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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 922

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 2 BGs 408/20, Beschluss v. 16.12.2020, HRRS 2021 Nr. 922


BGH Ermittlungsrichter 2 BGs 408/20 - Beschluss vom 16. Dezember 2020

Grundsatz der Aktenwahrheit und -vollständigkeit bei Prüfung durch den Ermittlungsrichter (Richtervorbehalt; Rechtsstaatsprinzip; Staatsanwaltschaft als Herrin des Vorverfahrens; Antrag unter Beifügen einer Auswahl; konkludente Zusicherung; be- und entlastende Umstände; Unvollständigkeit; freiheitsentziehende Maßnahmen; Haft- und Unterbringung; Vermerk sämtlicher Ermittlungsmaßnahmen; Unzulässigkeit einer „vorläufigen Ermittlungsakte“; Staatsschutzsachen).

§ 147 StPO; § 161 StPO; § 162 StPO; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Durch den Richtervorbehalt wird eine vorbeugende Kontrolle der beantragten Ermittlungsmaßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz garantiert, die insbesondere dafür zu sorgen hat, dass die Interessen des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden. Um eine eigenverantwortliche und ordnungsgemäße Prüfung durch den Richter zu ermöglichen, ist es erforderlich, dass die Ermittlungsbehörden die Einhaltung des Grundsatzes der Aktenwahrheit und der Aktenvollständigkeit gewährleisten.

2. Die Staatsanwaltschaft als Herrin des Vorverfahrens hat gewissenhaft dafür Sorge zu tragen, dass der Ermittlungsrichter seine Entscheidungen auf der Grundlage aller maßgeblichen, bis zu dem jeweiligen Zeitpunkt angefallenen - be- und entlastenden - Ermittlungsergebnisse treffen kann. Schließt die Staatsanwaltschaft ihrem Antrag auf Anordnung einer gerichtlichen Untersuchungshandlung (§ 162 StPO) nur ausgewählte Teile der Ermittlungsakten bei, so erklärt sie hierdurch stets zugleich, dass diese Auswahl nach ihrer eigenverantwortlichen Prüfung dem besagten Maßstab entspricht.

3. Ist eine von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Auswahl entgegen einer konkludenten Vollständigkeitserklärung für die Entscheidung der konkreten gerichtlichen Untersuchungshandlung unvollständig, kann dies im Einzelfall den Verlust der hierdurch erlangten Beweismittel besorgen lassen. Zugleich besteht in diesen Verfahrenskonstellationen grundsätzlich kein Raum mehr, auch fortan weitere ermittlungsrichterliche Anordnungen lediglich auf der Grundlage einer staatsanwaltschaftlichen Auswahl von Ermittlungsergebnissen zu erwirken. Vielmehr ist jedenfalls von diesem Zeitpunkt an grundsätzlich die Vorlage der gesamten Ermittlungsakte zur Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen der beantragten gerichtlichen Untersuchungshandlungen erforderlich.

4. Soll im Ermittlungsverfahren ein Haft- oder Unterbringungsbefehl und damit eine freiheitsentziehende Ermittlungsmaßnahme erwirkt werden, kommt allerdings die Vorlage nur ausgewählter Aktenteile nicht in Betracht. Denn die entsprechende Dokumentation des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens als Grundlage einer eigenverantwortlichen und unabhängigen Anordnung des Ermittlungsrichters sichert gerade auch den effektiven Rechtsschutz des Beschuldigten bei beantragten Freiheitsentziehungen im strafprozessualen Ermittlungsverfahren ab und verleiht dem in Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Richtervorbehalt und seiner Sicherungsfunktion besondere Wirkmacht.

5. Es steht nicht im Belieben der Ermittlungsbehörden, ob sie strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen in den Akten vermerken. Die Akten sollen die lückenlose Information über die im Verfahren angefallenen schriftlichen Unterlagen gewährleisten. Es ist den Ermittlungsbehörden daher grundsätzlich die Vornahme einer Selektion ebenso verwehrt wie das - auch zeitweilige - Fernhalten von Erkenntnissen aus den Akten. Lediglich Einzelheiten der Durchführung und des Verlaufs konkreter Untersuchungshandlungen müssen in der Regel nicht zwingend angegeben werden.

6. Unvereinbar mit den strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Maßgaben ist eine „vorläufige Ermittlungsakte“, in der - verstanden als Provisorium - die Ermittlungshandlungen zunächst dokumentiert werden, allerdings unter dem Vorbehalt, später eine neue Aktenordnung, eine vollständig andere Sortierung oder gar einen anderen Inhalt der Akten „aufzubauen“. Dessen ungeachtet besteht freilich in Einzelfällen die Möglichkeit, Aktenteile etwa der Leitakte zu entnehmen, einem anderen (Sonder-) Band der Verfahrensakten beizuschließen und dies - etwa durch Fehlblätter - aktenkundig zu machen. Für einen jederzeit möglichen vollständigen „Aktenumbau“ besteht hingegen kein rechtlich schutzwürdiges Bedürfnis.

7. Auch in Ermittlungsverfahren wegen Staatsschutzsachen werden die „schützenden Formen“ des deutschen Strafprozesses nicht suspendiert; die Aktenführung muss auch hier eine zuverlässige Rekonstruktion des Verfahrensstandes ermöglichen und namentlich belegen, welche Verdachtsmomente gegen einen konkreten Beschuldigten zu welchem Zeitpunkt im Verfahren vorlagen.

Entscheidungstenor

Der Antrag des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof vom 3. Juni 2020 wird abgelehnt.

Gründe

A.

1 Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof führt unter dem Aktenzeichen 2 BJs 184/20-3 ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten.

I.

Mit seiner Einleitungsverfügung vom 16. April 2020 legt der Generalbundesanwalt diesem zur Last, sich im September 2015 in Syrien als Mitglied an einer Vereinigung im Ausland beteiligt zu haben, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB), Völkermord (§ 6 VStGB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) und Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 und 12 VStGB) zu begehen, und sich tateinheitlich hierzu mit anderen verabredet zu haben, ein Verbrechen zu begehen.

