HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2023
24. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Ziviler Ungehorsam und autoritärer Legalismus?

Von RiAG Dr. Lorenz Leitmeier[*], München

In einem bemerkenswerten Beitrag behandelte Kyrill-Alexander Schwarz jüngst die hochaktuelle Frage, wie der Rechtsstaat mit zivilem Ungehorsam umgehen solle.[1] Schwarz vertritt dabei die These, dass Akte zivilen Ungehorsams nicht zu rechtfertigen seien: Recht verlange seine Durchsetzung, um glaubhaft zu bleiben, der Staat habe einen Anspruch auf Rechts- und Gesetzesgehorsam seiner Bürger. Die Aufkündigung dieses Gehorsams treffe die rechtsstaatliche Demokratie in ihrem Kern. Im Ergebnis ist dann ziviler Ungehorsam keine "fortgeschrittene Form der Demonstration"[2], sondern allein gewollte Gesetzwidrigkeit.

I. Mehrheit ist Mehrheit, Gesetz ist Gesetz

Schwarz führt in das "Spannungsfeld zwischen Rechtsstaat einerseits und zivilem Ungehorsam bzw. Widerstand andererseits" mit einem Verweis auf die Aktionen der "Letzten Generation" ein – einer Protestbewegung, " die letzten Endes keine Rücksicht auf gerichtliche Entscheidungen zu nehmen bereit ist, die auch Ausdruck einer Negation des Rechtsstaats zur Durchsetzung partikularer Interessen unter dem Mantel vorgeblich grundrechtlich geschützter Freiheit ist."[3] Die weitere Hinführung zum Thema enthält viele Zitate zu Recht und (heroischem) Widerstand von Papst Leo XIII., General von der Marwitz, Petra Kelly, Theodor Heuss und schließlich der Letzten Generation.[4] Diese Zitate lassen das verfassungsrechtlich schwierige Verhältnis aufscheinen zwischen Rechtsstaat und Protestbewegungen, die Entscheidungen infrage stellen, obgleich sie von der Mehrheit in dafür vorgesehenen rechtsförmigen Verfahren getroffen wurden.

Zur Überraschung des Lesers löst sich dieses spannungsgeladene Verhältnis bei Schwarz dann aber schnell in behagliches Wohlgefallen auf: Die Großdemonstrationen der (jüngeren und ferneren) Vergangenheit, konkret gegen die Startbahn West in Frankfurt, gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, gegen die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses oder gegen Stuttgart 21 sind "Paradebeispiel für die Kapitulation des Rechtsstaats vor der Macht der Straße, oder etwas schärfer formuliert für ein Versagen der Befriedungsbedeutung des Rechtsstaats gegenüber einer inszenierungsmächtigen Minderheit, (…) ein eklatantes Versagen der Durchsetzungskraft und -macht des Rechtsstaats und seiner Entscheidungen."[5] In all diesen Fällen habe es schließlich rechtskräftige Entscheidungen gegeben, wonach die Vorhaben zulässig seien. Werde geltendes Recht aus Gründen falsch verstandener politischer Opportunität nicht durchgesetzt, erodiere der Rechtsstaat. Bestimmendes Merkmal des zivilen Ungehorsams ist Schwarz zufolge die Gesetzwidrigkeit der jeweiligen Aktion, die Bezeichnung "Regelverstoß" verharmlose dieses Vorgehen. Apodiktisch folgt die Quintessenz dieses Denkens: "Der Rechtsstaat ist Herrschaft des Rechts und verlangt die Durchsetzung geltenden Rechts." Rechtsförmlich entstandenes Recht sei zu befolgen, bei Zweifeln stünden Rechtsbehelfe zur Verfügung – aber "entscheidend für die Akzeptanz des Rechts ist dann auch, dass es nach Abschluss eines entsprechenden Verfahrens befolgt und nicht mehr unter Hinweis auf para- oder metarechtliche Parameter infrage gestellt wird." Schwarz hält den Protagonisten des zivilen Ungehorsams Anmaßung vor, wenn sie Ergebnisse nicht akzeptierten, sofern sie im Prozess der politischen Willensbildung unterlegen seien: "Das aber ist dann Selbstgerechtigkeit und moralische Überhöhung, die weder unter moralischen noch unter rechtlichen Gesichtspunkten diskutabel erscheint."[6] Ziviler Ungehorsam ist also derart eindeutig illegal, dass es nicht einmal eine Diskussion darüber wert ist.

