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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 10

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 291/21, Beschluss v. 02.11.2021, HRRS 2022 Nr. 10


BGH 1 StR 291/21 - Beschluss vom 2. November 2021 (LG Karlsruhe)

Fehlende Schuldfähigkeit (Voraussetzungen: zweistufige Prüfung, erforderliche Darstellung im Urteil).

§ 20 StGB, § 21 StGB; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein (st. Rspr.).

2. Hierzu ist der Richter für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 22. April 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen bleiben aufrechterhalten.

2. Die weitergehenden Revisionen werden als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten A. wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Den Angeklagten M. hat es wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die hiergegen mit der Sachrüge geführten Revisionen der Angeklagten haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen sind sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Die angeklagten Brüder A. und M. begaben sich am 28. Juli 2020 gegen 18.00 Uhr gemeinsam zu dem Bahnhof in W., wo sie am Bahnsteig zufällig auf den ihnen völlig unbekannten 54-jährigen G. trafen, der in einem überdachten und verglasten Wartebereich auf einer Bank saß. Während der Angeklagte M. sich von dem Zeugen G. abwandte und in Richtung Unterführung ging, beschloss der Angeklagte A. spontan, seine Wut und Enttäuschung über seine Lebenssituation in Deutschland an dem Zeuge auszulassen.

Er trat hierzu an den Zeugen heran, nahm ihm die Schildmütze vom Kopf und schlug damit mindestens zehnmal auf den Kopf- und Halsbereich des Zeugen ein. Der Angeklagte, dem es allein darauf ankam, sich an einer zufällig ausgewählten Person abzureagieren, fasste nun den Entschluss, den Zeugen vor einen einfahrenden Zug in das Gleisbett zu stoßen, um diesen zu töten. Er packte den Fuß des Zeugen und zog kräftig daran, sodass dieser zu Boden ging. Dann zog er ihn zu der etwa vier Meter entfernten Bahnsteigkante und stieß ihn in das Gleisbett. Der Zeuge G. versuchte, aus dem Gleisbett zu klettern. Dies verhinderte der Angeklagte aber selbst dann noch, als sich ein Güterzug mit einer Geschwindigkeit von etwa 90 km/h dem Zeugen näherte und laute Warnsignale abgab, indem er fortwährend auf den im Gleisbett Stehenden einschlug und eintrat. Der Angeklagte A. ging davon aus, dass der Zeuge bei der Durchfahrt des Güterzuges „höchstwahrscheinlich zu Tode“ (UA S. 11) kommen würde. Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten überlebte der Zeuge jedoch dank seiner schmalen Statur schwer verletzt, da es ihm gelang, sich in eine Lücke von 19 cm zwischen der Wand des Bahnsteigs und dem durchfahrenden Zug zu zwängen.

Unmittelbar vor der Ankunft des Zuges rannte der Angeklagte M. zu seinem Bruder auf den Bahnsteig und packte ihn am Arm, um ihm zu signalisieren, dass man „abhauen“ müsse. M. rechnete damit, dass der Zeuge sich bei der Durchfahrt des Zuges schwer verletzen würde und deshalb - „im Falle des für möglich gehaltenen Überlebens“ (UA S. 11) - auf Hilfe angewiesen sein würde. Dennoch verließ der Angeklagte gemeinsam mit seinem Bruder den Bahnhofsbereich, ohne dem Zeugen Hilfe geleistet zu haben.

2. Der psychiatrischen Sachverständigen folgend hat das Landgericht angenommen, die Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit beider Angeklagten sei zum Tatzeitpunkt jeweils nicht erheblich eingeschränkt oder aufgehoben gewesen. Zwar würden beide Angeklagte an der Grunderkrankung einer paranoiden Schizophrenie leiden; zum Tatzeitpunkt habe sich jedoch keiner von ihnen in einer Phase akuter Dekompensation der Grunderkrankung befunden.

Nach den Angaben der Sachverständigen zeigte der Angeklagte A. im Rahmen der Exploration am 16. November 2020 zwar „keine zureichenden Anknüpfungspunkte für eine ... bestehende psychische Erkrankung“ (UA S. 13). Die im Arztbrief des Justizvollzugskrankenhauses geschilderten Symptome, die der Angeklagte dort bei Aufnahme am 31. Juli 2020 gezeigt habe und die im Wesentlichen mit den Symptomen übereinstimmten, die bereits bei einem Krankenhausaufenthalt im August 2017 beschrieben worden seien, ließen „schließlich doch den hinreichenden Schluss“ auf das Bestehen der Grunderkrankung einer paranoiden Schizophrenie zu (UA S. 13). Denn die im Justizvollzugskrankenhaus bei Aufnahme gezeigten Symptome des Angeklagten „stellten die typische Symptomatik einer psychotischen Dekompensation im Rahmen einer psychotischen Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis dar, mithin einer paranoiden Schizophrenie“ (UA S. 14), sodass das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB vorliege.

