HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2023
24. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

714. BGH 6 StR 161/23 – Beschluss vom 3. Mai 2023 (LG Potsdam)

Versuchte besonders schwere räuberische Erpressung (Rücktritt vom Versuch: Fehlschlag des Versuchs, Rücktrittshorizont); Kurze Freiheitsstrafe nur in Ausnahmefällen (Darstellung in den Urteilsgründen).

§ 253 StGB, § 255 StGB; § 250 StGB; § 22 StGB; 24 Abs. 1 StGB; § 47 Abs. 1 StGB; § 267 Abs. 3 Satz 2 StPO

Die gleichzeitige Verurteilung des Angeklagten zu einer hohen Freiheitsstrafe macht die Erörterung nach § 47 Abs. 1 StGB nicht entbehrlich; die Prüfung ist vielmehr für jede einzelne Tat vorzunehmen.


Entscheidung

724. BGH 5 StR 122/23 – Beschluss vom 26. April 2023 (LG Hamburg)

Observation nicht ohne Weiteres ein Strafmilderungsgrund (Strafzumessung).

§ 46 StGB

Allein eine Observation und die deshalb denkbare Möglichkeit eines Einschreitens der Ermittlungsbehörden begründet für sich genommen keinen Strafmilderungsgrund.


Entscheidung

676. BGH 2 StR 289/21 – Urteil vom 15. März 2023 (LG Kassel)

Strafzumessung (Bildung der Gesamtstrafe: Gesamtschau des Unrechtsgehalts und des Schuldumfangs, Summe der Einzelstrafen, Einsatzstrafe, keine „Mathematisierung“, Erörterungsmangel, starke Erhöhung der Einzelstrafen; Zäsurwirkung einer früheren Verurteilung: Tatmehrheit, Gesamtstrafübel, Ausgleich eines Nachteils, gesonderte Einzelstrafen, Härteausgleich, Strafmilderung); Vergewaltigung (Gewalt: Mund-Zuhalten).

§ 54 StGB; § 53 StGB; § 177 StGB

1. Die Bemessung der Gesamtstrafe ist aufgrund einer Gesamtschau des Unrechtsgehalts und des Schuldumfangs vorzunehmen. Der Summe der Einzelstrafen kommt geringes Gewicht zu. Maßgeblich ist die angemessene Erhöhung der Einsatzstrafe unter zusammenfassender Würdigung der Person des Täters und seiner Straftaten (§ 54 Abs. 1 Satz 3 StGB). Da eine „Mathematisierung“ der Strafzumessung fremd ist, kann ein Erörterungsmangel nicht allein darin gesehen werden, dass die Einsatzstrafe um ein Mehrfaches erhöht wurde. Allerdings bedarf eine starke Erhöhung der Einsatzstrafe besonderer Begründung, wenn sich diese nicht aus den Feststellungen von selbst ergibt.

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürfen die Zufälligkeiten, die darüber entscheiden, ob bei gleichzeitiger Aburteilung mehrerer rechtlich selbständiger Taten gemäß § 53 Abs. 1 StGB eine Gesamtstrafe festgesetzt werden kann, oder ob dies wegen der Zäsurwirkung einer früheren Verurteilung ausgeschlossen ist, nicht dazu führen, dass das „Gesamtstrafübel“ dem Unrechts- und Schuldgehalt der Taten nicht mehr gerecht wird. Erfordert die Zäsurwirkung eines früheren Urteils die Bildung mehrerer Gesamtstrafen, so muss das Tatgericht einen sich dadurch möglicherweise für den Angeklagten infolge eines zu hohen Gesamtstrafübels ergebenden Nachteil ausgleichen. Dasselbe gilt auch dann, wenn außer der Gesamtstrafe unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem zäsurbildenden Urteil noch eine gesonderte Einzelstrafe verhängt wird. Wenn dies zu einem dem Unrechts- und Schuldgehalt nicht mehr gerecht werdenden „Gesamtstrafübel“ führt, ist im Urteil ein Härteausgleich zu erörtern. Gegebenenfalls ist die Strafe wegen der Tat, die nicht mehr in die Gesamtstrafe einbezogen werden kann, zu mildern.


Entscheidung

699. BGH 4 StR 457/22 – Beschluss vom 28. März 2023 (LG Essen)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang: physische Abhängigkeit, übermäßiger Genuss, Indizien, Fehlen ausgeprägter Entzugssyndrome, Intervalle der Abstinenz, Folgen der Neigung von Zeit zu Zeit oder bei passender Gelegenheit).

§ 64 StGB

Für die Annahme eines Hangs i.S.d. § 64 StGB ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint. Wenngleich erhebliche Beeinträchtigungen der Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betreffenden indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hangs haben und in der Regel mit übermäßigem Rauschmittelkonsum einhergehen werden, schließt deren Fehlen jedoch nicht notwendigerweise die Annahme eines Hangs aus. Auch stehen das Fehlen ausgeprägter Entzugssyndrome sowie Intervalle der Abstinenz der Annahme eines Hangs nicht entgegen. Er setzt auch nicht voraus, dass die Rauschmittelgewöhnung auf täglichen oder häufig wiederholten Genuss zurückgeht; vielmehr kann es genügen, wenn der Täter von Zeit zu Zeit oder bei passender Gelegenheit seiner Neigung zum Rauschmittelkonsum folgt.


Entscheidung

738. BGH 5 StR 516/22 – Beschluss vom 17. Januar 2023 (LG Dresden)

Revision gegen die Anordnung des Vorwegvollzugs der Strafe bei Maßregelverhängung (Dauer; kein

Ermessensspielraum; Behandlungserfolg; Beschwer; Wirksamkeit der Revisionsbeschränkung).

§ 64 StGB; § 67 Abs. 2, Abs. 5 StGB

1. Zwar ist eine Beschränkung der Revision auf die Anordnung des Vorwegvollzugs grundsätzlich möglich. Die Rechtswirksamkeit einer Revisionsbeschränkung setzt aber voraus, dass der Beschwerdepunkt nach dem inneren Zusammenhang des Urteils losgelöst von dem nicht angefochtenen Teil rechtlich und tatsächlich unabhängig beurteilt werden kann, ohne eine Überprüfung des Urteils im Übrigen erforderlich zu machen, und die nach dem Teilrechtsmittel stufenweise entstehende Gesamtentscheidung frei von inneren Widersprüchen bleibt. Daran fehlt es, wenn das Tatgericht die hinreichend konkrete Erfolgsaussicht als Anordnungsvoraussetzung der Maßregel des § 64 StGB maßgeblich auf einen entgegen § 67 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 5 StGB verlängerten Vorwegvollzug stützt.

2. Liegen keine Gründe vor, die gegen eine Anordnung des Vorwegvollzugs eines Teils der Strafe sprechen, so hat das Tatgericht bei der Bemessung des vorweg zu vollziehenden Teils der Strafe keinen Beurteilungsspielraum. Der Umstand, dass die gesetzliche Regelung des Vorwegvollzugs eines Teils der Strafe dem Behandlungserfolg dient und daher zu Gunsten des Angeklagten wirkt, rechtfertigt keinen längeren Vorwegvollzug als er sich bei Beachtung des § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB ergibt und lässt auch die Beschwer des Angeklagten durch eine solche Anordnung nicht entfallen.


Entscheidung

711. BGH 6 StR 140/23 – Beschluss vom 3. Mai 2023 (LG Lüneburg)

Rechtsfehlerhafte Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang: symptomatischer Zusammenhang zwischen Hang und Anlasstat; hinreichend konkrete Erfolgsaussicht: Mangelnde Krankheitseinsicht, Behandlungseinsicht als Ziel).

§ 64 StGB

1. Bei der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist es nicht erforderlich, dass der Hang die alleinige Ursache oder „bestimmender Auslöser“ für die Anlasstat ist. Vielmehr ist ein solcher Zusammenhang bereits dann zu bejahen, wenn der Hang neben anderen Umständen mit dazu beigetragen hat, dass der Angeklagte erhebliche rechtswidrige Taten begangen hat.

2. Eine mangelnde Krankheitseinsicht steht einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht notwendig entgegen. Das Tatgericht hat insoweit zu prüfen, ob eine Behandlungseinsicht für eine erfolgversprechende Therapie geweckt werden kann; denn gerade auch darin kann das Ziel einer Behandlung im Maßregelvollzug bestehen.


Entscheidung

703. BGH 6 StR 103/23 – Beschluss vom 2. Mai 2023 (LG Hannover)

Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang: symptomatischer Zusammenhang zwischen Hang und Anlasstat).

§ 64 StGB

1. Für die Annahme eines Hangs im Sinne des § 64 Satz 1 StGB ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss.

2. Für die Annahme, dass ein Täter Rauschmittel im Übermaß zu sich nimmt (§ 64 Satz 1 StGB), genügt die bloße Feststellung, dass er gelegentlich Alkohol oder Betäubungsmittel konsumiert, grundsätzlich nicht.


Entscheidung

687. BGH 2 StR 479/21 – Beschluss vom 30. März 2023 (LG Bonn)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Erfolgsaussicht: Gesamtschau, dissoziale Persönlichkeitsentwicklung, Fähigkeit zur phasenweisen Abstinenz, Fehlen von Therapieversuchen; Vorwegvollzug: vorherige Feststellung einer hinreichend konkreten Aussicht auf einen Behandlungserfolg).

§ 64 StGB; § 67 StGB

Bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB handelt es sich um eine den Angeklagten belastende Maßregel. Die Anordnung setzt neben den Kriterien des § 64 Satz 1 StGB auch „eine hinreichend konkrete Aussicht“ auf einen Behandlungserfolg voraus (§ 64 Satz 2 StGB). Dafür erforderlich ist, dass sich in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Verurteilten konkrete Anhaltspunkte für einen erfolgreichen Verlauf der Therapie finden lassen. § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB greift – unbeschadet des gesetzgeberischen Motivs, dass bei angedrohter Abschiebung auch die Therapieaussichten zweifelhaft erscheinen können – erst ein, wenn die Voraussetzungen des § 64 StGB für die Maßregelanordnung vorliegen und die Unterbringung geboten ist. Daher muss zunächst, unabhängig von der Frage des Vorwegvollzugs der Freiheitsstrafe, eine hinreichend konkrete Aussicht auf einen Behandlungserfolg aufgrund einer Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände festgestellt werden.


Entscheidung

728. BGH 5 StR 61/23 – Beschluss vom 25. April 2023 (LG Berlin)

Hang als Voraussetzung der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; Prüfung der Konkurrenzen bei mehreren Beteiligten (gesonderte Prüfung; Beihilfe; Zusammenfassung zu einer Tat im Rechtssinne).

§ 27 StGB; § 52 StGB; § 64 StGB

1. Für die Annahme eines Hangs im Sinne des § 64 StGB ist weder eine physische Abhängigkeit Voraussetzung noch eine generelle Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, die dem Gesetz bei Erwachsenen ohnehin fremd ist (vgl. §§ 20, 21 StGB: „bei Begehung der Tat“). Ausreichend ist vielmehr eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren.

2. Die Frage der Konkurrenz ist grundsätzlich für jeden Beteiligten gesondert zu prüfen und zu entscheiden. Dies gilt wegen der Akzessorietät der Beihilfe aber dann nicht, wenn mehrere an sich selbständige Beihilfehandlungen eine Haupttat fördern. In einem solchen Fall werden die

Beihilfehandlungen zu einer Handlungseinheit und damit zu einer Tat im Rechtssinne zusammengefasst.


Entscheidung

696. BGH 4 StR 7/23 – Beschluss vom 11. April 2023 (LG Bielefeld)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Konkurrenzen: Tateinheit, Tatmehrheit, Einzelverkäufe, erworbene Gesamtmenge, Bewertungseinheit, Teilmenge aus zwei verschiedenen Rauschgiftmengen, teilweise Identität der tatbestandlichen Ausführungshandlungen).

§ 29a BtMG; § 52 StGB; § 53 StGB

In einem Fall, in dem Teilmengen aus zwei verschiedenen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten erworbenen Rauschgiftmengen gleichzeitig verkauft werden, liegt aufgrund der teilweisen Identität der tatbestandlichen Ausführungshandlungen Tateinheit im Sinne des § 52 StGB vor.


Entscheidung

723. BGH 6 StR 517/22 – Urteil vom 5. April 2023 (LG Cottbus)

Zusammentreffen von Milderungsgründen, Mehrfachmilderung (minder schwerer Fall; verminderte Schuldfähigkeit); mit einer langen Verfahrensdauer verbundene Belastung des Angeklagten, konventionswidrig lange Verfahrensdauer (kein selbstständiger Strafmilderungsgrund; keine Bedeutung im Rahmen der Prüfung einer Strafaussetzung zur Bewährung).

§ 212 StGB; § 213 StGB; § 21 StGB; § 49 Abs. 1 StGB; § 50 StGB; § 56 StGB; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

1. Die bereits bei der Strafrahmenwahl zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigte alkoholbedingte Enthemmung kann nur dann zu einer anschließenden Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB führen, wenn die zur Bejahung des § 21 StGB herangezogenen Umstände insoweit noch weiter reichen als diejenigen, die zur Annahme des minder schweren Falls geführt haben.

2. Anders als die mit einer langen Verfahrensdauer verbundene Belastung des Angeklagten stellt die konventionswidrig lange Verfahrensdauer keinen selbstständigen Strafmilderungsgrund dar. Sie scheidet sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch bei der Strafzumessung im engeren Sinn als bedeutsamer Umstand aus; im Rahmen der Prüfung einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) kommt ihr ebenfalls keine Bedeutung zu.