In idealtypischer Weise vertritt Schwarz damit eine Position, die Jürgen Habermas vor 40 Jahren "autoritären Legalismus" genannt hat. Als habe er seinen Beitrag für die aktuelle Diskussion um Klimaaktivisten geschrieben, befand Habermas 1983, im Zuge der Diskussion um den "NATO-Doppelbeschluss" und die Proteste der Bevölkerung dagegen: "Wer in diesen Tagen (…) die herrschende Meinung der Juristen zu Rate zieht, wird sich über die ´Gesetz ist Gesetz´-Mentalität nicht täuschen können. Das Dogma der staatstragenden Kräfte steht auf festen Beinen: Wer unter Berufung auf sein Gewissen Gesetze bricht, nimmt sich Rechte heraus, die unsere demokratische Rechtsordnung um der Sicherheit und der Freiheit aller Bürger

willen niemandem einräumen kann. Wer im Rechtsstaat zivilen Ungehorsam leistet, setzt mit dem Rechtsfrieden eine der höchsten und verletzbarsten kulturellen Eigenschaften aufs Spiel."[7] In Wahrheit beendet diese Ansicht, wonach in einem demokratischen Rechtsstaat Gesetzesbrüche und Aktionsformen wie die der "Letzten Generation" immer per se ungerechtfertigt und inakzeptabel seien, den demokratietheoretischen Diskurs über Rechtsstaat und zivilen Ungehorsam mit der eindimensionalen Formel: Sachbeschädigung ist Sachbeschädigung ist kriminell ist zu bestrafen. Von diesem Punkt aus ist es nicht mehr weit bis zur "Grünen Armee Fraktion".[8] Für diese Haltung findet sich ebenfalls ein hübsches Zitat, von den Fantastischen Vier: "Es könnt' alles so einfach sein, ist es aber nicht."

II. Staatlicher Ungehorsam?!

Schwarz behandelt das Verhältnis zwischen Rechtsstaat und zivilem Ungehorsam durchgehend als strenges Gegensatzpaar: Hier die Herrschaft des Rechts, dort der Gesetzesbruch. Diesem dichotomen Denken gemäß erlässt der Staat förmliche Gesetze und ist damit im Recht, ziviler Ungehorsam außergesetzlich und illegal. Wenn Schwarz in einer rhetorischen Frage Partizipation zur bloßen Verhinderungsstrategie erklärt, die nicht nach sachlichen Argumenten fragt, sondern die Richtigkeit der eigenen Argumentation a priori für sich in Anspruch nimmt, würdigt er die Ziele der Klimaaktivisten herab als partikulare Minderheitsinteressen mit Tendenz zu egoistischen Privatvorlieben. Wird aber im Zerrbild auf der einen Seite der Rechtsstaat als formell korrekt verlaufender Prozess der Rechtserzeugung gezeichnet und auf der anderen eine intolerante Minderheit, die auf ihrer moralisch überlegenen Position besteht – dann ist die Entscheidung natürlich leicht. Allein: so eindeutig ist es nicht, und auch vor 40 Jahren war die rechtliche Diskussion schon wesentlich differenzierter.

Tatsächlich wird die existenzielle Dimension der Klimakrise verschleiert oder gar geleugnet, wenn man plump die Mehrheit-ist-Mehrheit-Regel bemüht, um die Spannung zwischen Rechtsstaat und zivilem Ungehorsam einseitig aufzulösen. Die "bestimmten Ziele", von denen Schwarz spricht, sind nämlich keine Privatinteressen einer Minderheit mit "Verhinderungsstrategie" – es sind rechtlich verbindliche Ziele: Bekanntlich wurde in Paris am 12.12.2015 im Rahmen der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) ein Abkommen beschlossen (Pariser Abkommen)[9], das die EU am 5.10.2016 mit dem Beschluss (EU) 2016/18414 umsetzte, woraufhin es am 4.11.2016 in Kraft trat.[10] Die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete (22.4.2016).und ratifizierte (5.10.2016) das Pariser Abkommen ebenfalls.[11] Mag die Skala der Verbindlichkeitsgrade im Abkommen sehr weit gefächert und die Reichweite einzelner Regelungen juristisch umstritten sein[12], ist doch das Ergebnis nach Ansicht der Literatur eine rechtlich verbindliche Verpflichtung zu einem gewissen Verhalten (wenngleich nicht zu einem bestimmten Ergebnis).[13]

In seinem spektakulären Beschluss vom 24.3.2021[14] erklärte zudem das BVerfG mit der Verbindlichkeit des § 31 Abs. 2 BVerfGG einzelne Vorschriften des Klimaschutzgesetzes (KSG) für "insoweit verfassungswidrig, als sie unverhältnismäßige Gefahren der Beeinträchtigung künftiger grundrechtlicher Freiheit begründen. (…) Als intertemporale Freiheitssicherung schützen die Grundrechte (…) vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20 a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft."[15] Das BVerfG fordert Mindestregelungen über Reduktionserfordernisse nach 2030 ein, die der Entwicklung klimaneutraler Techniken und Praktiken rechtzeitig grundlegende Orientierung und Anreiz zu bieten. Durch diesen Beschluss ist mit Gesetzeskraft festgestellt, dass die Mehrheit nur noch begrenzt Ressourcen verbrauchen darf, um nicht späteren Mehrheiten die Lebensgrundlage zu entziehen.

Wenn bei der Überprüfung dieser Vorgaben dann aber der Expertenrat für Klimafragen im Zweijahresgutachten 2022 feststellt, dass Deutschland die Ziele nicht erreichen wird "ohne Paradigmenwechsel"[16]; wenn die Lebensgrundlagen weiterhin im Zeitraffer beschädigt werden und einzelne Sektoren die verbindlichen Klimaziele nicht annähernd erreichen – muss man dann nicht von "staatlichem Ungehorsam" sprechen? Begeht im Vergleich mit den Klimaaktivisten, die diesen Paradigmenwechsel einfordern, den gravierenderen Gesetzesbruch dann nicht der Staat, sprich die

klima-zögerliche Mehrheit? Mit Blick auf das Pariser Übereinkommen und den Beschluss des BVerfG ließe sich das Diktum Schwarz´ jedenfalls auch der Bundesregierung vorhalten: "Der Rechtsstaat ist Herrschaft des Rechts und verlangt die Durchsetzung geltenden Rechts." Schwarz hingegen spricht von "angeblich pflichtwidrigen Unterlassungen der öffentlichen Gewalt" und unterstellt den Demonstranten, es gehe "in Wahrheit gerade nicht um die Beseitigung etwaiger Mängel, sondern (…) um die undemokratische, weil nicht im Parlament beschlossene, Durchsetzung individueller Vorstellungen."[17] Wie weit ist diese Auffassung noch entfernt vom Obrigkeitsstaat, der für Recht und Ordnung sorgt, und in dem die Bürger sich nur so weit beteiligen, dass es nicht stört: "Demonstrationen sollten aus polizeilichen Gründen am besten im Saale stattfinden, jedenfalls nicht abweichen vom Normalbild des geordneten Umzugs erwachsener und reinlich gekleideter Bürger mit abschließender Ansprache vor dem Rathaus."[18]

III. Die Zweideutigkeit zivilen Ungehorsams

Der zivile Ungehorsam lässt sich nur mit Zwang als eindeutig (illegal) festlegen, in Wahrheit ist er zweideutig.

1. Nebelkerze Art. 20 IV GG

Schwarz gibt umfassend den Meinungsstand zum Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG wieder und möchte in der Quintessenz nachweisen, dass diese Vorschrift den zivilen Ungehorsam nicht legitimieren kann: "Der selektive Rechtsgehorsam eines zivilen Ungehorsams unter dem Mantel eines vorgeblich moralisch gebotenen Widerstandes ist ohne juristische Rechtfertigung. (…) Ziviler Ungehorsam hat nach alledem nichts mit dem in Art. 20 IV GG normierten Widerstandsrecht zu tun."[19] Damit allerdings widerlegt Schwarz eine These, die gar nicht aufgestellt wurde: Art. 20 IV GG ist nämlich nicht im Ansatz geeignet, zivilen Ungehorsam zu rechtfertigen, diese Argumentationsfigur muss gar nicht entkräftet werden. Zunächst einmal leidet Art. 20 IV GG an einem unheilbaren Selbstwiderspruch: Eine Rechtsordnung führt sich selbst ad absurdum, wenn sie rechtliche Vorsorge dafür treffen will, nicht abgeschafft zu werden. Wer sich als Bürger auf den revolutionären Akt des Widerstands beruft, dem kann dieses Risiko nicht positivrechtlich abgenommen werden.[20] Widerstandshandlungen im Sinne des Art. 20 IV GG verlassen den Bereich des Rechtlichen, hier beginnt Politik: Es ist das notwendige Verhalten desjenigen, der in der Stunde der Gefahr entschlossen ist, das (aus seiner Sicht) Richtige zu tun.[21]

Die Protagonisten zivilen Ungehorsams, speziell der "Letzten Generation", berufen sich auch nicht darauf, dass sie Widerstand gegen die Regierung leisteten, weil die die verfassungsmäßige Ordnung aufheben wollte. Es sind symbolische Aktionen mit Appellcharakter, weil die Regierung ihren verfassungsmäßigen Pflichten unzureichend nachkomme. Dass sich ziviler Ungehorsam fundamental vom Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG unterscheidet, ist rechtlich zwingend – es besagt aber nichts darüber, ob er legitim sein kann oder nicht.

2. Bedingungen zivilen Ungehorsams

Selbstverständlich kann sich nicht jeder Bürger, der mit Regierungshandeln nicht einverstanden ist und deshalb verbotswidrig handelt, auf zivilen Ungehorsam berufen. Nicht tragfähig ist deshalb die radikale Gegenposition zum "autoritären Legalismus": Mehrheitsentscheidungen werden nur toleriert, wenn die Minderheit nichts dagegen hat. Ziviler Ungehorsam muss also definiert werden und Mindestbedingungen erfüllen. Auch hier ist das Wesentliche schon gedacht worden: Habermas sieht unter Bezugnahme auf John Rawls´ "Theorie der Gerechtigkeit" das Charakteristikum zivilen Ungehorsams in einer "öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber gesetzwidrigen Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll".[22] Ziviler Ungehorsam muss demnach mehrere Bedingungen erfüllen, damit er gerechtfertigt sein kann: "Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrundeliegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests."[23] Die Protestaktionen der Klimaaktivisten sind, wenn sie (selbstredend) gewaltfrei bleiben[24], nach diesen Maßstäben ziviler Ungehorsam und allein schon deshalb nicht kriminell, weil sich die Aktivisten der Strafe stellen und nicht darauf spekulieren, unerkannt mit illegalen Vorteilen davonzukommen. Die Aktivisten bleiben mit ihren Gesetzesverstößen punktuell und symbolisch, sie akzeptieren den Rechtsstaat als Errungenschaft und wollen an die Mehrheit appellieren, mehr Einsatz für die – verbindlichen – Klimaziele zu zeigen. Die Durchsetzung ihrer Anliegen erzwingen können sie nicht und sollten sie auch nicht anstreben: Zwangsvollstreckung bleibt das Monopol des Staates.