Der Sachverständigen folgend hat das Landgericht angenommen, dass „keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben (seien), dass ein Zusammenhang der bei dem Angeklagten A. vorliegenden Grunderkrankung ... mit dem Tatgeschehen bestanden“ habe (UA S. 34). Dafür spreche der Umstand, dass der Angeklagte der Sachverständigen gegenüber „reflektiert sowie zeitlich und örtlich orientiert aus seiner Sicht über das Tatgeschehen berichtet“ habe (UA S. 34) und „keinerlei entsprechende psychodiagnostische Beweisanzeichen in dem durch die Zeugen dargelegten Geschehen ersichtlich“ seien (UA S. 34).

II.

1. Die Verurteilungen halten sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Hinsichtlich der Schuldsprüche beider Angeklagten liegt in den widersprüchlichen Feststellungen des Landgerichts zum Vorstellungsbild der Angeklagten zu einer Lebensgefahr für den Zeugen G. jeweils ein durchgreifender Rechtsfehler.

Nach den getroffenen Feststellungen erkannte der Angeklagte M., dass sich der Zeuge G. infolge der Durchfahrt des Güterzuges schwere Verletzungen zuziehen werde und sich daher in Lebensgefahr befand (UA S. 11, 33). Zudem habe er damit gerechnet, dass der Zeuge schwer verletzt werde und „im Falle des für möglich gehaltenen Überlebens“ (UA S. 11) Hilfe benötige. Davon abweichend hat das Landgericht hinsichtlich des Vorstellungsbildes des Angeklagten A. hingegen festgestellt, dass dieser davon ausging, der Zeuge werde „höchstwahrscheinlich zu Tode“ kommen (UA S. 11). Zur Begründung eines beendeten Versuchs legt das Landgericht zudem dar, dass der Angeklagte A. „nach seiner Vorstellung von der Tat ... alles getan (hatte), dass der Geschädigte G. nunmehr vom Zug überfahren und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch verstirbt“ (UA S. 31). Diesen Widerspruch in den Vorstellungsbildern zur Lebensgefahr für den Zeuge G. löst das Landgericht in den Urteilsgründen auch nicht auf.

b) Auch die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten A. hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, so dass der Schuldspruch dieses Angeklagten auch aus diesem Grund keinen Bestand hat.

aa) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 30. März 2017 - 4 StR 463/16 Rn. 10; vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 399/16 Rn. 11 und vom 1. Juli 2015 - 2 StR 137/15 Rn. 17; Beschluss vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13 Rn. 7). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist der Richter für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 30. März 2017 - 4 StR 463/16 Rn. 10 und vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 399/16 Rn. 11; Beschluss vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15 Rn. 5).

bb) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.

(a) Bereits die Annahme, der Angeklagte leide unter einer Grunderkrankung der paranoiden Schizophrenie, wird vom Landgericht nicht tragfähig begründet.

(aa) Schließt sich der Tatrichter - wie hier - den Ausführungen eines Sachverständigen an, müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2017 - 4 StR 463/16 Rn. 13; Beschlüsse vom 19. Januar 2017 - 4 StR 595/16 Rn. 8; vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15 Rn. 4 und vom 20. April 2016 - 1 StR 62/16 Rn. 11).

(bb) Das Urteil lässt jedoch bereits Feststellungen dazu vermissen, wie sich die Symptome, die der Angeklagte A. während des Aufenthalts im Justizvollzugskrankenhaus gezeigt haben soll, konkret geäußert haben. Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der Angeklagte nach seiner vorläufigen Festnahme am 29. Juli 2020 zunächst in der Justizvollzugsanstalt aufgenommen, aber zwei Tage später in das Justizvollzugskrankenhaus verlegt. Dort befand er sich bis zum 9. Februar 2021. Zwar findet sich im Urteil eine Aufzählung der von dem Angeklagten dort am 31. Juli 2020 gezeigten Symptome („Symptome der optischen und akustischen Halluzinationen, des Mutismus, d.h. einer Sprachsperrung, der Nahrungs- und Flüssigkeitsverweigerung, der sprunghaften Gedankenverläufe und der allgemein kognitiven Einschränkungen“ [UA S. 14]). Nähere Angaben dazu, wie sich die einzelnen Symptome gezeigt haben, fehlen jedoch. Dabei bleibt nicht nur offen, ob insbesondere die benannten optischen und akustischen Halluzinationen des Angeklagten allein auf dessen Angaben beruhen oder ob diese objektivierbar waren, sondern es fehlen auch Ausführungen dazu, ob Hinweise dafür bestanden, dass der Angeklagte unter imperativen oder beleidigenden Stimmen litt.

(cc) Vor dem Hintergrund der Feststellungen zum Suchtmittelkonsum und dem Krankheitsverlauf des Angeklagten A. lassen die Ausführungen des Landgerichts auch eine - sich aufdrängende - Auseinandersetzung mit der Differentialdiagnose einer drogeninduzierten Psychose (ICD-10 F19.5) vermissen.