1. Zum Tatvorwurf führte der Generalbundesanwalt im Einzelnen weiter aus:

...

2. In rechtlicher Hinsicht bewertet der Generalbundesanwalt diese Taten als Verbrechen strafbar als Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland und in Tateinheit mit Verabredung zu einem Verbrechen des Mordes (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, 129 Abs. 1 Satz 1, Satz 2, § 30 Abs. 1 i.V.m. §§ 211, 52 StGB).

3. Zu den Verdachtsgründen führt der Generalbundesanwalt in seiner Einleitungsverfügung aus:

...

II.

Unter dem 3. Juni 2020 - eingegangen bei Gericht am 16. Juni 2020 - beantragte der Generalbundesanwalt den Erlass eines Haftbefehls gegen den Beschuldigten wegen der vorgenannten Taten. Die Begründung ist wortgleich mit den Erwägungen der Einleitungsverfügung. Beigeschlossen waren dem zwei Stehordner „Sachakten-Sonderbände Haftbefehlsantrag“.

III.

Fernmündlich wurde mit dem Generalbundesanwalt am 10. Juli 2020 abgestimmt, dass der Antrag mangels Eilbedürftigkeit - es sei unsicher, ob der Beschuldigte überhaupt noch am Leben sei - erst nach Rückkehr des ordentlichen Vorsitzenden des Dezernats Ermittlungsrichter aus dem vierwöchigen Jahresurlaub bearbeitet werden kann. Gerichtlich wurde aber bereits zu diesem Zeitpunkt nach erster Durchsicht der vorgelegten Aktenteile darauf hingewiesen, dass der Haftbefehlsantrag anhand der beigeschlossenen Sachakten-Sonderbände „Haftbefehlsantrag“ nicht ohne Weiteres nachvollziehbar sei und die Stehordner jedenfalls auch keine Lichtbilder des Beschuldigten enthielten. Herr ... kündigte daraufhin an, diese Aspekte aufgreifen und ausräumen sowie eine Ermittlungsakte übersenden zu wollen.

IV.

In seiner Zuschrift vom 2. September 2020 - eingegangen bei Gericht am 7. September 2020 - nahm der Generalbundesanwalt Bezug auf den vorgenannten Haftbefehlsantrag und übersandte zwei weitere Stehordner „Haftbefehlsantrag Fußnoten zum Vermerk BKA Antrag Erlass eines Haftbefehls vom 16.07.2020“. In seinem Übersendungsschreiben führte er aus, dass die beiden „Sachaktenbände“ einen Vermerk des Bundeskriminalamts vom 16. Juli 2020 zu „ergänzenden Quellenangaben“ sowie die Inhalte der Fußnoten des Vermerks enthielten. In dem Vermerk des Bundeskriminalamtes vom 16. Juli 2020 werden Passagen aus der Antragsschrift des Generalbundesanwalts - wörtlich eingerückt - wiedergegeben und durch die Polizei nunmehr mit Fußnoten versehen, in denen Hinweise auf Ermittlungserkenntnisse zitiert werden. Zu sämtlichen der 53 Fußnoten des Vermerks wurden Trennblätter in die beiden Stehordner „Haftbefehlsantrag Fußnoten zum Vermerk BKA Antrag Erlass eines Haftbefehls vom 16.07.2020“ eingelegt und die vom Bundeskriminalamt im Vermerk jeweils in Bezug genommenen Ermittlungserkenntnisse dort abgelegt. Dementsprechend wird der Vermerk wie folgt eingeleitet:

„1. Hintergrund Zweck dieses Vermerkes Bezugnehmend auf den genannten Haftbefehlsantrag vom 03.06.2020 werden nachfolgend einzelne Passagen der Antragsbegründung um zugehörige Verweise und Quellenangaben für die Gliederungspunkte „I Begründung“ und „III Dringender Tatverdacht“ ergänzt.“ Lichtbilder vom Beschuldigten wurden diesen ausgewählten Aktenteilen nicht beigeschlossen.

B.

Der Antrag auf Erlass eines Haftbefehls war abzulehnen.

Die vom Generalbundesanwalt ausgewählten Aktenteile der bislang vorliegenden Ermittlungserkenntnisse tragen die gesetzlichen Voraussetzungen der Anordnung von Untersuchungshaft gegenwärtig für sich bereits nicht (hierzu nachstehend I.). Dessen ungeachtet erweisen sich die dem Haftbefehlsantrag beigeschlossenen Stehordner „Haftbefehlsantrag Fußnoten zum Vermerk BKA Antrag Erlass eines Haftbefehls vom 16.07.2020“ und „Sachakten-Sonderband Haftbefehlsantrag“ als unzureichende Dokumentation des Ermittlungsverfahrens und ermöglichen die gebotene eigenverantwortliche gerichtliche Überprüfung der gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen für die begehrte freiheitsentziehende Zwangsmaßnahme hier nicht (hierzu nachstehend II.).

I.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls liegen nicht vor.

1. Die ausgewählten Erkenntnisse tragen keinen dringenden Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO). Ein solcher ist nur gegeben, wenn den ermittelten Tatsachen entnommen werden kann, dass sich der Beschuldigte mit großer Wahrscheinlichkeit der ihm angelasteten Tat schuldig gemacht hat; bloße Vermutungen genügen dagegen nicht (vgl. nur BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2007 - StB 34/07, BeckRS 2007, 16872).

a) Nach diesem Maßstab kann ein dringender Tatverdacht gegen den Beschuldigten derzeit vor der Hintergrund der vorgelegten Unterlagen aus tatsächlichen Gründen nicht angenommen werden. Dies gilt bereits für die Mitgliedschaft des Beschuldigten in der terroristischen Vereinigung; aus den nämlichen Gründen besteht derzeit auch keine hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit für eine Beteiligung an der ihm ebenfalls zur Last gelegten Verbrechensverabredung.