Für die Mehrheitsregel auf der anderen, unter Druck gesetzten Seite gilt: Natürlich ist sie in der Demokratie zentral, kein ernstzunehmender Jurist würde für ihre Abschaffung plädieren. Allerdings, und auch darauf weist Habermas hin, ist die legitimatorische Kraft der Mehrheitsregel an Voraussetzungen gebunden[25]: Es darf keine geborenen Minderheiten geben, die Mehrheit darf keine irreversiblen Entscheidungen treffen, und sie muss sich immer an der Idee messen lassen, wie weit sich ihre Entscheidungen "von den idealen Ergebnissen eines diskursiv erzielten Einverständnisses oder eines präsumtiv gerechten Kompromisses entfernen." Und in diesem Punkt stößt die Mehrheitsregel an die Grenzen ihrer Legitimation: Indem die Mehrheit für den Klimaschutz zu wenig tut, gemessen an dem, was wissenschaftlich erwiesen nötig wäre, schafft sie irreversible Tatsachen. Die Möglichkeit zur Bewahrung der Lebensgrundlagen schwindet, künftigen Mehrheiten wird der Gestaltungsspielraum genommen. Die aktuelle Mehrheit kann sich gegenüber der Minderheit eben nicht allein auf die Mehrheitsregel berufen, wenn ihre Entscheidungen (oder ihr Unterlassen) nicht mehr rückgängig zu machen sind.

IV. Fazit

Der autoritäre Legalismus löst die Spannung zwischen Rechtsstaat und zivilem Ungehorsam einseitig und eindeutig auf, Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation ist der Gesetzesgehorsam: Wer den als Bürger – auch nur punktuell – aufkündigt, der trifft nach dieser Ansicht die rechtsstaatliche Demokratie in ihrem Kern, der "stellt demokratisch legitimierte Entscheidungen infrage und verwandelt – im Einzelfall auch berechtigte – Kritik an staatlichen Entscheidungen in Ungehorsam gegenüber der Herrschaft des Rechts"[26]. Wer zivilen Ungehorsam (in Einzelfällen) dennoch für berechtigt hält oder gar ausübt, wird apodiktisch ins rechtliche Abseits gestellt, der ist verantwortlich für eine "Diktatur der Werte, nicht des Rechts", der negiert den demokratischen Rechtsstaat "und beraubt ihn seiner Existenzgrundlage."[27] Dieses Denken offenbart ein fundamentales Fehlverständnis: Wer sich als Bürger unter – wissenschaftlich belegtem – exzeptionellem Handlungsdruck zu Rechtsverletzungen gezwungen sieht und die offene Illegalität wählt, nimmt das volle Risiko der Konsequenzen auf sich. Er respektiert den Rechtsstaat, weil er sich der Strafe stellt; er möchte gerade nicht den außerlegalen Privatvorteil für sich einstreichen, sondern an die Mehrheit appellieren, die existenziellen Grundlagen des Rechtsstaats zu erhalten.

Der autoritäre Legalismus hingegen klammert sich umso verzweifelter an Eindeutigkeiten, je schwankender der Boden ist: Fortbestand der Demokratie und Erhalt der Lebensgrundlagen stehen zunehmend in einem Spannungsverhältnis, wenn die Zukunft der jungen Menschen weiterhin durch staatliches Unterlassen aufgebraucht wird. Darauf darf der Rechtsstaat nicht mit der Parole reagieren: Sitzen ist Gewalt, Nötigung ist Nötigung, ziviler Ungehorsam ist kriminell. Wer zivilen Ungehorsam leistet, ist gerade kein gewöhnlicher Rechtsbrecher, die Mehrheit sollte ihn nicht mit der blinden Autorität der Legalität aburteilen, denn sie weiß nie: Vielleicht sind die Narren von heute auch morgen noch einfach nur die Narren von gestern – vielleicht aber Helden. Es bleibt die Erkenntnis von vor 40 Jahren, aktueller denn je: "Der autoritäre Legalismus verleugnet die humane Substanz des Nicht-Eindeutigen genau dort, wo der Rechtsstaat von dieser Substanz zehrt."[28]


[*] Der Autor ist hauptamtlicher Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern (HföD), Fachbereich Rechtspflege .