Nach den Feststellungen konsumierte der Angeklagte „zuletzt“ (UA S. 5) täglich durchschnittlich zwei Gramm Cannabis sowie gelegentlich Kokain und Crystal Meth. Auf den Umstand, dass es sich dabei um Substanzen handelt, die eine drogeninduzierte Psychose auslösen können (vgl. Müller/Nedopil, Forensische Psychiatrie, 5. Aufl., S. 159, 162, 163), geht das Landgericht nicht ein. Auch fehlen Feststellungen dazu, wann der Angeklagte vor der Tat zuletzt Betäubungsmittel konsumierte.

Darüber hinaus wurde der Angeklagte nach den Ausführungen der Sachverständigen, denen das Landgericht auch insoweit folgt, nur drei Tage nach der Tat mit einer Reihe von Symptomen, die die „typische Symptomatik einer psychotischen Dekompensation im Rahmen einer psychotischen Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis“ darstellen (UA S. 14), in das Justizvollzugskrankenhaus eingewiesen. Da zum Zeitpunkt der Exploration Mitte November 2020 „keine zureichenden Anknüpfungspunkte“ für eine psychische Erkrankung des Angeklagten mehr vorlagen (UA S. 13), steht auch insoweit der Verdacht einer drogeninduzierten Psychose, bei der sich die Symptome spätestens binnen sechs Monaten vollständig zurückbilden (vgl. Müller/Nedopil, Forensische Psychiatrie, 5. Aufl., S. 159), im Raum. Nach den Feststellungen kam es zudem bereits im August 2017 „unter Intoxikationsbedingungen infolge von Betäubungsmittelkonsum ... zu einer psychischen Krise“ mit Symptomen, die denen bei der Aufnahme im Justizvollzugskrankenhaus ähnelten, sodass der Angeklagte „kurzzeitig“ in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden musste (UA S. 5). Zu alledem verhält sich das Landgericht nicht.

(b) Auch die Annahme, die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten A. sei zum Tatzeitpunkt weder aufgehoben noch erheblich vermindert gewesen, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

(aa) Der Sachverständigen folgend hat das Landgericht den Umstand, dass der Angeklagte im Rahmen der Exploration „reflektiert sowie zeitlich und örtlich orientiert aus seiner Sicht über das Tatgeschehen berichtet“ habe (UA S. 34), als Argument gegen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit herangezogen. Schon vor dem Hintergrund, dass das Landgericht die Angaben des Angeklagten A. zum unmittelbaren Tatgeschehen - in rechtlich nicht zu beanstandender Weise - nicht für glaubhaft hält, ist dies nicht tragfähig (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. Januar 2019 - 1 StR 448/18 Rn. 5 und vom 7. Februar 2012 - 5 StR 545/11 Rn. 7). Zudem ist der indizielle Beweiswert eines intakten Erinnerungsvermögens für die Beurteilung der Schuldfähigkeit ganz generell problematisch (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 2019 - 1 StR 448/18 Rn. 5; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 20 Rn. 24b).

(bb) Im Rahmen der Beweiswürdigung der Schuldfähigkeit setzt sich das Landgericht zudem nicht mit dem Umstand auseinander, dass der Angeklagte nur drei Tage nach der Tat mit typischen Symptomen einer psychischen Dekompensation (UA S. 14) in das Justizvollzugskrankenhaus eingeliefert worden ist. Das Landgericht beschränkt sich darauf, im Hinblick auf das „durch die Zeugen dargelegte Geschehen“ (UA S. 34) und den „reflektiert(en) sowie zeitlich und örtlich orientiert(en)“ (UA S. 34) Bericht des Angeklagten darzulegen, dass „keinerlei Anhaltspunkte“ dafür gegeben seien, dass ein Zusammenhang zwischen der bei dem Angeklagten vorliegenden Grunderkrankung und dem Tatgeschehen besteht (UA S. 34). Angesichts des engen zeitlichen Zusammenhangs der Einweisung des Angeklagten in das Haftkrankenhaus und der Tat wäre jedoch zu erläutern gewesen, inwieweit eine zum Tatzeitpunkt vollständig erhaltene Einsichts- und Steuerungsfähigkeit mit diesem Umstand in Einklang zu bringen ist. Ebenso wenig setzt sich das Landgericht mit dem Umstand auseinander, dass sich der Angeklagte „im unmittelbaren Zeitraum vor dem 28.07.2020 ... sichtbar verändert(e)“ (UA S. 8).

2. Die Feststellungen zur subjektiven Tatseite sowie zur Schuldfähigkeit der Angeklagten sind deshalb aufzuheben; das neue Tatgericht wird insoweit - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines weiteren psychiatrischen Sachverständigen - neue Feststellungen zu treffen haben. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen beruhen hingegen auf einer nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung und sind von den aufgezeigten Rechtsfehlern nicht betroffen; sie können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht kann insoweit ergänzende Feststellungen treffen, die den bisherigen nicht widersprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 10

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2022, 38; StV 2022, 285

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede