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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 955

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 137/15, Urteil v. 01.07.2015, HRRS 2015 Nr. 955


BGH 2 StR 137/15 - Urteil vom 1. Juli 2015 (LG Köln)

Verminderte Schuldfähigkeit (zweistufige Prüfung des fehlenden Hemmungsvermögens).

§ 21 StGB; § 20 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Entscheidung, ob das Hemmungsvermögen des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (vgl. BGH StV 2013, 694); jedoch sind die Prüfungspunkte miteinander verzahnt. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine Störung im psychiatrischen Sinn vorliegt. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung im Hinblick auf das Vorliegen eines Eingangsmerkmals und anschließend die Erheblichkeit des Einflusses auf das Hemmungsvermögen gemäß § 21 StGB zu untersuchen.

2. Hierzu ist der Richter jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befundes wie bei der Prüfung erheblich eingeschränkter Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit um Rechtsfragen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 15. Dezember 2014 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen, mit Ausnahme derjenigen zum äußeren Tatgeschehen, aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Nach Aufhebung eines ersten Urteils durch Senatsbeschluss vom 17. April 2014 - 2 StR 405/12 (NJW 2014, 2738), wobei aber die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrecht erhalten wurden, hat das Landgericht den Angeklagten mit dem angefochtenen Urteil wegen Betrugs in 29 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt sowie ausgesprochen, dass davon zwei Monate als bereits vollstreckt gelten. In den Niederlanden erlittene Auslieferungshaft hat es im Verhältnis von eins zu eins angerechnet. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten, der das Rechtsmittel in der Revisionshauptverhandlung auf den Strafausspruch beschränkt hat. Die Revision hat in diesem Umfang Erfolg.

I.

Nach den bindend gewordenen Feststellungen zur Tat beschloss der Angeklagte im Herbst 2005 noch während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe wegen gleichartiger Taten, Kunden in schwierigen finanziellen Verhältnissen eine Leasingfinanzierung anzubieten und dabei Vorschusszahlungen zu verlangen. Im Februar 2006 gründete er mit dem gesondert verfolgten S. die H. mit Sitz in M. Das Unternehmen unterbreitete Interessenten jeweils Angebote für eine Finanzierung, wobei eine Vorausgebühr ab Erteilung einer Darlehenszusage in Höhe von fünf vom Hundert der Darlehenssumme verlangt wurde. Unmittelbar nach Erbringung dieser „Sonderzahlung“ übernahm eine „Refinanzierungsabteilung“ des Unternehmens die Sachbearbeitung und forderte umfangreiche Bonitätsauskünfte sowie die Vorlage weiterer Unterlagen ein. Danach wurde der Vertrag jeweils mit Hinweis auf ein Verschulden des Kunden gekündigt, und die H. machte gegen die Kunden auch Schadensersatzansprüche geltend, bis diese einer Aufhebungsvereinbarung unter Verzicht auf die Rückzahlung der Vorausgebühr zustimmten. Über ausreichende Mittel oder Refinanzierungsmöglichkeiten zur Darlehensgewährung an die Kunden verfügte die H. nicht.

Gegenstand der Verurteilung sind Sonderzahlungen von Kunden aufgrund von Darlehenszusagen durch Mitarbeiter der H. In einem Teil der Fälle hatte der Angeklagte, der als faktischer Geschäftsführer des Unternehmens aufgetreten war, neben anderen Personen selbst am Vertragsabschluss mitgewirkt. Andere Fälle hat ihm das Landgericht als uneigentliches Organisationsdelikt zugerechnet.

II.

Die Rechtsmittelbeschränkung in der Revisionshauptverhandlung, welcher der Generalbundesanwalt zugestimmt hat, ist wirksam.

Der Senat schließt - unbeschadet des Vorliegens eines Rechtsfehlers bei der Prüfung der §§ 20, 21 StGB (dazu sogleich unter III.) - aus, dass ein neues Tatgericht zu der Feststellung der Schuldunfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit gelangen würde. Dagegen sprechen unter anderem die Vorausplanung der Tat bereits in der Haft und die lange Dauer des komplexen Tatgeschehens.

III.

Die Revision hat im verbleibenden Umfang Erfolg; sie führt zur Aufhebung des Strafausspruchs mit den zugehörigen Feststellungen. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen sind, auch soweit sie doppelrelevant wirken, bereits bindend geworden, was der Senat klargestellt hat.