[1] NJW 2023, 275-280.

[2] Unter Bezug auf den Titel des Beitrags von Leinen, in: Glotz Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 23.

[3] NJW 2023, 275.

[4] NJW 2023, 275 (276); der Dramatiker Brecht erhält dabei in versehentlicher Ironie den Vornamen "Bertold" – fast so, als wolle Schwarz maximale Distanz zu "linkem" Gedankengut wahren.

[5] NJW 2023, 275 (276).

[6] NJW 2023, 275 (280).

[7] Habermas Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: Glotz Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 29 (35 f.).

[8] Siehe dazu nur den Antrag der Fraktion der CDU/CSU: "Straßenblockierer und Museumsrandalierer härter bestrafen – Menschen und Kulturgüter vor radikalem Protest schützen, BT-Drs. 20/4310 vom 8.11.2022; vgl. Schwarz NJW 2023, 275 (276, Fn. 5).

[9] UNFCCC, Entscheidung 1/CP.21, Adoption of the Paris Agreement, UN Doc FCCC/CP/2015/10/Add.1, Annex, http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=FCCC/CP/2015/10/Add.1; deutsche Fassung: Übereinkommen von Paris, ABl. EU 2016, Nr. L 282/4, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:22016A1019(01)&from=DE.

[10] European Commission, Paris Agreement to enter into force as EU agrees ratification, https://ec.europa.eu/energy/en/news/paris-agreement-enter-force-eu-agrees-ratification. Gemäß Art. 21 Abs. 1 des PA tritt das Abkommen 30 Tage nachdem mindestens 55 Vertragsparteien, auf die wenigstens 55 % der weltweiten Emissionen fallen, es ratifiziert haben, in Kraft. Mit der Ratifikation durch die EU wurden diese Bedingungen erfüllt.

[11] United Nations Treaty Collection, Paris Agreement, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=XXVII-7-d&chapter=27&clang=_en.

[12] Zur Rechtsverbindlichkeit des Übereinkommens von Paris vgl. die Ausarbeitung des Fachbereichs Europa des Deutschen Bundestags, PE-6-105-18-pdf-data.pdf (bundestag.de).

[13] Bodansky The Legal Character of the Paris Agreement, Review of European, Comparative & International Environmental Law 2016, 146; Rajamani The 2015 Paris Agreement: Interplay Between Hard, Soft and Non-Obligations, Journal of Environmental Law 2016, 354.

[14] 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20 = BeckRS 2021, 8946.

[15] BVerfG BeckRS 2021, 8946 Rn. 183.

[16] Expertenrat-klima.de.

[17] NJW 2023, 275 (278 und 279 f.).

[18] Habermas Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: Glotz Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 29 f.

[19] NJW 2023, 275 (279 f.)

[20] Vgl Lübbe-Wolf ZParl 1980, 110 (120, Fn. 36).

[21] Sehr kritisch Böckenförde ZParl 1980, 591 (595).

[22] Habermas Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: Glotz Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 29 (34), unter Verweis auf John Rawls Theorie der Gerechtigkeit, 1975, 401.

[23] Habermas Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: Glotz Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 29 (35).

[24] In diesem Punkt haben sich die Protagonisten im Zuge der Räumung des Dorfes Lützerath nicht ausreichend eindeutig verhalten.

[25] Habermas Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: Glotz Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 29 (49 f.).

[26] NJW 2023, 275 (280).

[27] NJW 2023, 275 (280).

[28] Habermas Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: Glotz Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 29 (52).