HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2023
24. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

215. BVerfG 2 BvR 378/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 21. Dezember 2022 (OLG Naumburg)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen Polizeibeamte wegen Mordes nach einem Todesfall in polizeilichem Gewahrsam (Fall Oury Jalloh; Anspruch auf Strafverfolgung Dritter bei erheblichen Straftaten gegen gewichtige Rechtsgüter; Ermittlungspflicht bei möglichen Straftaten von Amtsträgern bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben; spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht gegenüber Personen in einem strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnis; Recht auf effektive Strafverfolgung für nahe Angehörige bei Kapitaldelikten; wirksame Ermittlungen nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Darlegungsanforderungen an einen Klageerzwingungsantrag; Wiedergabe des wesentlichen Inhalts von Beweismitteln).

Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 6 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 170 Abs. 1 StPO; § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 203 StPO

1. Der Anspruch des Bruders eines durch einen Brand in einer polizeilichen Gewahrsamszelle Getöteten auf effektive Strafverfolgung ist nicht verletzt, wenn das Oberlandesgericht bei der Überprüfung der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Polizeibeamte wegen des Verdachts eines (Verdeckungs-)Mordes nach kritischer und detaillierter Auseinandersetzung mit den Ermittlungsergebnissen nachvollziehbar darlegt, dass es – unabhängig von der Frage,

ob der Geschädigte das Feuer selbst entzündet haben kann – für eine Brandlegung von anderer Seite jedenfalls an einem hinreichenden Tatverdacht gegen einen konkreten Beschuldigten fehlt und dass weitere erfolgversprechende Ermittlungsansätze nicht vorhanden sind.

2. Wenngleich das Grundgesetz den Staat verpflichtet, Grundrechte des Einzelnen zu schützen, so vermittelt es dem Einzelnen doch grundsätzlich keinen Anspruch auf Strafverfolgung Dritter.

3. Etwas anderes gilt allerdings bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit der Person, soweit der Einzelne nicht in der Lage ist, diese abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und der Gewalt führen kann.

4. Ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung kommt zudem in Betracht, wenn der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben oder wenn sich Personen in einem strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnis zum Staat befinden und diesem – wie etwa im Straf- oder Maßregelvollzug – eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt. Bei Kapitaldelikten kann ein solcher Anspruch auch nahen Angehörigen zustehen.

5. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung bezieht sich auf das Tätigwerden aller Strafverfolgungsorgane, die – nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes – den Sachverhalt aufzuklären, die Beweismittel zu sichern und zu gewährleisten haben, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen von Rechtsgütern auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden. Die Erfüllung der Verpflichtung unterliegt der gerichtlichen Kontrolle und setzt eine detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs ebenso voraus wie eine nachvollziehbare Begründung von Einstellungsentscheidungen.

6. Es begegnet im Grundsatz keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO so auszulegen, dass der Klageerzwingungsantrag in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für ihre Unrichtigkeit wiedergeben und eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten muss, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage in materieller und formeller Hinsicht rechtfertigt.

7. Die Darlegungsanforderungen dürfen jedoch nicht überspannt werden. Der Antragsteller ist in der Regel nicht gehalten, etwa die Einlassung eines Beschuldigten oder den Inhalt von Zeugenaussagen vollständig wiederzugeben. Jedoch hat er von Beweismitteln, aus denen er vorträgt, zumindest den wesentlichen Inhalt darzustellen und dabei auch solche Umstände mitzuteilen, welche den Beschuldigten entlasten können, um eine nur selektive und dadurch gegebenenfalls sinnentstellende Darstellung der Ermittlungsergebnisse zu verhindern.


Entscheidung

216. BVerfG 2 BvR 1122/22 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 27. Januar 2023 (BGH / LG Bonn)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Verurteilung wegen Steuerhinterziehung durch sogenannte Cum-Ex-Geschäfte (Recht auf den gesetzlichen Richter; Besorgnis der Befangenheit wegen Vorbefassung nur bei Hinzutreten besonderer Umstände; unverzichtbare Ausführungen zur Täterschaft des Angeklagten in einem vorangegangenen Urteil gegen andere Beteiligte wegen Beihilfe zu denselben Taten; keine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur gemeinsamen Verfahrensführung oder zur Aburteilung des Täters vor den Gehilfen; eingeschränkte verfassungsgerichtliche Nachprüfung der Befangenheitsfrage; Rechtsprechung des EGMR; objektive Zweifel an der Unvoreingenommenheit erst bei Feststellungen oder Wertungen ohne rechtliche Notwendigkeit).

Art. 1 Abs. 2 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 22 Nr. 5 StPO; § 24 Abs. 2 StPO; § 338 Nr. 3 StPO; § 27 Abs. 1 StGB; § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO; § 370 Abs. 4 Satz 2 AO

1. Eine Verurteilung wegen Steuerstraftaten im Zusammenhang mit Aktienkäufen über den Dividendenstichtag (sog. Cum-Ex-Geschäfte) verletzt den Angeklagten nicht in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter, wenn das Landgericht in einem vorangegangenen Urteil gegen Börsenhändler, die wegen Beihilfe zu den Taten des Angeklagten verurteilt worden waren, bereits ausgeführt hatte, dass dem bei einer an der Abwicklung der Geschäfte beteiligten Bank tätigen Angeklagten insoweit vorsätzlich begangene rechtswidrige Steuerstraftaten zur Last lägen (Folgeentscheidung zu BGH, Urteil vom 28. Juli 2021 – 1 StR 519/20 – [= HRRS 2021 Nr. 984] und Beschluss vom 6. April 2022 – 1 StR 466/21 – [= HRRS 2022 Nr. 577]).

2. Angesichts der Vielzahl der in unterschiedlichen Fallkonstellationen an Geschäften aus dem Cum-Ex-Komplex beteiligten Personen war es von Verfassungs wegen nicht geboten, mit dem Prozess gegen Beteiligte, deren Tatbeiträge lediglich als Beihilfe eingeordnet wurden, abzuwarten, bis die Verfahren gegen die (Haupt-)Täter zur Anklage gelangt waren. In dem früher geführten Verfahren gegen die Gehilfen konnte auf Feststellungen zum Vorliegen einer vorsätzlichen und rechtswidrigen Haupttat und damit zum Tatbeitrag des später als Täter Angeklagten, der die maßgeblichen Steuererklärungen (mit)unterzeichnet hatte, nicht verzichtet werden. Zu dessen Schuld hatte sich die Strafkammer – konventionsrechtliche Anforderungen beachtend – einer Aussage enthalten.

3. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach eine denselben Verfahrensgegenstand betreffende Vortätigkeit eines erkennenden Richters in Verfahren gegen andere Beteiligte desselben Lebenssachverhalts nur ausnahmsweise die Ausschließung des Richters nach sich zieht und nur bei Hinzutreten besonderer Umstände die Besorgnis der Befangenheit begründet, ist unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf den gesetzlichen Richter nicht zu beanstanden.

4. Die strafprozessualen Befangenheitsregeln dienen dem durch das Recht auf den gesetzlichen Richter verbürgten

Ziel, auch im Einzelfall die Neutralität und Distanz der zur Entscheidung berufenen Richter zu sichern. Mit Blick auf ihre Auslegung und Anwendung prüft das Bundesverfassungsgericht nicht, ob tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit bestanden hat, sondern nur, ob die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs im Einzelfall willkürlich war oder ob das Strafgericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verkannt hat.

5. Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte genügt allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche, aber selbständige Tatvorwürfe entschieden oder in einem gesonderten Strafverfahren gegen einen Mitangeklagten verhandelt hat, nicht, um in einem nachfolgenden Fall Zweifel an der Unparteilichkeit dieses Richters zu begründen. Insbesondere in komplexen Strafverfahren mit mehreren Beteiligten, die nicht in einem Verfahren gleichzeitig abgeurteilt werden können, kann es für die Beurteilung der Schuld der Angeklagten unerlässlich sein, dass das Strafgericht auf die Beteiligung Dritter Bezug nimmt, gegen die später möglicherweise ein gesondertes Verfahren geführt wird.

6. Objektive Zweifel an der Unvoreingenommenheit können erst dann bestehen, wenn das Strafgericht in einem früheren Urteil ohne rechtliche Notwendigkeit die Rolle des später Angeklagten derart detailliert beurteilt hat, dass es nicht nur die diesen betreffenden Tatsachen beschrieben, sondern sein Verhalten über das Erforderliche hinaus rechtlich bewertet und alle Kriterien für die Erfüllung eines Straftatbestands als erfüllt angesehen hat (Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, Meng vs. Deutschland [= HRRS 2022 Nr. 348]).


Entscheidung

217. BVerfG 2 BvR 1719/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 19. Januar 2023 (OLG Hamm / LG Arnsberg)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines Sicherungsverwahrten gegen eine Fesselung während eines mehrtägigen Krankenhausaufenthalts (gewichtiger Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht; strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung; Erfordernis einer Einzelfallbetrachtung; Gewichtung von Dauer, Durchführungsart und Stigmatisierungswirkung der Fesselung sowie von Alter, Gesundheitszustand und Vollzugsverhalten des Betroffenen; Prüfung der individuellen Flucht- oder Missbrauchsgefahr).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 3 EMRK; § 69 StVollzG NRW; § 69 SVVollzG NRW

1. Die gerichtliche Bestätigung der über vier Tage andauernden Fesselung eines Sicherungsverwahrten anlässlich eines externen Krankenhausaufenthalts verkennt Bedeutung und Tragweite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, wenn die Strafvollstreckungskammer bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht auf die erhebliche Dauer der Fesselungsanordnung eingeht und nicht berücksichtigt, dass der gesundheitlich beeinträchtigte, vor der Ausführung körperlich durchsuchte Betroffene durchgehend von zwei bewaffneten Justizvollzugsbeamten begleitet wurde und sich während des bereits über zehn Jahre andauernden Vollzugs der Sicherungsverwahrung bislang stets beanstandungsfrei verhalten hatte.

2. Eine Fesselungsanordnung im Vollzug der Sicherungsverwahrung stellt einen gewichtigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar und erfordert eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung. Bei der gebotenen Bestimmung des Gewichts des Eingriffs im konkreten Einzelfall spielen neben der mit einer sichtbaren Fesselung einhergehenden stigmatisierenden Wirkung und der Dauer und konkreten Durchführungsart der Fesselung auch etwaige gesundheitliche Beeinträchtigungen des Gefangenen, sein Alter sowie der Umstand eine Rolle, ob er durch sein Verhalten Veranlassung zu der Fesselung gegeben hat.

3. Nach der bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigenden Rechtsprechung des EGMR sind bei der Beurteilung, ob eine Fesselung gegen Art. 3 EMRK verstößt, (ebenfalls) die individuelle Vorgeschichte und der Gesundheitszustand des Gefangenen, etwaiges gefährliches Vorverhalten in Haft, ergänzend angewandte Sicherungsmaßnahmen sowie die Dauer und öffentliche Wahrnehmbarkeit der Fesselung zu berücksichtigen.

4. Dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht eines Gefangenen gebührt regelmäßig der Vorrang vor den Sicherheitsinteressen der Anstalt und der Allgemeinheit, wenn nach dem Vorverhalten des Gefangenen in Haft, seinem Gesundheitszustand, seinem Alter und dem Verlauf vorangegangener Ausführungen die Gefahr der Entweichung bei einer Ausführung auch in Anbetracht der gleichzeitig angeordneten Beaufsichtigung durch (bewaffnete) Justizbedienstete fernliegend ist. Das gilt insbesondere, wenn die Fesselung über einen längeren Zeitraum andauert.

5. Eine vollzugsbehördliche Praxis, die ohne Prüfung der individuellen Flucht- beziehungsweise Missbrauchsgefahr durch Justizbedienstete beaufsichtigte Ausführungen nur erlaubt, wenn der Gefangene gefesselt ist, ist verfassungsrechtlich nicht haltbar. Eine landesrechtliche Ermächtigungsgrundlage für Fesselungen bei Ausführungen darf nicht dahin ausgelegt werden, dass diese ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls als Regelfall ohne Weiteres zulässig sind.