1. In dem vom Senat aufgehobenen ersten Urteil war das Fehlen der Fähigkeit des Angeklagten zur Einsicht in das Unrecht der Betrugshandlungen nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen worden. Nunmehr hat das Landgericht angenommen, zur Tatzeit habe der Angeklagte mit Unrechtseinsicht gehandelt. Seiner Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung nach dieser Einsicht habe keine schwere andere seelische Abartigkeit entgegengestanden. Seine Feststellung vorhandener Unrechtseinsicht ist rechtsfehlerfrei. Jedoch unterliegt die Verneinung einer erheblichen Verminderung des Hemmungsvermögens durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

2. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der heute 62jährige Angeklagte unter einer histrionischen Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und dissozialen Anteilen. Schon als Kind hatte er Geld entwendet, um sich mit Zuwendungen Freundschaften zu erkaufen. Nie nahm er später eine intime Beziehung auf. Sein gesamtes Streben als Erwachsener war darauf gerichtet, die Mitarbeiter seiner Unternehmungen an sich zu binden, die er als „Ersatzfamilie“ betrachtete und in eine Vielzahl von Freizeitaktivitäten einbezog. Er unterstützte nicht nur seine Mitarbeiter finanziell, sondern sogar die Eltern der zum Personal der H. gehörenden Brüder S. Der Angeklagte reagierte „indigniert bis beleidigt“, wenn sich die Mitarbeiter seinem Wunsch nach engem Kontakt verschlossen.

Das Landgericht hat ausgeführt, zwar liege das Vollbild einer Persönlichkeitsstörung vor; jedoch habe diese Störung nicht dasselbe Belastungsgewicht wie eine seelische Krankheit. Sie erfülle nicht das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB.

Die Störung habe allerdings dazu geführt, dass der Angeklagte sich in der gesamten Tatstruktur ein Konstrukt geschaffen habe, in welchem er nicht nur beruflich, sondern auch im Persönlichen der „Chef“ gewesen sei. Die Störung sei in seiner Persönlichkeit absolut prägend. Aufgrund einer Selbstwertstörung habe er eine Rolle eingenommen, die ihn besonders „großartig“ erschienen ließ. In Fantasien über einen Finanzierungserfolg und der Behandlung des gesondert verfolgten S. als seinen künftigen „Nachfolger“ im Sinne dynastischer Großkonzerne seien narzisstische Züge zu erkennen. Er habe sich in Beziehungen verstrickt, über deren Motivation man nur spekulieren könne und die scheitern mussten, weil er seine „Ziehsöhne“ stets nach seinen Vorstellungen „umzugestalten“ versucht habe.

Gleichwohl habe die Störung das Leben des Angeklagten nicht vergleichbar schwer und mit ähnlichen sozialen Folgen beeinträchtigt, wie eine krankhafte seelische Störung. Sein „soziales Funktionsniveau“ sei dafür zu hoch gewesen. Eine stereotype Lebensgestaltung wie bei einem Drogenabhängigen habe nicht vorgelegen, sondern ein unauffällig strukturierter Tagesablauf, der sowohl Arbeit als auch Freizeitverhalten eingeschlossen habe. Beruflich wie privat habe der Angeklagte ein Maß an Flexibilität gezeigt, das von einem Menschen mit einer krankhaften seelischen Störung nicht erwartet werden könne. Er sei auch grundsätzlich in einer Weise kontaktfähig gewesen, wie sie „von einem Patienten mit einer krankhaften seelischen Störung - etwa mit einem psychotischen Residualsyndrom - keinesfalls zu erwarten“ gewesen sei. Probleme bei der Affektregulation und ähnliche störungsbedingte Beeinträchtigungen seien nicht zu beobachten gewesen. Vor diesem Hintergrund sei festzustellen, dass die Einsicht des Angeklagten in das Unrecht der Serientaten nicht ausgeschlossen gewesen sei.

b) Gegen diese Beurteilung bestehen durchgreifende rechtliche Bedenken. Sie lenken den Blick auf die Unrechtseinsicht des Angeklagten und vernachlässigen die Frage einer Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens.

aa) Richtig ist zwar, dass nicht bereits die gesicherte Diagnose einer histrionischen Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und dissozialen Anteilen mit einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ in § 20 StGB gleichzusetzen ist (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52). Jedoch kann das Eingangsmerkmal im Einzelfall bei einem solchen Befund erfüllt sein. Dabei sind der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit von Bedeutung.