...

II.

Die vom Generalbundesanwalt in den Stehordnern zusammengestellten Ermittlungsunterlagen erweisen sich überdies als unzureichend, um hier die gesetzlich gebotene eigenverantwortliche gerichtliche Überprüfung der gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen für die beantragte freiheitsentziehende Zwangsmaßnahme zu gewährleisten.

1. Rechtlich gilt insoweit - wie bereits an anderer Stelle wiederholt ausgeführt (vgl. etwa BGH [ER], Beschlüsse vom 12. Mai 2020 - 2 BGs 254-259/20, vom 22. Mai 2020 - 2 BGs 342/20, vom 15. Juni 2020 - 2 BGs 373/20, vom 9. Juli 2020 - 2 BGs 395/20 und vom 16. Juli 2020 - 2 BGs 408/20) - grundsätzlich Folgendes:

a) Durch den Richtervorbehalt wird eine vorbeugende Kontrolle der beantragten Ermittlungsmaßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz garantiert, die insbesondere dafür zu sorgen hat, dass die Interessen des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Februar 2001 - 2 BvR 1444/00, BVerfGE 103, 142, 151; BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2008 - 1 BvR 595/07, BVerfGE 120, 274, 332). Der Richter darf deshalb einem Antrag auf Anordnung einer Zwangsmaßnahme nur entsprechen, wenn er sich aufgrund einer eigenverantwortlichen Prüfung der Ermittlungen davon überzeugt hat, dass die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 11. März 2010 - StB 16/09, NStZ 2010, 711, 712). Insofern handelt es sich zwar lediglich um eine punktuelle Entscheidung über den von der Staatsanwaltschaft als „Herrin des Vorverfahrens“ mit Blick auf § 162 StPO formulierten konkreten Antragsgegenstand; Grundlage der richterlichen Prüfung ist aber das zum Antragszeitpunkt bestehende, in den Ermittlungsakten Ausdruck findende vorläufige Gesamtergebnis des Ermittlungsverfahrens. Das hierin angelegte System wechselseitiger Kontrolle gehört zum Wesen des auf Wahrheitsfindung und Wiederherstellung von Rechtsfrieden ausgerichteten deutschen Strafverfahrensrechts (vgl. etwa bereits K. Peters, NStZ 1983, 275, 276). Um eine solche eigenverantwortliche und ordnungsgemäße Prüfung durch den Richter zu ermöglichen, ist es erforderlich, dass die Ermittlungsbehörden die Einhaltung des Grundsatzes der Aktenwahrheit und der Aktenvollständigkeit gewährleisten. Dies folgt bereits aus der Bindung der Verwaltung (und der Justiz) an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) und der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Pflicht zur Objektivität (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 6. Juni 1983 - 2 BvR 244/83, 2 BvR 310/83, NJW 1983, 2135, und vom 14. Juli 2016 - 2 BvR 2474/14, StV 2017, 361; vgl. ferner Gusy in Barton/Kölbel/Lindemann, Wider die wildwüchsige Entwicklung des Ermittlungsverfahrens [2015], S. 195 ff.).

aa) Diesen verfassungsrechtlichen Maßgaben trägt die Strafprozessordnung - gerade auch in Bezug auf das Ermittlungsverfahren - Rechnung, wobei der Aktenbegriff nicht strafprozessual bestimmt, sondern vom Gesetz vorausgesetzt wird (vgl. zuletzt BT-Drucks. 18/9416, S. 42). So sind etwa den §§ 147, 163 Abs. 2 Satz 1, § 168b Abs. 1, §§ 169a und 406e Abs. 2 StPO Ausprägungen des Grundsatzes der Aktenvollständigkeit zu entnehmen. Insbesondere gilt die Bestimmung des § 168b Abs. 1 StPO, wonach das Ergebnis staatsanwaltschaftlicher Untersuchungen aktenkundig zu machen ist, auch für polizeiliche Untersuchungshandlungen entsprechend (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 168b Rn. 1).

bb) Das Gebot der Aktenvollständigkeit folgt ferner aus der Natur des Ermittlungsverfahrens. Da dieses ein schriftliches Verfahren ist, muss jedes mit der Sache befasste Ermittlungsorgan, auch das Gericht, wenn es im Vorverfahren oder im gerichtlichen Verfahren tätig wird, das bisherige Ergebnis des Verfahrens und seine Entwicklung erkennen können (BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2016 - 2 BvR 2474/14, StV 2017, 361, 362; LR/Erb, 27. Aufl., § 168b Rn. 1, § 160 Rn. 65; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, a.a.O., § 163 Rn. 18 und Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Einl. Rn. 62). Es muss in einem rechtsstaatlichen Verfahren schon der bloße Anschein vermieden werden, die Ermittlungsbehörden wollten etwas verbergen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2016 - 2 BvR 2474/14, StV 2017, 361, 362; BGH, Urteile vom 18. November 1999 - 1 StR 221/99, BGHSt 45, 321, 338 f., vom 11. Dezember 2013 - 5 StR 240/13, NStZ 2014, 277, 281, und vom 26. April 2017 - 2 StR 247/16, NJW 2017, 3173; BGH, Beschluss vom 2. September 2015 - 5 StR 312/15, BeckRS 2015, 15773; vgl. ferner zum Aktenbegriff NdsStGH, Urteil vom 24. Oktober 2014 - StGH 7/13, NordÖR 2015, 16, 19).

cc) Eingedenk dessen steht es nicht im Belieben der Ermittlungsbehörden, ob sie strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen in den Akten vermerken (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2016 - 2 BvR 2474/14, StV 2017, 361, 362; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Einl. Rn. 62). Das Gericht muss den vollständigen Gang des Verfahrens ohne Abstriche nachvollziehen können (BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 2019 - 2 BvR 1884/17, juris; BGH, Urteil vom 11. Dezember 2013 - 5 StR 240/13, NStZ 2014, 277, 281; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 147 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, a.a.O., § 105 Rn. 1c). Aus den Akten muss sich namentlich ergeben, welche konkreten Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt worden sind sowie ob und gegebenenfalls welchen Erfolg sie gehabt haben (vgl. nur LR/Erb, a.a.O., § 168b Rn. 6, § 163 Rn. 81 und § 160 Rn. 62; Hilger in FS Meyer-Goßner [2001], S. 755, 759; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. September 1990 - 2 VAs 1/90, NJW 1992, 642, 644). Die Akten sollen die lückenlose Information über die im Verfahren angefallenen schriftlichen Unterlagen gewährleisten (vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. Oktober 1990 - StB 14/90, BGHSt 37, 204, 206). Es ist den Ermittlungsbehörden daher grundsätzlich die Vornahme einer Selektion ebenso verwehrt wie das - auch zeitweilige - Fernhalten von Erkenntnissen aus den Akten (vgl. H. Schneider, Jura 1998, 337, 338). Lediglich Einzelheiten der Durchführung und des Verlaufs konkreter Untersuchungshandlungen müssen in der Regel nicht zwingend angegeben werden (zu weiteren Ausnahmen vgl. nur KKStPO/Schneider, 8. Aufl., § 199 Rn. 8; LR/Erb, a.a.O., § 168b Rn. 6 jeweils m.w.N.).

dd) Es steht auch nicht im Belieben der Ermittlungsbehörden, zu welchem Zeitpunkt sie die durch ihre Erhebungen gewonnenen Erkenntnisse, getroffene Verfügungen oder erstellte Ermittlungs- sowie Gerichtsvermerke aktenkundig machen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 2015 - 2 BvR 2718/10, 1849 und 2808/11, BVerfGE 139, 245, 272; BGH, Beschluss vom 26. April 2017 - 2 StR 247/16, NJW 2017, 3173, 3179; BGH, Urteil vom 11. Dezember 2013 - 5 StR 240/13, NStZ 2014, 277, 281; vgl. ferner H. Schneider, a.a.O., S. 339; Krehl, StraFo 2018, 265, 271). Dies hat unverzüglich zu geschehen (vgl. auch § 163 Abs. 2 StPO). Mit dem Begriff der Unverzüglichkeit kann im Einzelfall auch unabweisbaren praktischen Bedürfnissen in außergewöhnlichen Großlagen (zuletzt namentlich die Mordanschläge von Halle oder Hanau) Rechnung getragen werden.

ee) Als unvereinbar mit diesen Maßgaben erweist sich daher eine „vorläufige Ermittlungsakte“, in der - verstanden als Provisorium - die Ermittlungshandlungen zunächst dokumentiert werden, allerdings unter dem Vorbehalt, später eine neue Aktenordnung, eine vollständig andere Sortierung oder gar einen anderen Inhalt der Akten „aufzubauen“ (vgl. zur Unzulässigkeit eines nachträglichen Entfernens früherer Aktenbestandteile aus Verwaltungsakten BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 1983 - 2 BVR 310/83, NJW 1983, 2135; ferner Heghmanns/Herrmann, Das Arbeitsgebiet des Staatsanwalts, 5. Aufl., Rn. 51). Dessen ungeachtet besteht freilich in Einzelfällen die Möglichkeit, Aktenteile etwa der Leitakte zu entnehmen, einem anderen (Sonder-) Band der Verfahrensakten beizuschließen und dies - etwa durch Fehlblätter - aktenkundig zu machen. Für einen jederzeit möglichen vollständigen „Aktenumbau“ besteht hingegen kein rechtlich schutzwürdiges Bedürfnis. Die Strafprozessordnung bietet zahlreiche gesetzliche Möglichkeiten, Aktenbestandteile, die aufgrund späterer besserer Erkenntnisgrundlage aus übergeordneten Gründen geheim zu halten oder von der Akteneinsicht (zunächst, im Ausnahmefall auch vollständig) auszunehmen sind, zu schützen und zugleich den Maßgaben der Aktenwahrheit und Aktenklarheit zu entsprechen (vgl. nur § 68 Abs. 3 Satz 3 und 4, §§ 96, 101 Abs. 2, § 101a Abs. 4; § 110b Abs. 3, §§ 147, 406e; vgl. auch KK-StPO/Schneider, a.a.O., § 199 Rn. 12; LR/Menges, 27. Aufl., § 96 Rn. 99 m.w.N.; Warg, NJW 2015, 3195, 3199; zur notwendigen Differenzierung zwischen Aktenvollständigkeit einerseits und Umfang des Akteneinsichtsrechts andererseits Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, a.a.O., § 105 Rn. 1d; BGH, Beschluss vom 18. Juni 2009 - 3 StR 89/09, StV 2010, 228 mit Anm. Stuckenberg; zu weiteren Beschränkungsmöglichkeiten vgl. etwa BGH, Beschluss vom 20. Februar 2019 - AK 4/19, BeckRS 2019, 3847 [im besonderen Haftprüfungsverfahren] und BGH, Beschluss vom 3. April 2019 - StB 5/19, NJW 2019, 2105 [Akteneinsicht vor Haftbefehlsvollstreckung im Beschwerderechtszug]).

b) Um eine eigenverantwortliche und ordnungsgemäße Prüfung durch den Ermittlungsrichter sicherzustellen, haben Aufbau, Vollständigkeit und Klarheit der Ermittlungsakten zahlreichen, in der deutschen Strafverfolgungspraxis seit jeher etablierten Anforderungen zu genügen. Hierzu an dieser Stelle (vgl. hierzu im Einzelnen Beschluss vom 12. Mai 2020 - 2 BGs 254-259/20 aus dem Verfahren 2 BJs 146/20-9) nur Folgendes:

aa) Besondere Bedeutung kommt der regelmäßig chronologischen Ordnung der Eingänge und der Paginierung durch die Staatsanwaltschaft zu (vgl. auch BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 - StB 5/20, sowie im Einzelnen Heghmanns/Herrmann, a.a.O., Rn. 52). Hierdurch wird auch für Verteidiger, Beschwerdegericht oder Tatgericht für eine möglicherweise gebotene Prüfung ex ante verlässlich dokumentiert, welche Erkenntnisse den Ermittlungsbehörden zu welchem Zeitpunkt - etwa mit Blick auf die richterliche Anordnung von Ermittlungsmaßnahmen oder aber die ausgebliebene Zuschreibung eines Beschuldigtenstatus - vorlagen. Im Übrigen wird hierdurch eine - auch dem Gebot der Schonung justizieller Ressourcen entsprechende - zügige Aktenlektüre und Verarbeitung des Prozessstoffs gerade auch durch den Ermittlungsrichter eröffnet (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 - StB 5/20). Dem entspricht die praktische Übung, nach der eine Bezugnahme auf frühere Aktenbestandteile - etwa in Antragsschriften - durch Angabe von Aktenbandnummer und Blattzahl erfolgt (vgl. Heghmanns/Herrmann, a.a.O., Rn. 54).

bb) Wird Erkenntnissen aus anderen Verfahren durch die Staatsanwaltschaft Beweisbedeutung zugeschrieben, so sind insbesondere Zeitpunkt und Umfang der Übernahme dieser verfahrensfremden Erkenntnisse durch die Staatsanwaltschaft, etwa durch Beiziehung von Akten oder durch deren teilweise Ablichtung, zu dokumentieren (vgl. hierzu KK-StPO/Schneider, a.a.O., § 199 Rn. 9; LR/Stuckenberg, a.a.O., § 199 Rn. 16) und hierdurch auch die gesetzlichen Voraussetzungen etwa von § 161 Abs. 3, § 100e Absatz 6, § 479 Abs. 2 StPO nachvollziehbar zu belegen. Liegen den verfahrensfremden Erkenntnissen wiederum richterlich angeordnete Zwangsmaßnahmen zugrunde (§ 162 StPO), sind auch diese Beschlüsse der Vollständigkeit halber beizuschließen (vgl. im Einzelnen Heghmanns/Herrmann, a.a.O., Rn. 56).

cc) Vergleichbar liegt es im Übrigen bei der Umwidmung eines Verfahrens gegen Unbekannt („UJs-Verfahren“) in ein solches gegen einen konkreten Beschuldigten („Js-Verfahren“; vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 2018 - 2 BvR 1550/17, BeckRS 2018, 19015; im Einzelnen Heghmanns/Herrmann, a.a.O., Rn. 67; ebenso bereits Dünnebier StV 1981, 504, 505; ferner H. Schäfer, NStZ 25 26 1984, 203, 206). Auf diese Weise ist gewährleistet, dass das einheitliche Ermittlungsverfahren durchgängig nachvollzogen werden kann.

dd) Dies gilt im Übrigen auch für den Aktenbestand zu - mit „UJs-Verfahren“ vergleichbaren - sogenannten Strukturverfahren des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 - StB 5/20 Rn. 26 [„Strukturverfahren gegen unbekannte Mitglieder des ‚Islamischen Staates‘“]). Auch in Ermittlungsverfahren wegen Staatsschutzsachen werden die „schützenden Formen“ des deutschen Strafprozesses nicht suspendiert (vgl. Lohse/Engelstätter, GSZ 2020, 156, 158); die Aktenführung muss auch hier eine zuverlässige Rekonstruktion des Verfahrensstandes ermöglichen und namentlich belegen, welche Verdachtsmomente gegen einen konkreten Beschuldigten zu welchem Zeitpunkt im Verfahren vorlagen (vgl. zur gerichtlichen Überprüfung der Beschuldigtenstellung etwa BGH, Beschlüsse vom 6. Juni 2019 - StB 14/19, NJW 2019, 2627, 2630 [„Strukturermittlungsverfahren gegen Unbekannte des syrischen Regimes wegen…“], und vom 26. Februar 2020 - StB 5/20, Rn. 27).

c) Die Staatsanwaltschaft als Herrin des Vorverfahrens hat gewissenhaft dafür Sorge zu tragen, dass der Ermittlungsrichter seine Entscheidungen auf der Grundlage aller maßgeblichen, bis zu dem jeweiligen Zeitpunkt angefallenen - be- und entlastenden - Ermittlungsergebnisse treffen kann (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 26. Februar 2020 - StB 5/20 Rn. 26 - und vom 11. März 2010 - StB 16/09, NStZ 2010, 711, 712). Sie hat gegebenenfalls zur Umsetzung der vorgenannten rechtlichen Maßgaben ihre Ermittlungspersonen, etwa solche des Bundeskriminalamts (§ 152 GVG), zu einer dem Gesetz entsprechenden Aktenführung anzuhalten und anzuweisen. Die Polizei führt im Strafverfahren keine eigenständige Akte, sondern wird allenfalls auf Geheiß der Staatsanwaltschaft für diese tätig (vgl. etwa Schoreit, NJW 1985, 169, 170; a.A. wohl noch Meyer-Goßner, NStZ 1982, 353, 354). Eine etwaige Aktenunvollständigkeit hat die Staatsanwaltschaft als „Wächterin des Verfahrens“ zu vertreten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2016 - 2 BvR 2474/14, StV 2017, 361, 362 f.; BGH, Beschluss vom 26. April 2017 - 2 StR 247/16, NJW 2017, 3173; Wohlers/Schlegel, NStZ 2010, 486, 487; Dallmeyer in FS v. Heintschel-Heinegg [2015], S. 87, 89) und sich Fehler der Ermittlungspersonen ebenso wie deren Kenntnis zurechnen zu lassen. Dass die Polizeibehörden möglicherweise ihren Sitz nicht bei der Staatsanwaltschaft haben, ist eingedenk der modernen Kommunikations- und Transportmöglichkeiten heute insoweit ohne Bedeutung (vgl. etwa auch BT-Drucks. 18/9416, S. 44).

d) Der Einhaltung des Grundsatzes der Aktenvollständigkeit kommt schließlich auch deshalb besondere Bedeutung zu, weil Mängel in der Aktenführung - je nach Lage des Einzelfalls (vgl. BGH, Beschluss vom 26. April 2017 - 2 StR 247/16, NJW 2017, 3173) - für das weitere Verfahren nicht nur zeitliche Verzögerungen bedingen können, sondern auch die freibeweisliche Rekonstruktion des Beweisergebnisses zum Zeitpunkt der Anordnung einer unter Richtervorbehalt stehenden Zwangsmaßnahme im Beschwerde- oder Tatsachenverfahren vereiteln können (vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2006 - 1 StR 316/05, BGHSt 51, 1 ff; ferner BGH, Beschlüsse vom 24. Oktober 2008 - 3 StR 370/06, NStZ 2007, 117, vom 18. Juni 2009 - 3 StR 89/09, BeckRS 2009, 20293, vom 8. Februar 2018 - 3 StR 400/17, NJW 2018, 2809, 2811 und etwa - jüngst - BGH, Beschluss vom 29. September 2020 - 5 StR 123/20, BeckRS 2020, 28648, Rn. 11). Dies kann im Einzelfall den Verlust einzelner Beweismittel besorgen lassen (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 2. Oktober 2018 - V-6 Kart7/17 [OWi], WuW 2020, 101; Krehl, StraFo 2018, 265, 271; G. Schäfer in FS Roxin [2011], S. 1299, 1307). Für besondere Ausnahmefälle wurde als Fehlerfolge gar die Einstellung des Verfahrens erwogen (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 2. Oktober 2018 - V-6 Kart7/17 [OWi], WuW 2020, 101; hierzu auch Rieß, NStZ 1983, 247).

e) Allein dem angerufenen Richter obliegt vom Zeitpunkt seiner Befassung an die Entscheidung, ob es vor seiner Entscheidung weiterer Sachaufklärung durch die Ermittlungsbehörden bedarf und in welcher Form ihm die Entscheidungsgrundlagen - etwa in Papierform oder als elektronische Hilfsakte - vermittelt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 2015 - 2 BvR 2718/10, 1849 und 2808/11, BVerfGE 139, 245, 274, 277 ff.; BGH, Beschluss vom 23. März 1996 - 1 StR 685/95, BGHSt 42 103, 105).

aa) Zur eigenverantwortlichen gerichtlichen Prüfung etwa des Anfangsverdachts bedarf es mithin nicht stets der Vorlage der Ermittlungsakten in Papierform. Ist der Verfahrenssachverhalt bereits durch eine kurz zuvor erfolgte umfassende gerichtliche Prüfung bekannt und seither nach eigenständiger Prüfung der Staatsanwaltschaft kein bedeutsames Beweismaterial angefallen, kann über Ermittlungsmaßnahmen, die nicht auf eine Freiheitsentziehung gerichtet sind (s. hierzu nachstehend B.III.1g], S. 29), auch auf der Grundlage einzelner schriftlicher Antragsunterlagen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 2015 - 2 BvR 2718/10, 1849 und 2808/11, BVerfGE 139, 245, 275; BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2016 - 2 StR 46/15, NStZ 2017, 367, 369, und vom 26. Februar 2020 - StB 5/20, Rn. 26) oder - gerade bei besonders einfach gelagerten Sachverhalten, wie etwa einer Anschriftenänderung kurz vor Vollstreckung eines bereits schriftlich erlassenen Durchsuchungsbeschlusses - ausnahmsweise auch auf mündlich übermittelten Antrag und Begründung hin entschieden werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 2015 - 2 BvR 2718/10, 1849 und 2808/11, BVerfGE 139, 245, 270). Wird der Inhalt der Ermittlungsakte eingescannt, auf einem Datenträger zusammengeführt und dieserart dem Ermittlungsrichter übermittelt, so entspricht auch diese elektronische Hilfsakte (vgl. hierzu auch BT-Drucks. 18/9416, S. 42) den vorgenannten rechtlichen Maßgaben; dies gilt insbesondere mit Blick auf die auf den eingescannten Aktenteilen erkennbare Paginierung der Urschrift.

bb) Den verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Anforderungen an die Gewährleistung einer eigenverantwortlichen gerichtlichen Prüfung bei Grundrechtseingriffen wird auch das sog. Repräsentat nach § 2 der Verordnung der Bundesregierung über die technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen für die elektronische Aktenführung im Strafverfahren (Bundesstrafaktenführungsverordnung [BStrafAktFV] vom 9. Dezember 2019 [BGBl. 2019 I S. 2140]) in jeder Hinsicht Rechnung zu tragen haben (in diesem Sinne auch (vgl. BT-Drucks. 18/9416, S. 42; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, a.a.O., § 32 Rn. 1; im Einzelnen Graalmann-Scheerer in FS Wolf [2018], S. 187 ff.; vgl. ferner Growe/Gutfleisch, NStZ 2020, 633, 637 ff.).

f) Schließt die Staatsanwaltschaft in diesen Konstellationen allerdings ihrem Antrag auf Anordnung einer gerichtlichen Untersuchungshandlung (§ 162 StPO) nur ausgewählte Teile der Ermittlungsakten bei, so erklärt sie hierdurch stets zugleich, dass diese Auswahl nach ihrer eigenverantwortlichen Prüfung sämtliche bis zum Zeitpunkt der Antragsstellung angefallenen maßgeblichen be- und entlastende Ermittlungsergebnisse enthält. Anderenfalls blieben Zweifel an der Vollständigkeit der gerichtlichen Entscheidungsgrundlage, die mit dem - von Verfassungs wegen - gebotenen präventiven Rechtsschutz durch den Ermittlungsrichter unvereinbar wären.

aa) Erweist sich später, dass die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Auswahl entgegen einer solcherart abgegebenen konkludenten Vollständigkeitserklärung für die Entscheidung der konkreten gerichtlichen Untersuchungshandlung unvollständig war, so kann dies im Einzelfall den Verlust der hierdurch erlangten Beweismittel besorgen lassen (vgl. G. Schäfer, FS Roxin [2011], S. 1299, 1310; Krehl, StraFo 2018, 265, 271; OLG Düsseldorf, Urteil vom 2. Oktober 2018 - V-6 Kart7/17 [OWi], WuW 2020, 101; vgl. zu amtshaftungsrechtlichen Folgen BGH, Urteil vom 23. Oktober 2003 - III ZR 9/03, NJW 2003, 32 33 34 3693, 3696, sowie bereits Urteil vom 29. Mai 1958 - III ZR 38/57, NJW 1959, 35, 37); Versäumnisse ihrer Ermittlungspersonen hat sich die Staatsanwaltschaft wegen ihrer Leitungsfunktion und als aktenführende Stelle im Strafverfahren zurechnen zu lassen (§ 161 StPO, § 152 GVG; vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2016 - 2 BvR 2474/14, StV 2017, 361, 362 f.; BGH, Beschluss vom 26. April 2017 - 2 StR 247/16, NJW 2017, 3173; Wohlers/Schlegel, NStZ 2010, 486, 487).

bb) Zugleich besteht in diesen Verfahrenskonstellationen grundsätzlich kein Raum mehr, auch fortan weitere ermittlungsrichterliche Anordnungen lediglich auf der Grundlage einer staatsanwaltschaftlichen Auswahl von Ermittlungsergebnissen zu erwirken. Der angerufene Ermittlungsrichter wird in dem betroffenen Verfahren nämlich nicht mehr davon ausgehen können, dass zukünftig zusammengestellte Aktenteile alle aktuellen und maßgebenden Ermittlungsergebnisse enthalten. Deshalb ist jedenfalls von diesem Zeitpunkt an grundsätzlich die Vorlage der gesamten Ermittlungsakte zur Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen der beantragten gerichtlichen Untersuchungshandlungen erforderlich.

g) Soll im Ermittlungsverfahren ein Haft- oder Unterbringungsbefehl und damit eine freiheitsentziehende Ermittlungsmaßnahme erwirkt werden, kommt allerdings die Vorlage nur ausgewählter Aktenteile nicht in Betracht. Denn die den vorstehend benannten Maßgaben entsprechende Dokumentation des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens als Grundlage einer eigenverantwortlichen und unabhängigen Anordnung des Ermittlungsrichters sichert gerade auch den effektiven Rechtsschutz des Beschuldigten bei beantragten Freiheitsentziehungen im strafprozessualen Ermittlungsverfahren ab und verleiht dem in Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Richtervorbehalt und seiner Sicherungsfunktion (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 2020 - 2 BvR 2345/16, NVwZ-RR 2020, 801, 803) besondere Wirkmacht.

aa) Im Hinblick auf die wertsetzende Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist der zu gewährleistende Grundrechtsschutz bereits durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken (vgl. hierzu BVerfG, Beschlüsse vom 20. Dezember 1979, BVerfGE 53, 3, 65, vom 22. August 2017 - 2 BvR 2039/16, BeckRS 2017, 123193, und vom 13. Oktober 2016 - 2 BvR 1275/16, BeckRS 2016, 53503). Hiernach hat der Ermittlungsrichter der rechtsstaatlich unverzichtbaren Voraussetzung Rechnung zu tragen, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, unter Beachtung der hierfür vorgeschriebenen Formen ergehen und auf zureichender - dem Gewicht der Freiheitsgarantie entsprechender - Tatsachengrundlage beruhen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8.Oktober 1985 - 2 BvR 1150/80, BVerfGE 70, 297, 310, vom 7. Oktober 1981 - 2 BvR 1194/80, BVerfGE 58, 208, 222, vom 22. November 2011 - 2 BvR 1334/10, StV 2012, 292, 293, und vom 18. September 2018 - 2 BvR 745/18, BeckRS 2018, 25842; hierzu auch Maunz/Dürig/Mehde, GG, 91. EL., Art. 104 Rn. 135 ff.; ders. JZ 2020, 922, 923). Eine schlichte Plausibilitätsprüfung genügt dem nicht (vgl. nur BeckOKGG/Radtke, 44. Ed., Art. 104 Rn. 13; ferner BGH, Urteil vom 29. Mai 1958 - III ZR 38/57, NJW 1959, 35, 37).

bb) Eingedenk dessen hat die Staatsanwaltschaft ihrem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls regelmäßig die aktuellen Ermittlungsergebnisse vollständig in Form der Ermittlungsakten vorzulegen (ausgenommen hiervon sind etwa gesperrte Erkenntnisse, s. vorstehend B.I.1.a]dd], S. 21; vgl. ferner § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO). Denn wie alle staatlichen Organe sind auch die Strafverfolgungsbehörden dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung in Form einer eigenverantwortlichen und selbständigen richterlichen Entscheidung praktisch wirksam wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 2020 - 2 BvR 2345/16, NVwZ-RR 2020, 801, 803; zu vergleichbaren Anforderungen bei der Anordnung von Auslieferungs- und Abschiebungshaft 37 38 s. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Mai 2020 - 2 BvR 2345/16, NVwZ-RR 2020, 801, 803, und vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17, NJW 2018, 37, 38 f.). Damit der Ermittlungsrichter aber „die volle Verantwortung“ für die Freiheitsentziehung übernehmen kann (vgl. nur Nehm in FS Meyer-Goßner [2001], S. 277, 289), ist grundsätzlich die vollständige Vorlage der nach den vorstehend genannten Maßgaben geführten Ermittlungsakte notwendig.

cc) Auf eine Auswahl einzelner Ermittlungserkenntnisse und die - auch konkludente - Versicherung der Anklagebehörde, dass weitere be- oder entlastende Umstände im Zeitpunkt der Antragsstellung nicht vorliegen (s. B.III.1h], S. 28), hat sich der Richter bei der Frage der Freiheitsentziehung grundsätzlich nicht verweisen zu lassen. Dies gilt gleichermaßen für eine schlichte Vorlage zusammenfassender polizeilicher Ermittlungsberichte oder polizeilicher Aktenvermerke; diese ersetzen die Vorlage der Primärquellen nicht. Eine eigenverantwortliche gerichtliche Bewertung setzt die Kenntnis der Beweismittel selbst voraus und beschränkt sich nicht auf das Vertrauen auf nachvollziehbare polizeiliche Erwägungen (vgl. - freilich im Kontext zu Art. 103 Abs. 1 GG bei vollzogenem Arrest - nur BVerfG, Beschluss vom 19. Januar 2006 - 2 BvR 1075/05, NStZ 2006, 459, 460).

dd) Allein in Konstellationen höchster Eilbedürftigkeit bei hochkomplexen Ermittlungen, wie etwa bei einem aktuellen Anschlagsgeschehen, mag eine auch ungeordnete erste Zusammenstellung der oftmals parallel erfolgenden umfangreichen Beweissicherungen durch eine Vielzahl eingesetzter Polizeikräfte zur Begründung eines Haftbefehlsantrags ausnahmsweise ausreichen, um bei dringendem Tatverdacht aufdrängender Gefahr von Flucht- oder Verdunkelung entgegen zu wirken.

2. Gemessen an diesen Maßgaben erweisen sich die dem Antrag hier beigeschlossenen Stehordner mit ersichtlich ausgewählten Ermittlungserkenntnissen als unzureichend, um eine eigenverantwortliche gerichtliche Prüfung der begehrten Freiheitsentziehung zu gewährleisten, sodass auch deshalb der Antrag des Generalbundesanwalts abzulehnen war (vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 1996 - 1 StR 685/95, BGHSt 42, 103, 105; ferner etwa Boetticher/Landau in FS BGH [2000], S. 555, 559 f.; G. Schäfer in FS Roxin [2011], S. 1299, 1303).

a) Schon die Bezeichnungen der vorgelegten Stehordner - „Sachakten-Sonderband Haftbefehlsantrag“ und „Haftbefehlsantrag Fußnoten zum Vermerk BKA Antrag Erlass eines Haftbefehls vom 16.07.2020“ - lassen erkennen, dass es sich hierbei nicht um die geschlossene Dokumentation des Ermittlungsverfahrens handelt. Namentlich die nicht folierte Zusammenstellung in den Stehordnern „Fußnoten zum Vermerk vom 16. Juli 2020“ ist ersichtlich als Arbeitshilfe und nicht als Ermittlungsakte gedacht (vgl. vorgeheftetes Schreiben des BKA vom 18. August 2020 in Stehordner „Fußnoten zum Vermerk vom 16.07.2020“). Durch den Vermerk wurden seitens der Polizei den Ausführungen des Generalbundesanwalts zum Tatvorwurf und zum dringenden Tatverdacht - nahezu Satz für Satz - die diesem zugrunde liegenden Ermittlungserkenntnisse zugeordnet. Auch die zahlreichen in den Stehordnern „Haftbefehlsantrag“ doppelt abgelegten Behördenzeugnisse (etwa a.a.O., Band 1 Bl. 14-18, 240-244; 53/54, 75/76), Vermerke (etwa a.a.O., Bl. 24/25, 85/86; 56-64, 245-253; a.a.O., Band 2, Bl. 109-113, 133-137) und anderen Inhalte (vgl. etwa a.a.O., Band 2, Bl. 114-125, 138-149; 126-130, 172-176) legen nahe, dass es sich hier um eine Auswahl und nicht um eine den vorgenannten Maßgaben verpflichtete Verfahrensdokumentation handelt.

b) Die Inhalte der vorgelegten Zusammenstellung einzelner Ermittlungsergebnisse lassen ferner erkennen, dass es neben den vorgelegten vier Stehordnern eine weitere Ablage für in diesem Verfahren erhobene Erkenntnisse und durchgeführte Ermittlungshandlungen geben könnte. Denn die für die Identifikation des Beschuldigten ... maßgebliche Identifizierung durch den Zeugen P. war und ist nicht Gegenstand der mit dem Antrag ursprünglich allein vorgelegten Sachakten-Sonderordner „Haftbefehlsantrag“. Wer die Zeugenvernehmung zu welchem Zeitpunkt in diesem Verfahren gegen A. beigezogen hat und wo sie bis zur Ablage in den als Arbeitshilfe zusammengestellten Stehordner „Haftbefehlsantrag Fußnoten zum Vermerk BKA Antrag Erlass eines Haftbefehls vom 16.07.2020“, Band 1, „Fußnote 3“ verwahrt wurde, ist nicht ersichtlich.

c) Dies gilt gleichermaßen für die Vernehmung des Zeugen S. vom ... 2020. Diese wurde originär in dem Ermittlungsverfahren gegen A. durchgeführt; die Niederschrift hierüber wurde allerdings lediglich dem als Arbeitshilfe gedachten Stehordner „Haftbefehlsantrag Fußnoten zum Vermerk BKA Antrag Erlass eines Haftbefehls vom 16.07.2020“, Band 2, „Fußnote 36“ beigeschlossen. Dies kann einer den vorstehend dargestellten Maßgaben der Aktenklarheit verpflichtete Verfahrensdokumentation freilich nicht genügen. Ob es weitere Ermittlungsmaßnahmen gab, wann und vom diese vorgenommen wurden und welches Ergebnis sie erbracht haben, bleibt dunkel.

d) Schließlich ist der vorgelegten Auswahl an Erkenntnissen auch nicht zu entnehmen, aus welchem Grund die vollständige Ermittlungsakte nicht vorgelegt wurde (vgl. zur Sperrung einzelner Erkenntnisse nach § 96 StPO etwa vorstehend B.I.1.a]dd], S. 21).

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 922

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 561

Bearbeiter: Christian Becker