HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2023
24. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

613. BVerfG 2 BvR 1844/21 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 19. April 2023 (LG Passau / AG Passau)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Durchsuchung einer Wohnung (Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs der falschen Versicherung an Eides Statt betreffend den rechtzeitigen Einwurf eines Schreibens in einen Gerichtsbriefkasten; Wohnungsgrundrecht; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Unverhältnismäßigkeit der Durchsuchung bei sich im Einzelfall aufdrängenden milderen Ermittlungsmaßnahmen zur Entkräftung des Anfangsverdachts).

Art. 13 Abs. 1 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 156 StGB

1. Die Voraussetzungen für eine Wohnungsdurchsuchung wegen des Verdachts einer Straftat nach § 156 StGB sind in einer Verfassungsrecht verletzenden Weise nicht erfüllt, wenn sich aufdrängende mildere Ermittlungsmaßnahmen unterblieben sind, die im Einzelfall geeignet gewesen wären, den (Anfangs-)Verdacht zu zerstreuen. Um die Versicherung an Eides Statt betreffend den rechtzeitigen Einwurf eines Schreibens in einen Gerichtsbriefkasten auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, hätte es in hohem Maße nahe gelegen, die konkrete Handhabung des Nachtbriefkastens an dem fraglichen Feiertag aufzuklären und die von dem Beschuldigten vorgelegte Videodatei von dem Einwurf auf eine mögliche Manipulation hin zu untersuchen.

2. Eine – mit einem schwerwiegenden Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte räumliche Lebenssphäre verbundene – Wohnungsdurchsuchung ist

unverhältnismäßig, wenn naheliegende grundrechtsschonendere Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt werden und die Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des im jeweiligen Verfahrensabschnitt bestehenden Tatverdachts steht.


Entscheidung

614. BVerfG 2 BvR 2180/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 19. April 2023 (LG Hagen / AG Hagen)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen eine Durchsuchung wegen des Verdachts der Geldwäsche (Wohnungsgrundrecht; Erfordernis eines „doppelten Anfangsverdachts“; Richtervorbehalt; Begrenzungsfunktion des Durchsuchungsbeschlusses; unzureichende Umschreibung möglicher (Katalog-)Vortaten nach früherem Recht; keine Nachbesserung im Beschwerdeverfahren).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 152 Abs. 2 StPO; § 261 Abs. 1 Satz 2 StGB a. F.; § 370 Abs. 1 AO; § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG

1. Eine Durchsuchungsanordnung wegen des Verdachts der Geldwäsche genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, wenn dort lediglich angedeutet wird, als Vortaten kämen Steuerhinterziehungen oder Betäubungsmitteldelikte in Betracht, ohne dass einerseits die betroffene Steuerart, der Veranlagungszeitraum oder die pflichtwidrig unterlassenen oder falsch abgegebenen Steuererklärungen oder Voranmeldungen bezeichnet oder andererseits mögliche Betäubungsmittelgeschäfte benannt würden, die in einem Zusammenhang mit den inkriminierten Transaktionen ständen.

2. Der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte räumliche Lebenssphäre des Einzelnen setzt zu seiner Rechtfertigung einen Anfangsverdacht voraus, der über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen und auf konkreten Tatsachen beruhen muss. Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind.

3. Eine Wohnungsdurchsuchung wegen des Verdachts der Geldwäsche erfordert einen Anfangsverdacht nicht nur für eine Geldwäschehandlung, sondern auch dafür, dass der Vermögensgegenstand aus einer bestimmten Vortat – nach der früheren Fassung des Geldwäschetatbestandes: aus dem Katalog des § 261 Abs. 1 Satz 2 StGB a. F. – herrührt (sog. doppelter Anfangsverdacht). Die Vortat ist zu konkretisieren, muss allerdings nicht bereits in ihren Einzelheiten bekannt sein.

4. Um die Durchführung der Durchsuchung messbar und kontrollierbar zu gestalten, muss der Durchsuchungsbeschluss den Tatvorwurf und die gesuchten Beweismittel so beschreiben, dass der äußere Rahmen für die Durchsuchung abgesteckt wird. Der Richter muss die aufzuklärende Straftat, wenn auch kurz, doch so genau umschreiben, wie es nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist.

5. Mängel bei der Beschreibung des Tatvorwurfs und der Beweismittel sind im Beschwerdeverfahren nicht mehr heilbar. Andernfalls würde die Funktion des Richtervorbehalts unterlaufen, eine vorbeugende Kontrolle der Durchsuchung durch eine unabhängige und neutrale Instanz zu gewährleisten und eine Begrenzung der Maßnahme zu erreichen. Hingegen können Defizite in der Begründung des Tatverdachts und der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme im Beschwerdeverfahren nachgebessert werden.


Entscheidung

611. BVerfG 2 BvQ 51/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 29. April 2023 (BGH)

Erfolgloser Eilantrag eines Untersuchungsgefangenen gegen die Anordnung seiner Zwangsernährung (Ernsthaftigkeit des Sterbewunsches; Erfordernis einer belastbaren psychiatrischen Einschätzung; Folgenabwägung zu Lasten des Antragstellers).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Eine (noch zu erhebende) Verfassungsbeschwerde eines erklärtermaßen sterbewilligen Untersuchungsgefangenen gegen die Anordnung seiner Zwangsernährung wäre weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Gleichwohl hat der Betroffene den mit der zwangsweisen Ernährung verbundenen schwerwiegenden Grundrechtseingriff jedenfalls bis zum Vorliegen einer belastbaren psychiatrischen Einschätzung der Ernsthaftigkeit seines Sterbewunsches zu dulden, weil anderenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit irreversible Folgen – sein Ableben – zu befürchten wären.


Entscheidung

612. BVerfG 2 BvR 526/22 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 17. April 2023 (OLG Karlsruhe)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde zur Gefangenenvergütung (Anspruch auf rechtliches Gehör; Übergehen eines Antrags auf Vorlage an das Bundesverfassungsgericht; gerichtliche Pflicht zur Überzeugungsbildung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit anzuwendender Rechtsnormen); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Rechtswegerschöpfung; Erfordernis einer Anhörungsrüge).

Art. 100 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 33a StPO; § 119 Abs. 3 StVollzG

1. Die Entscheidung eines Rechtsbeschwerdegerichts in einem strafvollzugsrechtlichen Verfahren über die Vergütung eines Strafgefangenen verletzt diesen in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn sie auf den Kern des Rügevorbringens nicht eingeht, wonach die Strafvollstreckungskammer den Antrag des Gefangenen auf Vorlage des Verfahrens an das Bundesverfassungsgericht übergangen habe.

2. Im Rahmen der bei ihm anhängigen Verfahren kann und muss sich jedes Gericht, ehe es im Einzelfall ein Gesetz anwendet, eine eigene Überzeugung von dessen Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit bilden. Beschäftigt sich ein Gericht trotz entsprechenden Antrags eines Verfahrensbeteiligten nicht mit der Frage, ob die anzuwendenden Normen nach der eigenen Überzeugung verfassungsgemäß sind, so verletzt es seine Prüfpflichten aus Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG.

3. Zu dem vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg gehört auch eine nicht offensichtlich aussichtslose Anhörungsrüge, wenn der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend macht.