HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2021
22. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

353. BGH 4 StR 448/20 – Beschluss vom 4. Februar 2021 (LG Essen)

BGHSt; Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Voraussetzungen der endgültigen Anordnung vorbehaltener Sicherungsverwahrung im Nachverfahren; Gefährlichkeitsprognose; Darlegung der Anordnungsvoraussetzungen; Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßregelanordnung); Frist für die Entscheidung im Nachverfahren (Verstoß gegen Sollvorschrift begründet kein Verfahrenshindernis).

§ 66a Abs. 3 StGB; § 275a Abs. 5 StPO

1. Zu den Voraussetzungen der endgültigen Anordnung vorbehaltener Sicherungsverwahrung im Nachverfahren gemäß § 66a Abs. 3 StGB. (BGHSt)

2. Die Sicherungsverwahrung im Nachverfahren ist anzuordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. (Bearbeiter)

3. Ergibt die erforderliche Gesamtwürdigung aller Umstände, dass der Verurteilte mit bestimmter Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird und deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist, so sind die materiellen Anforderungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Nachverfahren erfüllt. Eine Hangfeststellung ist nicht vorausgesetzt. (Bearbeiter)

4. Die Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Gesamtwürdigung aller prognostisch relevanten Umstände zu entwickeln. Sie erfordert eine umfassende Analyse der Täterpersönlichkeit und seiner bisherigen Legalbiographie. Die mit Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sowie etwaige Erkrankungen des Verurteilten sind im Hinblick auf ihre Aussagekraft für eine künftige Legalbewährung zu bewerten und in die Gesamtwürdigung einzustellen. Ferner sind die Wirkungen des Strafvollzugs und mögliche Verhaltensänderungen des Verurteilten bis zur Entscheidung des Gerichts im Nachverfahren besonders in den Blick zu nehmen. Die Wirkungen des (langjährigen) Strafvollzugs sind regelmäßig unter Einbeziehung der Frage, ob und inwieweit der Verurteilte von den besonderen Behandlungsangeboten zu profitieren vermochte, in die Gesamtwürdigung einzustellen. Schließlich ist auch die konkrete Entlassungssituation des Verurteilten in den Blick zu nehmen und zu prüfen, ob eine fortbestehende Gefährlichkeit durch flankierende Maßnahmen wie Auflagen und Weisungen, Therapiemaßnahmen oder durch die Unterbringung in einer betreuten Wohneinrichtung auf ein vertretbares Maß reduziert werden kann. (Bearbeiter)

5. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 3 Satz 2 StGB setzt im Rahmen der Prüfung der Gefährlichkeit des Verurteilten tatbestandlich nicht voraus, dass substantiell neue Tatsachen in dem strengen Sinne, wie sie von der Rechtsprechung für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung im Rahmen des § 66b StGB aF entwickelt worden sind, festgestellt werden können. Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass die Gefährlichkeitsprognose unter Einbeziehung neu hinzutretender prognoserelevanter Umstände seit Anordnung des Vorbehalts der Maßregel nunmehr eindeutig positiv begründet werden kann. (Bearbeiter)

6. Für die Darlegung der Anordnungsvoraussetzungen des § 66a Abs. 3 Satz 2 StGB in den schriftlichen Urteils-

gründen gelten grundsätzlich keine besonderen Anforderungen. (Bearbeiter)

7. Im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßregelanordnung ist zu prüfen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang dem Verurteilten im Strafvollzug eine ausreichende Betreuung angeboten worden ist. Sollte die Prüfung ergeben, dass dem Verurteilten seitens der Vollzugsbehörden kein ausreichendes Angebot gemacht worden ist, ist dies als Abwägungsgesichtspunkt in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßregelanordnung einzustellen. (Bearbeiter)

8. Die Verhältnismäßigkeit der Sicherungsverwahrung ist besonders kritisch zu prüfen, wenn dem Verurteilten aufgrund eines von ihm nicht zu beeinflussenden Verfahrensverlaufs faktisch die Möglichkeit genommen worden ist, die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung durch die Wahrnehmung von Betreuungsangeboten abzuwenden. (Bearbeiter)

9. Dass die Entscheidung im Nachverfahren entgegen der Sollvorschrift des § 275a Abs. 5 StPO nicht spätestens sechs Monate vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe getroffen wurde, begründet kein Verfahrenshindernis. (Bearbeiter)


Entscheidung

326. BGH 5 StR 526/20 – Beschluss vom 3. März 2021 (LG Dresden)

Sicherungsverwahrung (Reihenfolge von Vortaten und Vorverurteilungen); Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (hinreichend konkrete Erfolgsaussicht).

§ 64 StGB; § 66 StGB

1. Die Sicherungsverwahrung darf gemäß § 66 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB nur angeordnet werden, wenn die zur zweiten Verurteilung führende Tat nach Rechtskraft der ersten Vorverurteilung begangen worden ist. Vortaten und Vorverurteilungen müssen demgemäß in der Reihenfolge „Tat-Urteil-Tat-Urteil-Anlasstat“ begangen worden sein. Der Täter muss, um die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB zu erfüllen, die Warnfunktion eines jeweils rechtskräftigen Strafurteils zwei Mal missachtet haben.

2. § 64 Satz 2 StGB ordnet an, dass die Anordnung der Unterbringung nur dann ergehen darf, wenn eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht besteht, die untergebrachte Person zu heilen oder über eine nicht unerhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf den Hang zurückgehen. Das „nicht gänzliche Fehlen eines Therapiewillens“ beim Angeklagten genügt den Anforderungen zur Begründung einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht der Behandlung in einer Entziehungsanstalt vor diesem Hintergrund nicht.


Entscheidung

347. BGH 4 StR 305/20 – Beschluss vom 3. Februar 2021 (LG Arnsberg)

Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten (Anforderungen an den Aufklärungserfolg; Zusammenhang zwischen aufgedeckter und abgeurteilter Tat: Einzeldelikte eines kriminellen Gesamtgeschehens).

§ 46b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB; § 46b Abs. 1 Satz 3 StGB; § 100a Abs. 2 StPO

1. Der fakultative Strafmilderungsgrund der Aufklärungshilfe gemäß § 46b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB kommt in Betracht, wenn der Täter durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass eine Straftat nach § 100a Abs. 2 StPO, die mit seiner Tat im Zusammenhang steht, aufgedeckt werden konnte, wobei sich sein Aufklärungsbeitrag in Fällen, in denen er an der Tat beteiligt war, über seinen eigenen Tatbeitrag hinaus erstrecken muss (§ 46b Abs. 1 Satz 3 StGB). Einem Aufklärungserfolg im Sinne dieser Vorschrift kann auch dann noch wesentliches Gewicht für die Aufklärung der Tat eines anderen Beteiligten zukommen, wenn hierdurch wichtige Tatsachen oder Beweise offenbart werden oder den bereits vorhandenen Erkenntnissen eine sicherere Grundlage verschafft wird.

2. Zwar verlangt § 46b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB, dass die aufgedeckte Tat mit der abgeurteilten im Zusammenhang steht. Ein solcher Zusammenhang setzt jedoch nicht voraus, dass die Taten Teil derselben prozessualen Tat sind. Vielmehr genügt es, dass sie Einzeldelikte eines kriminellen Gesamtgeschehens sind, mithin ein innerer oder inhaltlicher Bezug zwischen ihnen besteht.


Entscheidung

388. BGH 6 StR 404/20 – Beschluss vom 9. März 2021 (LG Neuruppin)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Strafzumessung: Doppelverwertungsverbot, minder schwerer Fall); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang; Therapiewilligkeit).

§ 46 Abs. 3 StGB; § 64 StGB; § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG; § 29a Abs. 2 BtMG

1. Die im Rahmen der Verneinung der Voraussetzungen des § 29a Abs. 2 BtMG zu Lasten des Angeklagten angestellte Zumessungserwägung, dieser habe mit der Absicht einer Verbesserung seiner wirtschaftlichen Situation mit Betäubungsmitteln Handel getrieben, verstößt bei einer Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB. Denn das Handeltreiben im Sinne des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG setzt stets voraus, dass der Täter nach Gewinn strebt oder sich irgendeinen anderen persönlichen Vorteil verspricht.

2. Die strafschärfende Berücksichtigung einer „hochgradigen Selbstverständlichkeit“, mit der sich der Angeklagte „auf die Taten eingelassen“ habe, stellt einen Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot dar. Denn damit wird dem Angeklagten letztlich straferschwerend zur Last gelegt, die abgeurteilten Taten überhaupt begangen zu haben.

3. Fehlender Therapiewille des Angeklagten hindert die Unterbringung nach § 64 StGB grundsätzlich nicht, auch wenn er ein gegen die Erfolgsaussicht der Entwöhnungsbehandlung sprechendes Indiz sein kann. Ob der Mangel an Bereitschaft, sich in einer Entziehungsanstalt behandeln zu lassen, den Schluss auf das Fehlen einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht der Maßregel rechtfertigt, lässt sich nur aufgrund einer Gesamtwürdigung der

Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgeblichen Umstände beurteilen.


Entscheidung

356. BGH 4 StR 457/20 – Urteil vom 4. Februar 2021 (LG Dortmund)

Grundsätze der Strafzumessung (grundsätzliche keine bestimmende Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen einer Verurteilung; Berücksichtigung des Verzichts auf die Rückgabe sichergestellter Gegenstände); Urteilsgründe (Darlegungsanforderungen an freisprechendes Urteil).

§ 46 StGB; § 267 StPO

1. Ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung sind grundsätzlich keine bestimmenden Strafmilderungsgründe. Eine andere strafzumessungsrechtliche Bewertung ist nur gerechtfertigt, wenn im Einzelfall zusätzliche Umstände hinzutreten, welche die Beendigung des Aufenthalts im Inland als besondere Härte erscheinen lassen.

2. In dem Verzicht auf die Rückgabe sichergestellter Gegenstände liegt eine freiwillige Leistung des Angeklagten, welcher der Tatrichter unabhängig vom Wert der Gegenstände strafmildernde Bedeutung beimessen kann.

3. Ein freisprechendes Urteil hat zunächst die individuellen Anklagevorwürfe gegen den Angeklagten nach Ort, Zeit und Begehungsweise aufzuzeigen. In einer geschlossenen Darstellung müssen sodann die als erwiesen angesehenen Tatsachen festgestellt werden. Davon ausgehend muss dargelegt werden, dass sich die Vorwürfe entweder aus tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen nicht bestätigt haben. Es ist Aufgabe der Urteilsgründe, dem Revisionsgericht auf diese Weise eine umfassende Nachprüfung der freisprechenden Entscheidung zu ermöglichen.


Entscheidung

357. BGH 4 StR 495/20 – Beschluss vom 16. Februar 2021 (LG Essen)

Verminderte Schuldfähigkeit (Anforderungen bei Diagnose einer „Borderline-Persönlichkeitsstörung“; Zusammenwirken einer Persönlichkeitsstörung und dem Konsum psychotroper Substanzen); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose); Verbindung von Maßregeln (rechtliche Verbindung und Wechselwirkung bei Aufhebung einer rechtsfehlerhaften von mehreren Maßnahmen).

§ 21 StGB; § 63 StGB; § 64 StGB; § 72 StGB

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Der Defektzustand muss, um eine Gefährlichkeitsprognose tragen zu können, von längerer Dauer sein. Daneben ist eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades erforderlich, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird. Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen.

2. Die Diagnose einer „Borderline-Persönlichkeitsstörung“, bei der es sich um ein im unscharf begrenzten Spektrum zwischen neurotischer und psychotischer Persönlichkeitsstörung liegendes Krankheitsbild handelt, stellt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht ohne Weiteres eine hinreichende Grundlage für die Annahme einer relevanten Verminderung der Schuldfähigkeit des Täters dar. Vielmehr erreicht dieses Störungsbild nur dann den Schweregrad des § 21 StGB, wenn feststeht, dass der Täter aufgrund der Störung aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat.

3. Ist die erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit auf das Zusammenwirken einer für sich genommen nicht den Schweregrad des § 21 StGB erreichenden Persönlichkeitsstörung und des Konsums psychotroper Substanzen zurückzuführen, so kommt ein Dauerzustand im Sinne des § 63 StGB in Betracht, wenn der Täter eine länger andauernde geistig-seelische Störung hat, bei der bereits geringer Substanzkonsum oder andere alltägliche Ereignisse die erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit auslösen können und dies getan haben.

4. Erweist sich die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus als rechtsfehlerhaft, so entzieht dies zugleich der daneben angeordneten Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) wegen der rechtlichen Verbindung und Wechselwirkung (§ 72 StGB) der Maßregeln nach §§ 63 und 64 StGB die Grundlage.


Entscheidung

294. BGH 1 StR 488/20 – Beschluss vom 12. Januar 2021 (LG Offenburg)

Verminderte Schuldfähigkeit (tatrichterliches Ermessen hinsichtlich einer Strafrahmenverschiebung: zulässige schulderhöhende Berücksichtigung von täterlichem Vorverschulden, actio libera in causa).

§ 20 StGB; § 21 StGB.

Bei der tatgerichtlichen Ermessensentscheidung über die Strafrahmenverschiebung nach § 21 StGB kann nach den Grundsätzen der actio libera in causa (Grundsatz der Vorverlagerung der Schuld) eine spätere Minderung der Verantwortlichkeit des Täters zur Tatzeit ohne Bedeutung bleiben (vgl. BGHSt 62, 247). Auch Vorverschulden des Täters kann schulderhöhend berücksichtigt werden, sodass an ein konkret tatbezogenes Verschulden des Täters vor Tatbeginn angeknüpft und eine Strafmilderung trotz Tatbegehung im Zustand verminderter Schuldfähigkeit aufgrund vorhergehender schulderhöhender Momente versagt werden kann (vgl. BGHSt 49, 239, 245). Das gilt stets dann, wenn der Täter die Wirkung des auf einer psychischen Störung beruhenden, in der konkreten Tatsituation zur erheblichen Minderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit führenden Defekts vorwerfbar verursacht oder verstärkt hat oder damit hätte rechnen können, Straftaten solcher Art zu begehen. Dies ist grundsätzlich auch bei allen Persönlichkeitsstörungen denkbar, deren tatfördernde Wirkung der Täter kennt. Die Zu-

rechnung eines Vorverschuldens kommt aber nur in Betracht, wenn das betreffende Verhalten sich nicht seinerseits als Ausdruck der Störung darstellt.


Entscheidung

352. BGH 4 StR 429/20 – Beschluss vom 18. Februar 2021 (LG Essen)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Voraussetzung eines andauernden Defekts; Gefährlichkeitsprognose); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Begriff des Hangs).

§ 63 StGB; § 64 StGB

1. Die Anordnung der Unterbringung gemäß § 63 StGB setzt die positive Feststellung eines länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekts voraus, der zumindest eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit zur Tatzeit im Sinne des § 21 StGB begründet. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verbietet sich deshalb grundsätzlich, wenn der Ausschluss oder die erhebliche Minderung der Schuldfähigkeit nicht schon allein durch einen länger andauernden psychischen Defekt, sondern erst durch aktuell hinzutretenden Genuss berauschender Mittel, insbesondere Alkohol, herbeigeführt worden ist. In solchen Fällen kommt die Unterbringung nach § 63 StGB nur dann in Betracht, wenn der Täter in krankhafter Weise alkoholüberempfindlich ist, an einer krankhaften Alkoholsucht leidet oder aufgrund eines psychischen Defektes alkoholsüchtig ist, der, ohne pathologisch zu sein, in seinem Schweregrad einer krankhaften seelischen Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB gleichsteht. Ein dauerhafter Zustand im Sinne des § 63 StGB kann auch dann vorliegen, wenn der Täter an einer länger dauernden geistig-seelischen Störung leidet, bei der bereits geringer Alkoholkonsum oder andere alltägliche Ereignisse die akute erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit auslösen können und dies getan haben, wenn tragender Grund seines Zustandes mithin die länger andauernde krankhafte geistig-seelische Störung und die Alkoholisierung lediglich der auslösende Faktor war und ist.

2. Die für eine Unterbringung nach § 63 StGB erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist nur dann gegeben, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde. Diese Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte hierfür in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen.

3. Ein Hang im Sinne von § 64 StGB liegt vor bei einer chronischen, auf körperlicher Sucht beruhenden Abhängigkeit oder aufgrund einer eingewurzelten, auf psychischer Disposition beruhenden oder durch Übung erworbenen intensiven Neigung, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Ein solcher Hang muss sicher festgestellt sein, nicht ausreichend ist, dass sein Vorliegen möglich oder nur nicht auszuschließen ist. Hierzu sind insbesondere die Dauer und der Umfang des Konsums festzustellen und zu würdigen.


Entscheidung

337. BGH 2 StR 417/20 – Beschluss vom 3. Februar 2021 (LG Gießen)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Zweck der Maßregel; Verhältnismäßigkeitsprüfung: im Erkenntnisverfahren keine Berücksichtigung der Möglichkeit der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach BtMG).

§ 62 StGB; § 64 StGB; § 35 BtMG; § 36 BtMG

1. Auch eine Maßregel gemäß § 64 StGB hat sich an den Belangen der öffentlichen Sicherheit auszurichten und dient in erster Linie dem Schutz der Öffentlichkeit vor gefährlichen Tätern, auch wenn sich dieser Zweck durch Besserung erreichen lässt.

2. Die Unterbringung nach § 64 StGB hat Vorrang vor einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach §§ 35, 36 BtMG, da diese Bestimmungen erst im Vollstreckungsverfahren Platz greifen und auf das Erkenntnisverfahren keinen Einfluss haben dürfen. Die Möglichkeit eines Vorgehens nach diesen Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes kann daher auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß § 62 StGB keine rechtliche Bedeutung haben.


Entscheidung

338. BGH 2 StR 424/20 – Beschluss vom 13. Januar 2021 (LG Aachen)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose; Prognoserelevanz früherer Taten).

§ 63 StGB

1. Bei einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit, die auf einem Zusammentreffen einer Persönlichkeitsstörung mit einer vorübergehenden Alkoholisierung beruht, kann ein die Gefahrenprognose einer Unterbringung nach § 63 StGB rechtfertigender dauerhafter Zustand dann angenommen werden, wenn eine krankhafte Alkoholüberempfindlichkeit des Angeklagten vorliegt, er an einer krankhaften Alkoholsucht leidet oder er aufgrund eines psychischen Defekts alkoholsüchtig ist, der, ohne pathologisch zu sein, einer krankhaften seelischen Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB gleichsteht.

2. Stützt das Tatgericht seine Gefährlichkeitsprognose auch auf frühere Taten, müssen die im Urteil dazu getroffenen Feststellungen belegen, dass auch diese Taten auf der Erkrankung des Täters beruhten. Denn eine Unterbringung nach § 63 StGB setzt voraus, dass sich die Gefährlichkeit des Angeklagten aus demselben Zustand ergeben muss, der die Einschränkung seiner Schuldfähigkeit bei der Anlasstat begründet. Die Prognoserelevanz einer früheren Tat erfordert, dass auch diese durch die (nicht nur vorübergehende) psychische Störung zumindest mitausgelöst worden ist, als deren Folgewirkung sich die für die Zukunft zu erwartenden Taten darstellen. Hieran fehlt es, wenn es sich um ein neues Krankheitsbild handelt, das nicht auf derselben Defektquelle basiert.


Entscheidung

377. BGH 6 StR 235/20 – Urteil vom 11. Februar 2021 (LG Schwerin)

Duchgängiger Besitz an einer Waffe (rechtliche Verklammerung); Grenzen der revisionsgerichtlichen Kontrolle (Beweiswürdigung; Strafausspruch); Kriminalprognose bei Bewährungsentscheidung.

§ 56 Abs. 2, Abs. 3 StGB; § 22a Abs. 1 KWKG; § 261 StPO

Die revisionsgerichtliche Prüfung hat sich am sachlichen Gehalt der tatrichterlichen Ausführungen und nicht an ihren möglicherweise missverständlichen oder sonst unzulänglichen Wendungen zu orientieren.


Entscheidung

299. BGH 3 StR 184/20 – Urteil vom 10. Februar 2021 (LG Duisburg)

Bandenmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Bandenbegriff; Mittäterschaft; Wirkstoffgehalt; Konkurrenzen); Anordnung des Wertersatzverfalls (zwingender Charakter; keine Verhältnismäßigkeitsprüfung).

§ 30a BtMG; § 52 StGB; § 53 StGB; § 73 StGB; § 73c StGB

1. Die Anordnung der Einziehung des Wertes von Taterträgen gemäß § 73 Abs. 1, § 73c Satz 1 StGB ist, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen und keine Ausnahmetatbestände (§ 73e StGB) vorliegen, nach der geltenden Gesetzeslage zwingend. Danach ist für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Erkenntnisverfahren kein Raum. Nach dem Gesamtkonzept des Regelungsgefüges ist eine unangemessene Belastung des Angeklagten dadurch ausgeschlossen, dass nach § 459g Abs. 5 Satz 1 StPO eine Vollstreckung unterbleibt, soweit der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist oder die Vollstreckung sonst unverhältnismäßig wäre. Vor diesem Hintergrund besteht für eine verfassungskonforme Auslegung weder ein Anlass, noch ist sie angesichts der eindeutigen Gesetzeslage zulässig.

2. Bei einer Bande handelt es sich um die auf eine gewisse Dauer angelegte Verbindung von mindestens drei Personen zur gemeinsamen Deliktsbegehung. Ob jemand Mitglied einer Bande ist, bestimmt sich allein nach der deliktischen Vereinbarung, der so genannten Bandenabrede. Dabei ist es nicht maßgeblich, ob zwischen Bandenmitgliedern ein besonderes, über eine Geschäftsbeziehung hinausgehendes Vertrauensverhältnis besteht. Ferner kann Bandenmitglied auch sein, wer eine untergeordnete Rolle innehat. Besondere Anforderungen an die Dauer des in Aussicht genommenen Zusammenwirkens bestehen ebenfalls nicht. Sie kann selbst bei einer kurzen, im Einzelnen noch nicht genau bestimmten Zeitspanne in Betracht kommen.


Entscheidung

288. BGH 1 StR 242/20 – Beschluss vom 14. Januar 2021 (LG Verden)

Bemessung der Tagessatzhöhe bei einer Geldstrafe (Begriff des Einkommens); Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist (grundsätzlich keine Wiedereinsetzung bei bereits erfolgter Revisionsbegründung: Ausnahme bei unvollständiger Akteneinsicht).

§ 40 Abs. 2 Satz 2 StGB; § 345 Abs. 1 StPO; § 44 Satz 1 StPO

1. Die Höhe des Tagessatzes ist gemäß § 40 Abs. 2 Satz 1 StGB unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters zu bestimmen. Bei der Bemessung ist grundsätzlich von dem Nettoeinkommen auszugehen, das der Täter an einem Tag hat oder haben könnte (§ 40 Abs. 2 Satz 2 StGB). Die Festlegung der Tagessatzhöhe erschöpft sich jedoch nicht in einem bloßen Rechenvorgang, es handelt sich vielmehr um einen wertenden Akt richterlicher Strafzumessung, der dem Tatrichter Ermessensspielräume hinsichtlich der berücksichtigungsfähigen Faktoren belässt. „Einkommen“ ist dabei ein rein strafrechtlicher Begriff und nicht etwa im steuerrechtlichen Sinne zu verstehen. Er umfasst alle Einkünfte aus selbständiger und nicht selbständiger Arbeit sowie aus sonstigen Einkunftsarten. Von den anzurechnenden Einkünften sind damit zusammenhängende Ausgaben, wie beispielsweise Werbungskosten, Betriebsausgaben und Steuern in Abzug zu bringen; ebenfalls sind in der Regel außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen, Unterhaltsverpflichtungen des Täters demgegenüber nur in angemessenem Umfang (st. Rspr.).

2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt, wenn die Revision mit der Sach- und der Verfahrensrüge fristgemäß begründet worden ist, grundsätzlich nicht in Betracht (st. Rspr.). Sie kann nur ausnahmsweise dann gewährt werden, wenn dem Verteidiger trotz angemessener Bemühungen keine vollständige Akteneinsicht gewährt wurde und Verfahrensbeschwerden erhoben werden sollen, die ohne Kenntnis der Akten nicht begründet werden konnten.

3. Ergibt sich jedoch aus den Verfahrensakten, dass es weitere nicht übersandte Aktenbestandteile gibt, die für die beabsichtigte Verfahrensrüge von Bedeutung sein können, so ist es dem Verteidiger zumutbar, an die Übersendung dieser Aktenbestandteile zu erinnern.