HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2020
21. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

588. BGH 3 StR 430/19 – Beschluss vom 18. Februar 2020 (LG Trier)

BGHSt; kein Anspruch auf schriftliche Übersetzung eines nicht rechtskräftigen Strafurteils für den bei der Urteilsverkündung anwesenden und verteidigten Angeklagten (mündliche Übersetzung; Hinzuziehung eines Dolmetschers; kein rechtsstaatlich zwingendes Erfordernis für schriftliche Übersetzung; berechtigtes Interesse; eigene Sachkunde des Angeklagten; kein Kontakt zwischen Angeklagtem und Verteidiger; faires Verfahren; Verfahrenssubjekt; Angewiesenheit auf den Wortlaut der Entscheidung).

§ 187 GVG; Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 3 GG

1. Der Angeklagte hat grundsätzlich keinen Anspruch auf schriftliche Übersetzung eines nicht rechtskräftigen erstinstanzlichen Strafurteils, wenn er verteidigt ist, er und sein Verteidiger bei der Urteilsverkündung anwesend waren und dem Angeklagten die Urteilsgründe durch einen Dolmetscher mündlich übersetzt worden sind. (BGHSt)

2. Ein berechtigtes Interesse des Angeklagten an einer schriftlichen Übersetzung des Urteils wird nicht allein dadurch begründet, dass nach der Urteilsverkündung kein Kontakt zwischen ihm und seinem Verteidiger bestand. (BGHSt)

3. § 187 GVG, der der Umsetzung der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren dient, begründet keinen generellen Übersetzungsanspruch. Dieses Verständnis ist mit den Vorgaben der Richtlinie 2010/64/EU vereinbar, die nicht auf die Schaffung umfassender Ansprüche auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen abzielt. Sie sieht vielmehr ausdrücklich Ausnahmen von einer schriftlichen Übersetzung – auch eines Urteils – vor und knüpft diese (ausschließlich) daran, dass eine mündliche Übersetzung einem fairen Verfahren nicht entgegensteht. (Bearbeiter)

4. Die Bestimmungen der verfahrensrechtlichen Befugnisse und Hilfestellungen, die einem Angeklagten nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens im Einzelnen einzuräumen, und die Festlegung, wie diese auszugestalten sind, sind in erster Linie dem Gesetzgeber, dessen Aufgabe es ist, zwischen möglichen Alternativen der normativen Ausgestaltung des Rechts auf ein faires Verfahren zu wählen, und sodann den Gerichten bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung aufgegeben. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht – auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte – ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben worden ist. (Bearbeiter)

5. Ein Anspruch auf schriftliche Übersetzung besteht für den verteidigten, bei der mündlichen Urteilsverkündung anwesenden Angeklagten nur, wenn der Angeklagte ausnahmsweise ein berechtigtes Interesse an einer schriftlichen Übersetzung hat. Dies kommt insbesondere bei eigener Sachkunde des Angeklagten in Betracht, mithin in Konstellationen, in denen der Verteidiger seiner Aufgabe, die Rechte des Verurteilten wahrzunehmen, nicht gewachsen ist, wenn nicht der Verurteilte in den Stand gesetzt wird, von sich aus aufgrund eigener Kenntnis der Urteilsgründe Hilfe anzubieten. (Bearbeiter)

6. Wenn der Angeklagte verteidigt ist und ihm ein Dolmetscher zur Verfügung stand, wird die effektive Verteidigung des sprachunkundigen Angeklagten dadurch ausreichend gewährleistet, dass der von Gesetzes wegen für die Revisionsbegründung verantwortliche Rechtsanwalt das schriftliche Urteil kennt und der Angeklagte die Möglichkeit hat, das Urteil mit ihm – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Dolmetschers – zu besprechen

und sich insoweit auch die schriftliche Begründung übersetzen zu lassen. Dabei umfasst der Anspruch des verteidigten Angeklagten auf umfassende Verdolmetschung auch die Gespräche mit seinem Verteidiger nach Urteilsverkündung, etwa zur Vorbereitung der Begründung eines Rechtsmittels. Soweit die Hinzuziehung eines Dolmetschers für einen solchen Termin erforderlich ist, kann der Angeklagte dies jederzeit beantragen. (Bearbeiter)

7. Eine effektive Verteidigung des Angeklagten auch in der Revisionsinstanz wird dadurch ausreichend gewährleistet, dass der von Gesetzes wegen für die Revisionsbegründung verantwortliche Rechtsanwalt das schriftliche Urteil kennt, denn er ist zur Revisionsrechtfertigung berufen und verpflichtet; auf rechtliche Hinweise des Angeklagten ist er bei der Revisionsbegründung nicht angewiesen. Soweit sich aufgrund der schriftlich niedergelegten Urteilsgründe ausnahmsweise eine „Fühlungnahme“ mit dem Angeklagten zur sachgemäßen Interessenwahrnehmung als notwendig erweisen sollte, liegt es maßgeblich in der Verantwortung des Rechtsanwalts, in welchem Umfang er über einen Dolmetscher eine Verständigung herbeiführt. (Bearbeiter)

8. Der Angeklagte wird nicht als bloßes Objekt des Verfahrens behandelt. Er kann seinen Rechtsanwalt, falls erforderlich unter Einschaltung eines Dolmetschers, auf eigene Bedenken gegen das Verfahren des Gerichts oder die Begründung des Urteils hinweisen. Auch einem sprachunkundigen Angeklagten ist dies möglich, denn ihm sind in der Hauptverhandlung alle ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensakte einschließlich der mündlichen Urteilsbegründung verständlich gemacht worden, und er hat auch selbst durch sein Fragerecht zur weiteren Sachverhaltsaufklärung beitragen können. (Bearbeiter)

9. Eingedenk dessen, dass dem Angeklagten die Ausübung seiner Verteidigungsrechte möglicherweise durch Aushändigung einer schriftlichen Übersetzung erleichtert würde, stellt die bloße Ablehnung einer Verteidigungserleichterung nicht per se eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren dar. Entscheidend ist, dass dem Angeklagten keine Übersetzung vorenthalten, sondern er lediglich auf eine mündliche verwiesen wird. Auch dadurch, dass ihm ein Dolmetscher das schriftliche Urteil mündlich übersetzt, wird er in die Lage versetzt, seine Verteidigungsrechte geltend zu machen. Eine schriftliche Übersetzung ist aus rechtsstaatlicher Sicht weder zwingend noch unverzichtbar. (Bearbeiter)

10. Aus Art. 6 EMRK ergibt sich ein Anspruch auf Übersetzung allenfalls bezüglich solcher Schriftstücke, auf deren Kenntnis der Angeklagte angewiesen ist, um ein faires Verfahren zu haben. Hierfür ist nicht erforderlich, jedes Beweismittel oder Aktenstück schriftlich zu übersetzen, sondern es ist lediglich sicherzustellen, dass der Angeklagte in der Lage ist zu verstehen, was ihm vorgeworfen wird, und er sich verteidigen kann, indem er insbesondere dem Gericht seine Version der Ereignisse vortragen kann. Maßgeblich ist danach, ob der Angeklagte für seine weitere Verteidigung auf den Wortlaut der Entscheidung angewiesen ist. (Bearbeiter)


Entscheidung

649. BGH 6 StR 41/20 – Beschluss vom 21. April 2020 (LG Braunschweig)

Vorlage zur Vorabentscheidung (Spezialitätsgrundsatz; Europäischer Haftbefehl).

Art. 267 AEUV; Art. 27 Abs. 2, 3 RB-EuHB; § 83h Abs. 1, 2 IRG

Art. 27 Abs. 2, 3 RB-EuHB ist dahin auszulegen, dass der Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, dann nicht entgegensteht, wenn die Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaates nach der Übergabe freiwillig verlassen hat, später von einem anderen Vollstreckungsmitgliedstaat aufgrund eines neuen Europäischen Haftbefehls abermals in das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaates übergeben worden ist und der zweite Vollstreckungsmitgliedstaat die Zustimmung zur Verfolgung, Verurteilung und Vollstreckung wegen dieser anderen Handlung erteilt hat (Vorlage zur Vorabentscheidung an den EuGH).


Entscheidung

645. BGH 4 StR 68/20 – Beschluss vom 11. März 2020 (LG Bielefeld)

Anforderungen an einen Wiedereinsetzungsantrag (Anlastung von Versäumnissen eines Pflichtverteidigers; Nachholung der Revisionsbegründung als „reine Formvorschrift“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte).

Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK; § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Versäumnisse eines Pflichtverteidigers können dem Staat nur ausnahmsweise angelastet werden, da die Führung der Verteidigung Sache des Angeklagten und seines Verteidigers ist, einerlei ob er staatlich bestellt oder vom Mandanten ausgewählt und bezahlt wird. Für Behörden und Gerichte besteht eine Verpflichtung zum Eingreifen nur, wenn das Versagen eines Pflichtverteidigers offenkundig ist oder wenn sie davon unterrichtet werden.

2. So ist das Gericht an der Verwerfung eines Rechtsmittels nur gehindert und zum Eingreifen verpflichtet, wenn die eindeutige Missachtung einer reinen Formvorschrift durch den Pflichtverteidiger zur Folge hat, dass dem Betroffenen ein ihm an sich zustehendes Rechtsmittel genommen wird, ohne dass dies von einem höherrangigen Gericht bereinigt wird. Ein derartiges „offenkundiges Versagen“ macht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „positive Maßnahme seitens der zuständigen Behörden“ erforderlich, wozu beispielsweise die Aufforderung an die Pflichtverteidigerin gehört, ihren Schriftsatz zu ergänzen oder zu berichtigen.

3. Es kann hier dahinstehen, ob es sich bei der von § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO ausdrücklich geforderten Nachholung der Revisionsbegründung als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Wiedereinsetzung um eine „reine Formvorschrift“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte handelt.


Entscheidung

596. BGH 5 StR 14/20 – Beschluss vom 14. April 2020 (LG Chemnitz)


Beweiswürdigung; Öffentlichkeitsgrundsatz; Besorgnis der Befangenheit (keine Ausforschung von Befangenheitsgründen durch Fragenkataloge); gerichtliche Aufklärungspflicht (kein Eingehen auf Bedingungen des auskunftsverweigerungsberechtigten Zeugen).

§ 24 StPO; § 26 Abs. 2 StPO; § 55 Abs. 1 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 261 StPO; § 338 Nr. 6 StPO

1. Gesetzliche Ausschlussgründe (§§ 22, 23 StPO) sind von Amts wegen zu berücksichtigen. Richter und Schöffen sind darüber hinaus nach §§ 30, 31 StPO dienstlich verpflichtet, von Verhältnissen Anzeige zu machen, die ihre Ablehnung nach § 24 StPO rechtfertigen könnten. Jenseits davon hat der Antragsteller die von ihm behaupteten Gründe, die eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen sollen, selbst vorzutragen und glaubhaft zu machen (§ 26 Abs. 2 StPO). Dass ein Antragsteller ohne hinreichend konkrete tatsächliche Anhaltspunkte – gleichsam „ins Blaue hinein“ und aufs „Geratewohl“ – durch Fragenkataloge mögliche Befangenheitsgründe ausforscht, sieht das Gesetz nicht vor.

2. Es steht dem nach § 55 Abs. 1 StPO zur (gegebenenfalls umfassenden) Auskunftsverweigerung berechtigten Zeugen nicht zu, die Umstände seiner Aussage in der Hauptverhandlung unter Hinweis auf die ansonsten erfolgende Ausübung eines ihm zustehenden Auskunftsverweigerungsrechts erzwingen.


Entscheidung

625. BGH 1 StR 90/20 – Beschluss vom 2. April 2020 (LG Deggendorf)

Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit (Mitteilung einer Voreingenommenheit durch den Richter; Schöffe).

§ 24 StPO; § 31 StPO

Zwar ist es für die Befangenheit grundsätzlich unerheblich, ob sich ein Richter für befangen hält; denn es kommt maßgeblich nicht auf dessen Sicht, sondern auf eine objektive Betrachtung der Sachlage an. Teilt der Richter dem Angeklagten aber mit, dass er ihm gegenüber voreingenommen sei, bekundet er eine innere Einstellung zum Angeklagten, die diesem – jedenfalls wenn sie mit nachvollziehbaren objektiven Umständen begründet wird – bei verständiger Würdigung Grund zur Annahme liefert, der betreffende Richter habe eine Haltung gegen seine Person eingenommen, die seine Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit störend beeinflusst.


Entscheidung

566. BGH 2 StR 562/19 – Beschluss vom 22. Januar 2020 (LG Gießen)

Zurücknahme und Verzicht der Revision (Beschränkung des Rechtsmittels auf bestimmte Beschwerdepunkte nach bloßer Einlegung der Revision weder Teilrücknahme noch Teilverzicht); Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen; verminderte Schuldfähigkeit (Feststellung einer nicht erheblichen Minderung der Steuerungsfähigkeit; mögliche Verminderung des Hemmungsvermögens auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen; Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit; Anforderungen an die Feststellungen zum Ausmaß der vorhandenen Störung auch bei Bezugnahme auf ein gängiges diagnostisches Klassifikationssystem; Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung).

§ 302 StPO; § 341 StPO; § 20 StGB; § 21 StGB

1. In einer der bloßen Erklärung, es werde Revision eingelegt, folgenden Beschränkung des Rechtsmittels auf bestimmte Beschwerdepunkte ist weder eine Teilrücknahme noch ein Teilverzicht zu sehen, § 302 Abs. 2 StPO ist somit auf diese Fallgestaltung nicht anwendbar.

2. Die Feststellung einer nicht erheblichen Minderung der Steuerungsfähigkeit bedarf einer besonderen Begründung, die auch erkennen lassen muss, dass sich der Tatrichter bewusst war, eine vom Regelfall abweichende Entscheidung zu treffen.

3. Auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden.

4. Bei dem Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit ist in erster Linie zu prüfen, ob der Angeklagte allein infolge seiner Persönlichkeitsstörung in der fraglichen Zeit einem zur Tat führenden starken Motivationsdruck ausgesetzt war, wie er sonst in vergleichbaren Situationen bei anderen Straftätern nicht vorhanden ist, und ob dadurch seine Fähigkeit, sich normgerecht zu verhalten, deutlich vermindert war.

5. Die Aufnahme eines bestimmten Krankheitsbildes in den Katalog eines in der forensischen Psychiatrie gebräuchlichen diagnostischen Klassifikationssystems (hier: ICD-10) entbindet den Tatrichter nicht davon, konkrete Feststellungen zum Ausmaß der vorhandenen Störung zu treffen und ihre Auswirkungen auf die Tat darzulegen.

6. Für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Deliktes zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist.

7. Weist ein Angeklagter Persönlichkeitszüge auf, die nur auf unangepasstes Verhalten oder auf eine akzentuierte Persönlichkeit hindeuten und die Schwelle einer Persönlichkeitsstörung nicht erreichen, wäre schon aus psychiatrischer Sicht eine Zuordnung zum vierten Merkmal des § 20 StGB auszuschließen.


Entscheidung

571. BGH 4 StR 67/20 – Beschluss vom 21. April 2020 (LG Bochum)

Revisionsbegründungsfrist (Fristbeginn bei in der Urteilsurkunde fehlender Urteilsformel); Anfechtung von Entscheidungen nach JGG (keine Anwendung der Anfechtungsbeschränkung).

§ 268 Abs. 2 Satz 1 StPO; § 273 Abs. 1 StPO; § 274 StPO; § 345 Abs. 1 StPO; § 55 Abs. 1 JGG

1. Bedenken gegen eine wirksame Zustellung bestehen nicht deshalb, weil die Urteilsformel in der zugestellten Urteilsurkunde gänzlich fehlte. Die Urteilsformel ist nach § 268 Abs. 2 Satz 1 StPO bei der Verkündung zu verlesen

und nach § 273 Abs. 1 StPO in die Sitzungsschrift aufzunehmen. Die maßgebliche Information über den Inhalt der Urteilsformel ergibt sich aus der protokollierten Verkündung.

2. Werden im angefochtenen Urteil lediglich Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel angeordnet, stellt es zwar gemäß § 55 Abs. 1 JGG ein unzulässiges Ziel der Anfechtung dar, wenn nur die Auswahl der Maßnahmen angefochten wird, die Anordnung anderer oder weiterer Erziehungsmaßnahmen oder Zuchtmittel erreicht werden soll oder das Rechtsmittel sich gegen den Umfang der angeordneten Maßnahmen wendet, wobei es auch einen unzulässigen Angriff gegen den Umfang der Maßnahmen bedeutet, wenn mit dem Rechtsmittel nicht nur ein geringeres Ausmaß, sondern ein gänzliches Absehen davon erreicht werden soll. Wegen dieser sachlichen Beschränkung der Anfechtungsmöglichkeit, nach der die Anfechtung nur darauf gestützt werden kann, dass die Schuldfrage rechtlich oder tatsächlich falsch beantwortet oder die Sanktion selbst rechtswidrig ist, muss das Anfechtungsziel so eindeutig mitgeteilt werden, dass die Verfolgung eines unzulässigen Ziels sicher ausgeschlossen werden kann.


Entscheidung

560. BGH 2 StR 352/18 – Beschluss vom 15. Januar 2020 (LG Erfurt)

Urteilsgründe (Anforderungen an die Darlegung von Ergebnissen zu DNA-Gutachten); Telekommunikationsüberwachung (kein Beweisverwertungsverbot bei nachträglichem Entfallen einer Katalogstraftat nach G10-Gesetz); Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Mittäters).

§ 100a StPO; § 7 Abs. 4 Nr. 2 G10-Gesetz; § 261 StPO, § 267 StPO

1. Das Tatgericht hat in den Fällen, in denen es dem Gutachten eines Sachverständigen folgt, die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Ausführungen des Gutachters so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind. Für die Darstellung des Ergebnisses einer auf einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung beruhenden Wahrscheinlichkeitsberechnung ist in der Regel zumindest erforderlich, dass das Tatgericht mitteilt, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergeben haben und mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination zu erwarten ist. In Fällen eindeutiger Einzelspuren, die keine Besonderheiten in der forensischen Fragestellung aufweisen, genügt das Tatgericht diesen Darlegungsanforderungen regelmäßig bereits mit der Mitteilung des Gutachtenergebnisses in Form der biostatistischen Wahrscheinlichkeitsaussage in numerischer Form, da es sich bei Untersuchungen derartiger Einzelspuren mittlerweile um standardisierte Verfahren handelt.

2. § 7 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2b, Satz 2 G10-Gesetz sieht (in der für den Tatzeitraum maßgeblichen Fassung vom 1. September 2013) ausdrücklich die Zulässigkeit der Datenübermittlung auch zur Verfolgung von Straftaten vor, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht einer der genannten Katalogstraftaten begründen. Rechtmäßig übermittelte Daten können uneingeschränkt sowohl als Beweismittel als auch als Ermittlungsansatz genutzt werden, auch wenn sich im Laufe der Ermittlungen der zu ermittelnde Sachverhalt letztlich nicht als Katalogstraftat, sondern als anderer Straftatbestand darstellt. Für § 7 Abs. 4 Nr. 2 G10-Gesetz, der die Zulässigkeit der Übermittlung ausdrücklich (auch) an den Katalog des § 100a StPO knüpft, kann nichts anders gelten als für Beweiserhebungen nach § 100a StPO.

3. Die umfassende Darlegung einer bestimmten, einen Angeklagten belastenden Aussage und deren erschöpfende Würdigung sind geboten, wenn sich deren Erörterung mit Blick auf die Täterschaft eines Angeklagten als entscheidender Gesichtspunkt aufdrängt. Hängt die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten entscheidend von der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Mittäters ab, so muss der Tatrichter die für die Richtigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen sprechenden Gesichtspunkte umfassend prüfen, würdigen und dies im Urteil deutlich machen.


Entscheidung

575. BGH 4 StR 345/19 – Beschluss vom 9. Januar 2020 (LG Dessau-Roßlau)

Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss (Verwerfung durch Beschluss nach von Generalbundesanwalt beantragter Schuldspruchänderung, welcher der Senat nicht folgt); Strafmilderung oder Absehen von Strafe nach dem BtMG (wesentlicher Aufklärungserfolg); Erweiterte Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern (Konkurrenzen); Mittäterschaft (Abgrenzung zur Beihilfe).

§ 349 Abs. 2 StPO; § 31 BtMG; § 25 Abs. 2 StGB; § 27 StGB; § 46b StGB; § 73 StGB; § 73a StGB

1. Eine vom Generalbundesanwalt beantragte und mit einem Verwerfungsantrag gemäß § 349 Abs. 2 StPO verknüpfte Schuldspruchänderung, welcher der Senat nicht folgen will, steht einer Verwerfung des Rechtsmittels durch Beschluss nicht entgegen.

2. Die fakultative Strafmilderung gemäß § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG setzt voraus, dass der Täter durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass eine Straftat nach den §§ 29 bis 30a BtMG, die mit seiner Tat in Zusammenhang steht, aufgedeckt werden konnte. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können die Voraussetzungen des § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG auch bei einem Angeklagten erfüllt sein, der über seinen eigenen – bereits bekannten – Tatbeitrag hinaus Tataufklärung leistet. Einem Aufklärungserfolg im Sinne dieser Vorschrift kann auch dann noch wesentliches Gewicht für die Aufklärung der Tat eines anderen Beteiligten zukommen, wenn hierdurch wichtige Tatsachen oder Beweise kundgetan werden oder den bereits vorhandenen Erkenntnissen eine sicherere Grundlage verschafft wird.

3. § 73a StGB ist im Verhältnis zur Einziehung des Wertes von Taterträgen gemäß § 73 StGB subsidiär. Eine

erweiterte Einziehung des Wertes von Taterträgen beim Täter kommt daher erst dann in Betracht, wenn nach Ausschöpfung aller zulässigen Beweismittel ausgeschlossen werden kann, dass die Voraussetzungen des § 73 StGB erfüllt sind. Die Neufassung der Bestimmungen durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl. I S. 872) hat insoweit zu keiner sachlichen Änderung geführt.

4. Mittäter im Sinne von § 25 Abs. 2 StGB ist derjenige, der einen eigenen Tatbeitrag leistet und diesen so in die Tat einfügt, dass er als Teil der Handlung eines anderen Beteiligten und umgekehrt dessen Handeln als Ergänzung des eigenen Tatanteils erscheint. Mittäterschaft erfordert dabei zwar nicht zwingend eine Mitwirkung am Kerngeschehen selbst; vielmehr kann ein die Tatbestandsverwirklichung fördernder Beitrag, der sich auf eine Vorbereitungs- oder Unterstützungshandlung beschränkt, genügen. Stets muss sich die objektiv aus einem wesentlichen Tatbeitrag bestehende Mitwirkung aber nach der Willensrichtung der sich Beteiligenden als Teil der Tätigkeit aller darstellen.

5. Ob Mittäterschaft oder Beihilfe anzunehmen ist, hat das Tatgericht aufgrund einer wertenden Gesamtbetrachtung aller festgestellten Umstände zu prüfen: maßgebliche Kriterien sind dabei der Grad des eigenen Interesses an der Tat, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft, so dass die Durchführung und der Ausgang der Tat maßgeblich auch vom Willen des Tatbeteiligten abhängen. Beschränkt sich die Beteiligung beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln auf einen Teilakt des Umsatzgeschäfts, kommt es nach neuerer Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs maßgeblich darauf an, welche Bedeutung der konkreten Beteiligungshandlung im Rahmen des Gesamtgeschäfts zukommt.


Entscheidung

608. BGH StB 12/20 – Beschluss vom 28. April 2020 (OLG Dresden)

Fortdauer der Untersuchungshaft (Beurteilung des dringenden Tatverdachts nach nicht rechtskräftiger Verurteilung; Schwerkriminalität; Fluchtgefahr; Prüfungsmaßstab bei eingelegter Revision gegen das erstinstanzliche Urteil des OLG).

§ 112 StPO; § 116 StPO; § 121 StPO; § 268b StPO

Durch ein verurteilendes Erkenntnis wird der dringende Tatverdacht – in aller Regel – hinreichend belegt, ohne dass dies bei der Entscheidung nach § 268b StPO gesonderter Prüfung und Begründung bedarf. Der Senat hat bei der Entscheidung über die Haftbeschwerde gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts zu berücksichtigen, dass die Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung des, die zur Verurteilung des Angeklagten geführt hat, auf die eingelegte Revision allein noch der Überprüfung auf Rechtsfehler unterliegt. Er könnte daher von der Beurteilung des Oberlandesgerichts nur dann abweichen, wenn bereits jetzt erkennbar wäre, dass dessen Beweiswürdigung revisionsrechtlicher Prüfung nicht standhalten kann.


Entscheidung

564. BGH 2 StR 478/19 – Urteil vom 11. März 2020 (LG Fulda)

Inhalt der Anklageschrift (Umgrenzungsfunktion der Anklage; Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt: Unschädlichkeit des Fehlens von Angaben zur Einzugsstelle, wenn Scheinselbständige nicht bei einer Krankenkasse angemeldet worden sein sollen).

§ 200 Abs. Satz 1 StPO; § 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB

1. Eine Anklage ist nur dann unwirksam mit der Folge, dass das Verfahren wegen Fehlens einer Prozessvoraussetzung einzustellen ist, wenn etwaige Mängel ihre Umgrenzungsfunktion betreffen.

2. Die Umgrenzungsfunktion der Anklage wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Angaben zu der jeweiligen Einzugsstelle fehlen, der gegenüber Arbeitsentgelt vorenthalten und veruntreut worden sein soll. In Fällen, in denen Scheinselbständige nicht bei einer Krankenkasse angemeldet worden sein sollen, lässt sich die jeweils zuständige Einzugsstelle im Sinne des § 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB aufgrund der Angaben zum Arbeitgeber und zu den jeweiligen Arbeitnehmern ohne Weiteres und eindeutig bestimmen, vgl. § 28i Abs. 1 Satz 1 SGB IV in Verbindung mit §§ 173 ff. SGB V; deren namentlicher Nennung im Anklagesatz bedurfte es deshalb nicht.

3. Anderes kann auch nicht den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs entnommen werden, wonach eine Anklage ihrer Umgrenzungsfunktion dann genügen kann, wenn der Anklagesatz keine Angaben dazu enthält, welche konkreten Arbeitnehmer zu den jeweiligen Tatzeitpunkten gegenüber der – genannten – Einzugsstelle nicht oder nicht vollständig gemeldet worden sein sollen. Maßgebend ist auch insoweit allein, dass die Angaben in der Anklage eine Abgrenzung zu anderen Taten ohne Weiteres zulassen.

4. Unschädlich ist ferner, dass in der Anklageschrift die dort aufgeführten Arbeitnehmer nicht bestimmten Beitragsmonaten zugeordnet. Es stellt die Identität der Taten nicht in Frage, dass Angaben zu den jeweils erbrachten Arbeitsleistungen der Arbeitnehmer fehlen und eine daran anschließende Berechnung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge nicht vorgenommen wird. Einer Darstellung der Berechnung der in der Anklage gelisteten Beträge vorenthaltener Beiträge bedurfte es zur Wahrung der Umgrenzungsfunktion nicht; die für das tatrichterliche Urteil maßgeblichen Darstellungsanforderungen gelten insoweit für den Anklagesatz im Rahmen der Umgrenzungsfunktion nicht.


Entscheidung

593. BGH 3 StR 90/20 – Beschluss vom 7. April 2020 (LG Oldenburg)

Ruhen der Verjährungsfrist bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Sexualstraftaten (keine teleologische Reduktion bei vorausgegangenen Ermittlungen wegen der Tat).

§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB

Für das Ruhen der Verjährungsfrist nach § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB ist allein auf die Vollendung des 30. Lebensjahres des Tatopfers abzustellen, ohne dass es etwa darauf ankommt, ob die Tat bereits zuvor bekannt oder Gegenstand von Ermittlungsverfahren war. Soweit von Teilen

des Schrifttums eine entsprechende teleologische Reduktion der Vorschrift befürwortet wird, ist dieser Auffassung nicht zu folgen.


Entscheidung

594. BGH 3 StR 613/19 – Beschluss vom 7. April 2020 (LG Kleve)

Ausschluss der Öffentlichkeit bei den Schlussanträgen in Verfahren mit mehreren Angeklagten.

§ 171b Abs. 2, Abs. 3 GVG

Ein Ausschluss der Öffentlichkeit während der Schlussanträge nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG kommt in Betracht, wenn das Verfahren – auch – wegen in § 171b Abs. 2 GVG genannter Straftaten geführt wurde und nach dieser Vorschrift zum Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Hingegen kommt es nicht darauf an, ob das Verfahren gegen einen von mehreren Angeklagten ein in § 171b Abs. 2 GVG aufgeführtes Delikt zum Gegenstand hatte. Denn die Vorschrift des § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG geht von einem einheitlichen und unteilbaren Verfahrensbegriff aus. Eine Differenzierung nach dem Inhalt und dem prozessualen Bezug der Schlussvorträge sowie nach der prozessualen Stellung des jeweiligen Verfahrensbeteiligten sieht sie nicht vor.