HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2021
22. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

1125. BGH 1 StR 329/21 – Beschluss vom 23. September 2021 (LG Landshut)

Strafzumessung (Berücksichtigung ausländischer Vorstrafen: erforderliche Feststellungen zur Tilgungsreife nach deutschem Recht).

§ 46 StGB; § 58 BZRG; § 51 Abs. 1 BZRG.

1. Zwar dürfen bei der Strafzumessung auch rechtskräftige ausländische Vorstrafen berücksichtigt werden, wenn die Tat nach deutschem Recht strafbar wäre und die ausländische Verurteilung – würde es sich um eine solche nach deutschem Recht handeln – nicht tilgungsreif wäre; für nicht im Bundeszentralregister eingetragene ausländische Verurteilungen ergibt sich dies aus § 58 BZRG. Liegt Tilgungsreife vor, besteht das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG, gegebenenfalls in Verbindung mit § 63 Abs. 4 BZRG.

2. Kommt bei einer dem Tatgericht bekannt gewordenen, zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigungsfähigen ausländischen Vorstrafe in Betracht, dass diese – wäre das Urteil nach innerstaatlichem Recht ergangen – im Falle ihrer Eintragung im Bundeszentralregister tilgungsreif wäre, muss es die für die Tilgungsreife erforderlichen Feststellungen treffen und bewerten sowie dies im Urteil darlegen.


Entscheidung

1144. BGH 2 StR 140/21 – Beschluss vom 31. August 2021 (LG Frankfurt am Main)

Grundsätze der Strafzumessung (Wechselwirkung zwischen der verhängten Strafe und einer Maßregel der Besserung und Sicherung; drohender Widerruf der Strafrestaussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung); Unterbringung in der Sicherungsver-

wahrung (Ermessensentscheidung: Verhältnismäßigkeit, lebenslange Freiheitsstrafe, drohender Widerruf); Widerruf der Strafaussetzung (Widerrufsentscheidung).

§ 46 StGB; § 66 StGB; § 56f StPO

1. Die Anordnung der Unterbringung eines Angeklagten in der Sicherungsverwahrung ist auch in Fällen des § 66 Abs. 3 StGB neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht generell ausgeschlossen. Im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird jedoch bei Ermessensentscheidungen nach § 66 Abs. 3 StGB eine einzelfallbezogene Prüfung vorausgesetzt, ob für die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe ein Sicherungsbedarf besteht.

2. Bei Widerrufsentscheidungen bezüglich einer lebenslangen Freiheitsstrafe ist die besondere Situation des Verurteilten zu berücksichtigen, wonach im Fall des Widerrufs nicht lediglich ein zeitiger Strafrest zu verbüßen ist, sondern der Verurteilte wieder in eine zeitlich unbeschränkte Haft genommen wird. Deshalb kann nicht jede in der Bewährungszeit begangene Straftat zum Widerruf der Strafrestaussetzung führen, sondern nur ein erhebliches Gewaltdelikt oder eine sonst besonders schwere Straftat.


Entscheidung

1162. BGH 4 StR 21/21 – Beschluss vom 14. September 2021 (LG Leipzig)

Gefährliche Körperverletzung (mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung: eine aus weiteren äußeren Umständen ergebende Lebensgefahr, abstrakte Lebensbedrohlichkeit; gefährliches Werkzeug: gezieltes Anfahren mit einem Pkw); gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr („Beinnaheunfall“; verkehrsspezifische Gefahr); Einziehung von Tatmitteln (Charakter einer Nebenstrafe: Strafzumessungsentscheidung, Berücksichtigung im Wege der Gesamtbetrachtung der den Täter treffenden Rechtsfolgen; Ermessensentscheidung); Strafzumessung (kein Anlass des Geschädigten für die Tatbegehung: keine Anlastung gegenüber dem Täter; minderschwerer Fall: Einbeziehung eines vertypten Strafmilderungsgrunds).

§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB; § 315b Abs. 1 StGB; § 74 Abs. 1 StGB; § 212 StGB; § 23 StGB; § 46 StGB

Eine Maßnahme nach § 74 Abs. 1 StGB hat den Charakter einer Nebenstrafe und stellt damit eine Strafzumessungsentscheidung dar. Wird dem Täter auf diese Weise ein ihm zustehender Gegenstand von nicht unerheblichem Wert entzogen, so ist dies deshalb ein bestimmender Gesichtspunkt für die Bemessung der daneben zu verhängenden Strafen und insoweit im Wege einer Gesamtbetrachtung der den Täter treffenden Rechtsfolgen angemessen zu berücksichtigen.


Entscheidung

1139. BGH 2 StR 3/20 – Beschluss vom 6. Juli 2021 (LG Aachen)

Einziehung von Taterträgen (tatsächliche Verfügungsmacht: mittäterschaftliche Tatbeteiligung, Mitverfügungsgewalt, ungehinderter Zugriff); Einziehung des Wertes von Taterträgen.

§ 73 StGB; § 73c Satz 1 StGB

Allein die mittäterschaftliche Tatbeteiligung des Angeklagten für sich betrachtet belegt oder begründet keine tatsächliche Verfügungsgewalt im Sinne von § 73 StGB. Einem Tatbeteiligten kann die Gesamtheit des aus der Tat Erlangten mit der Folge einer gesamtschuldnerischen Haftung nur dann zugerechnet werden, wenn sich die Beteiligten einig sind, dass jedem die Mitverfügungsgewalt hierüber zukommen soll, und er diese auch tatsächlich hatte. Dabei genügt es, dass der Tatbeteiligte zumindest faktische bzw. wirtschaftliche Mitverfügungsgewalt über den Vermögensgegenstand erlangte. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn er im Sinne eines rein tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses ungehinderten Zugriff auf den betreffenden Vermögensgegenstand nehmen konnte.


Entscheidung

1075. BGH 3 StR 148/21 – Beschluss vom 25. August 2021 (LG Aurich)

Einziehung von sichergestelltem Bargeld (Auszahlungsanspruch; Wertersatz).

§ 73 StGB; § 73c StGB

Mit der Einzahlung von sichergestelltem Bargeld auf ein von der Justiz geführtes Konto tritt der hiermit entstandene öffentlich-rechtliche Auszahlungsanspruch gegen die Staatskasse als Gegenstand einer möglichen Einziehung von Taterträgen an die Stelle der körperlichen Zahlungsmittel. Neben einer Anordnung der Einziehung des Auszahlungsanspruchs gegen die Staatskasse ist in solchen Konstellationen gemäß § 73c Satz 1 StGB aber auch die Einziehung des Wertes dieser Forderung zulässig. Der eingezahlte Geldbetrag ist dann im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen.


Entscheidung

1102. BGH 5 StR 218/21 – Beschluss vom 18. August 2021 (LG Flensburg)

Keine strafschärfende Berücksichtigung des auf die versuchte Tat gerichteten Vorsatzes nach Rücktritt.

§ 24 StGB

Das Rücktrittsprivileg des § 24 StGB bewirkt, dass der auf die versuchte Straftat (hier: ein Tötungsdelikt) gerichtete Vorsatz nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf (hier: bei der Verneinung eines minder schweren Falles der gefährlichen Körperverletzung).


Entscheidung

1106. BGH 5 StR 270/21 – Beschluss vom 14. September 2021 (LG Chemnitz)

Darlegungserfordernisse bei Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 63 StGB

Den Darlegungserfordernissen bei der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) kann regelmäßig nicht durch die wörtliche Wiedergabe des vorbereitenden schriftlichen Gutachtens eines Sachverständigen genügt werden. Vielmehr ist eine solche Verfahrensweise geeignet, Zweifel zu wecken, ob das Gericht die gutachterlichen Ausführungen auch soweit verstanden hat, dass es zu einer eigenverantwortlichen Prüfung der ihm durch den Sachverständigen vermittelten Anknüpfungstatsachen und Darlegungen in der Lage ist. Solche Zweifel sind nur dann nicht begründet, wenn das Urteil nachvollziehbar erkennen lässt, warum das Gericht

sich dem Gutachten des Sachverständigen aus eigener Überzeugung angeschlossen hat.


Entscheidung

1115. BGH 1 StR 190/21 – Beschluss vom 28. Juli 2021 (LG München I)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Schuldunfähigkeit aufgrund paranoider Schizophrenie: erforderliche Feststellungen der Auswirkung auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit; Gefährlichkeitsprognose: Nachstellung als erhebliche rechtwidrige Tat).

§ 63 Satz 1 StGB; § 238 Abs. 1 StGB

1. Die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit. Erforderlich ist vielmehr stets die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten oder Beschuldigten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat.

2. Ob es sich bei einer Nachstellung gemäß § 238 Abs. 1 StGB um eine erhebliche rechtswidrige Tat im Sinne des § 63 Satz 1 StGB handelt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.