Für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist im Allgemeinen maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des Delikts zu Einschränkungen des sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (BGH aaO). Insoweit ist die Unterscheidung von beruflichen und privaten Aktivitäten des Angeklagten dadurch erschwert, dass seine vielfältigen „privaten“ Aktivitäten - „durchgängig“ unter Einbeziehung der Mitglieder seiner „Ersatzfamilie“ - gerade Ausdruck seiner Persönlichkeitsstörung waren. Im Vordergrund der Prüfung müssten daher die Wahrnehmung der eigenen und anderer Personen, die emotionalen Reaktionen, die konkrete Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Impulskontrolle stehen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 494/12, BGHR StGB § 20 seelische Abartigkeit 6). Damit hat sich das Landgericht unter einem falschen Blickwinkel beschäftigt.

So wäre etwa auch die Unfähigkeit des Angeklagten, eine intime Partnerschaft einzugehen und deren vollständige Ersetzung durch die intensive berufliche wie private Beziehung zu den Mitarbeitern als Ausdruck der Störung in die Gesamtschau einzubeziehen. Deshalb grenzt die landgerichtliche Annahme des Vorliegens eines normalen Sozialverhaltens mit „hohem Funktionsniveau“ ein nur scheinbar intaktes Privatleben in unzutreffender Weise von Störungssymptomen ab. Zumindest hat das Landgericht die Bedeutung dieses Aspekts im Unklaren gelassen, indem es angemerkt hat, über die Gründe dafür, dass der Angeklagte zweifelhafte Beziehungen mit Personen aufgenommen hat, die ihn - wie er wusste - stets ausgenutzt haben, können „nur spekuliert“ werden.

bb) Das Landgericht hat die Zielrichtung der Prüfung, ob ein Eingangsmerkmal im Sinne des § 20 StGB vorliegt und die Schuldfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 21 StGB erheblich beeinträchtigt war, im Hinblick auf die Frage des Hemmungsvermögens vernachlässigt, weil es sich auf die Frage der Unrechtseinsicht konzentriert hat. Auch deshalb hat es eine fragwürdige Gewichtung der Störung vorgenommen.

Die Entscheidung, ob das Hemmungsvermögen des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (vgl. BGH, Urteil vom 17. April 2012 - 1 StR 15/12, StV 2013, 694); jedoch sind die Prüfungspunkte miteinander verzahnt (vgl. zur Problematik Fischer, StGB 62. Aufl. § 20 Rn. 5, 5a m.w.N.). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine Störung im psychiatrischen Sinn vorliegt, was hier mit dem „Vollbild einer Persönlichkeitsstörung“ eindeutig der Fall ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung im Hinblick auf das Vorliegen eines Eingangsmerkmals und anschließend die Erheblichkeit des Einflusses auf das Hemmungsvermögen gemäß § 21 StGB zu untersuchen. Hierzu ist der Richter jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befundes wie bei der Prüfung erheblich eingeschränkter Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit um Rechtsfragen. Diese Fragen hat das Landgericht nicht in einer nachvollziehbaren Weise beantwortet.

Sein Vergleich der Bedeutung der Persönlichkeitsstörung des Angeklagten mit der Beeinträchtigung eines Drogensüchtigen wirkt unpassend. Jedenfalls hat die Strafkammer nicht näher überprüft, inwieweit die störungsbedingte Sucht des Angeklagten danach, die Mitglieder seiner Ersatzfamilie an sich zu binden, sein Sozialverhalten und das hiermit auf das Engste verknüpfte Tatverhalten beherrscht hat. In diese Prüfung wäre zudem der festgestellte Konsum des angstlösenden Medikaments Lorazepam (Tavor) als konstellativer Faktor einzubeziehen gewesen.

Schließlich liegt der Erwägung des Landgerichts, der Angeklagte habe die Abläufe in dem - ausschließlich auf Betrug ausgerichteten - Unternehmen zu organisieren und dabei auch Verträge zu entwerfen vermocht, was ein Mensch im Residualsyndrom einer Psychose nicht hätte leisten können, ein fehlerhafter Vergleich zu Grunde. Die Fähigkeit zu einem bestimmten Handeln des Täters enthält keine abschließende Aussage über seine Möglichkeit, ausreichende Hemmungen gegen dieses Handeln aufzubauen.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 955

Externe Fundstellen: NJW 2015, 3319

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel