichtspunkte dabei aber außer Acht gelassen. Nach den Feststellungen des Landgerichts vertraute sich die Nebenklägerin zunächst im Jahr 2009 der Seelsorgerin Z. an und suchte sodann nach der Pubertät während eines Zeitraums von zwei Jahren die Beratungsstelle „F.“ auf, führte von März 2017 bis Oktober 2018 eine ambulante Therapie bei Frau W. durch und wurde von Mitte Mai 2018 bis Ende Juli 2018 stationär in einer Klinik behandelt, bevor sie (erst) im Jahr 2018 - kurz vor ihrem 28. Geburtstag am 30. Juli 2018 - Anzeige gegen den Angeklagten erstattete. Insoweit setzt sich das Landgericht nicht rechtsfehlerfrei mit der Frage auseinander, ob es durch diesen langen Zeitraum und die verschiedenen Gespräche sowie die ambulante und stationäre Therapie vor Anzeigeerstattung zu suggestiven Einflüssen auf die Nebenklägerin und infolgedessen zu einer Scheinerinnerung gekommen sein könnte.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt die sichere Verneinung von Pseudoerinnerungen voraus, dass entweder suggestive Einflüsse ausgeschlossen oder weitere Beweise angeführt werden, mit denen die Richtigkeit der Zeugenaussage belegt werden kann (BGH, Urteil vom 20. Mai 2015 - 2 StR 455/14 Rn. 19; Hohoff, NStZ 2020, 387, 389). Soweit das Landgericht in diesem Zusammenhang - gestützt auf die Angaben der Therapeutinnen W. und Fr. - zum Ausschluss einer Fremdsuggestion darauf verweist, dass weder in der ambulanten noch in der stationären Therapie eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Tatgeschehen stattgefunden habe, reicht dies vor dem Hintergrund, dass es nach den Angaben dieser Zeuginnen in den Therapien gerade darum gegangen sei, die Nebenklägerin darin zu unterstützen, die Vorgänge zur Anzeige zu bringen (UA S. 16 und 17), nicht aus. Dass die Taten Gegenstand der Therapie zumindest bei der Therapeutin W. waren, ergibt sich auch daraus, dass der Angeklagte im Juni 2018 nach den Feststellungen des Landgerichts einen gemeinsamen Termin mit der Nebenklägerin wahrnahm und seine Darstellung des Geschehens von der Therapeutin W. auf Tonträger aufgezeichnet wurde (UA S. 8). Dem entspricht die Darstellung des Angeklagten, der sich dahingehend eingelassen hat, die Nebenklägerin habe ihn gebeten, sie zu einem Termin bei ihrer Therapeutin zu begleiten, „um sich zu erinnern“ (UA S. 10). Gänzlich unerörtert bleibt rechtsfehlerhaft zudem eine mögliche Suggestion durch die Seelsorgerin Z. und durch Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle „F. “, denen sich die Nebenklägerin bereits vor dem Beginn der Therapien anvertraut hatte.

Rechtsfehlerhaft ist in diesem Zusammenhang auch die Erwägung des Landgerichts, eine Scheinerinnerung könne aufgrund der Entstehungsgesichte der „Aussage mit vielen Realitätskennzeichen“ ausgeschlossen werden (UA S. 19). Pseudoerinnerungen können nicht ohne Weiteres durch merkmalsorientierte Aussageninhaltsanalysen überprüft werden (vgl. BGH, Beschluss vom 29. März 2021 - 2 StR 450/19 Rn. 37; Hohoff, NStZ 2020, 387, 389, jeweils mwN). Denn scheinbare Realkennzeichen sind bei Pseudoerinnerungen in ähnlicher Weise anzutreffen wie in realen Erlebnisbeschreibungen (vgl. bereits BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 171 f.).

dd) Schließlich begegnet der Schluss des Landgerichts von der ganz erheblichen psychischen Belastung der Nebenklägerin darauf, dass es zu erheblicheren Vorfällen als zu der von dem Angeklagten eingeräumten Tat (Fall II. 1. der Urteilsgründe) gekommen sein muss (UA S. 19), rechtlichen Bedenken. Dies gilt bereits im theoretischen Ansatz, da ein Zirkelschluss darin liegt, aus einer festgestellten psychischen Belastung oder Traumatisierung auf die Tatbegehung durch den Angeklagten und eine Verursachung der bestehenden Symptomatik durch das (noch) fragliche Sexualdelikt zu schließen (vgl. jeweils hinsichtlich einer Traumatisierung: Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl., Rn. 1878c; Köhnken/Gallwitz, Fehlerquellen in aussagepsychologischen Gutachten, in: Deckers/Köhnken [Hrsg.], Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess [2021], 17, 29; Niehaus, PraxRPsych 28 [2018], 99, 105). Dies gilt hier umso mehr, als das Landgericht ausgeführt hat, dass die vielfältigen Beschwerden der Nebenklägerin ihre Ursache jedenfalls auch in ihrer schwierigen familiären Situation mit einer Trennung der Eltern und späterer Wiederheirat der Mutter mit einem Mann, der vier Kinder - davon zwei geistig behindert - mit in die Ehe brachte, gehabt haben könnten (UA S. 8).

2. Die Sache bedarf deshalb insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Für das neue Tatgericht wird es dabei naheliegend sein, im Blick auf den lange zurückliegenden Tatzeitraum sowie zur Auseinandersetzung mit möglichen suggestiven Einflüssen ein aussagepsychologisches Gutachten zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin einzuholen.

III.

Die Revision der Nebenklägerin ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

Wie vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 15. April 2021 bereits näher ausgeführt, hat die Überprüfung des Urteils keinen auf die Revision der Nebenklägerin hin beachtlichen Rechtsfehler (§ 400 Abs. 1 StPO) ergeben.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 958

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 345; StV 2022, 215

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede