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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 326

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 526/20, Beschluss v. 03.03.2021, HRRS 2021 Nr. 326


BGH 5 StR 526/20 - Beschluss vom 3. März 2021 (LG Dresden)

Sicherungsverwahrung (Reihenfolge von Vortaten und Vorverurteilungen); Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (hinreichend konkrete Erfolgsaussicht).

§ 64 StGB; § 66 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Sicherungsverwahrung darf gemäß § 66 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB nur angeordnet werden, wenn die zur zweiten Verurteilung führende Tat nach Rechtskraft der ersten Vorverurteilung begangen worden ist. Vortaten und Vorverurteilungen müssen demgemäß in der Reihenfolge „Tat-Urteil-Tat-Urteil-Anlasstat“ begangen worden sein. Der Täter muss, um die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB zu erfüllen, die Warnfunktion eines jeweils rechtskräftigen Strafurteils zwei Mal missachtet haben.

2. § 64 Satz 2 StGB ordnet an, dass die Anordnung der Unterbringung nur dann ergehen darf, wenn eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht besteht, die untergebrachte Person zu heilen oder über eine nicht unerhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf den Hang zurückgehen. Das „nicht gänzliche Fehlen eines Therapiewillens“ beim Angeklagten genügt den Anforderungen zur Begründung einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht der Behandlung in einer Entziehungsanstalt vor diesem Hintergrund nicht.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 15. Juli 2020 im Maßregelausspruch aufgehoben,

mit den zugehörigen Feststellungen, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden ist,

soweit eine Entscheidung zum Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe getroffen worden ist,

und soweit die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet wurde.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes und sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen sowie wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen (Einzelstrafen von vier Jahren und sechs Monaten sowie von drei Jahren) unter Einbeziehung von Strafen aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung sowie wegen Besitzes einer verbotenen Waffe (Einzelstrafen von acht Jahren und sechs Monaten sowie von sechs Monaten) hat es unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einer weiteren Vorverurteilung auf eine weitere Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren erkannt. Es hat die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung angeordnet und ausgesprochen, dass fünf Jahre und fünf Monate der Freiheitsstrafe vor der Unterbringung nach § 64 StGB zu vollziehen sind. Weiter hat es Nebenentscheidungen aus den einbezogenen Vorverurteilungen aufrechterhalten und die verbotene Waffe, einen Schlagring, eingezogen.

Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg, im Übrigen erweist es sich als unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens zum Schuld- und Strafausspruch, zur Einziehung und zur Aufrechterhaltung von Sperren für die Erteilung der Fahrerlaubnis und zur Einziehung eines Fahrzeugs, die in den einbezogenen Urteilen ausgesprochen worden waren, keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

2. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung kann hingegen keinen Bestand haben. Das Landgericht hat die Anordnung der Sicherungsverwahrung auf § 66 Abs. 1 StGB gestützt, weil es unter anderem die formellen Voraussetzungen von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB als erfüllt angesehen hat. Denn der Angeklagte sei durch Urteile des Amtsgerichts Leipzig vom 24. Oktober 2007 und des Landgerichts Landshut vom 13. Januar 2009 bereits mehrfach wegen Taten im Sinne von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB zu Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr verurteilt worden. Dies erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

Die Sicherungsverwahrung darf gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB nur angeordnet werden, wenn die zur zweiten Verurteilung führende Tat nach Rechtskraft der ersten Vorverurteilung begangen worden ist. Vortaten und Vorverurteilungen müssen demgemäß in der Reihenfolge „Tat-Urteil-Tat-Urteil-Anlasstat“ begangen worden sein. Der Täter muss, um die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB zu erfüllen, die Warnfunktion eines jeweils rechtskräftigen Strafurteils zwei Mal missachtet haben (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Juli 2012 - 3 StR 192/12, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Vorverurteilungen 15 mwN). Diese Voraussetzungen sind hier nicht rechtsfehlerfrei festgestellt.

Soweit das Landgericht sich auf eine mit Urteil vom 13. Januar 2009 abgeurteilte räuberische Erpressung gestützt hat, hat es übersehen, dass der Angeklagte diese Tat bereits am 6. März 2007 begangen hatte und mithin vor dem ersten Urteil vom 24. Oktober 2007. Diese Tat kann deshalb zur Begründung der Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB nicht herangezogen werden.

Ob die ebenfalls mit Urteil vom 13. Januar 2009 abgeurteilten Körperverletzungsdelikte (Tatzeiten: 3. und 26. Dezember 2007) insoweit berücksichtigt werden können, kann der Senat nicht prüfen, weil das Landgericht nicht mitgeteilt hat, wann das Urteil des Amtsgerichts Leipzig in Rechtskraft erwachsen ist. Sollte dies - wie die Revision behauptet - tatsächlich erst am 4. Juni 2008 der Fall gewesen sein, könnten auch die genannten Körperverletzungstaten die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB nicht erfüllen.

Dies führt entgegen der Annahme der Revision allerdings nicht dazu, dass die Anordnung der Sicherungsverwahrung endgültig nicht mehr in Betracht käme. Das Landgericht hat die materiellen Voraussetzungen nach § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB ohne Rechtsmangel bejaht. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen belegen im Übrigen das Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen jedenfalls von § 66 Abs. 2 StGB, so dass die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach dieser Vorschrift nicht ausgeschlossen ist.

3. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hält revisionsgerichtlicher Überprüfung ebenfalls nicht stand, weil das Landgericht die gemäß § 64 Satz 2 StGB erforderliche Erfolgsaussicht nicht tragfähig begründet hat. Damit verliert auch die Anordnung des Vorwegvollzugs ihre Grundlage.

Das Landgericht hat die Erfolgsaussicht im Wesentlichen mit der Begründung bejaht, trotz zweier abgebrochener Suchtbehandlungen sei bei dem Angeklagten „nicht von einem gänzlichen Fehlen eines Therapiewillens auszugehen.“ Auch der Sachverständige habe einen weiteren Rehabilitationsversuch „nicht als aussichtslos“ eingeschätzt.

Dies lässt besorgen, dass das Landgericht hinsichtlich der Behandlungsprognose von einem falschen Maßstab ausgegangen ist. Seit der Gesetzesänderung im Jahr 2007 (BGBl. I S. 1327) bestimmt § 64 Satz 2 StGB, dass die Anordnung der Unterbringung nur dann ergehen darf, wenn eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht besteht, die untergebrachte Person zu heilen oder über eine nicht unerhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf den Hang zurückgehen. Dieser Maßstab galt auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits seit dessen Beschluss vom 16. März 1994 (vgl. BVerfGE 91, 1; vgl. zum Ganzen auch BGH, Beschluss vom 8. Februar 2017 - 5 StR 561/16, StV 2017, 286). Das dem Angeklagten bescheinigte nicht „gänzliche (…) Fehlen eines Therapiewillens“ genügt den Anforderungen zur Begründung einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht der Behandlung in einer Entziehungsanstalt vor diesem Hintergrund nicht; Gleiches gilt für die vom Sachverständigen angestellte Überlegung, dass „die stärker strukturierten Bedingungen in einer Forensischen Psychiatrie für den Angeklagten günstiger“ erschienen.

Die Aufhebung der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ermöglicht dem neuen Tatgericht eine in sich schlüssige Entscheidung über die Maßregelanordnung.

4. Die Sache bedarf nach alledem zur Frage der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung neuer Verhandlung und Entscheidung. Da die Feststellungen zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt - wie dargelegt - schon die Annahme der Erfolgsaussicht nicht tragen und der Senat auch im Übrigen nicht ausschließen kann, dass sie von dem nicht ausschließbar fehlerhaften Maßstab beeinflusst sind, unterlagen diese der Aufhebung (§ 353 Abs. 2 StPO). Die bislang zur Unterbringung in der Sicherungsverwahrung getroffenen Feststellungen sind von dem insoweit zur Aufhebung führenden Rechtsfehler hingegen nicht betroffen und können deshalb bestehen bleiben. Ergänzende Feststellungen, die dazu nicht im Widerspruch stehen, sind möglich und insbesondere zum Zeitpunkt der Rechtskraft des Urteils des Amtsgerichts Leipzig vom 24. Oktober 2007 auch erforderlich.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 326

Bearbeiter: Christian Becker