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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 608

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, StB 12/20, Beschluss v. 28.04.2020, HRRS 2020 Nr. 608


BGH StB 12/20 - Beschluss vom 28. April 2020 (OLG Dresden)

Fortdauer der Untersuchungshaft (Beurteilung des dringenden Tatverdachts nach nicht rechtskräftiger Verurteilung; Schwerkriminalität; Fluchtgefahr; Prüfungsmaßstab bei eingelegter Revision gegen das erstinstanzliche Urteil des OLG).

§ 112 StPO; § 116 StPO; § 121 StPO; § 268b StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Durch ein verurteilendes Erkenntnis wird der dringende Tatverdacht - in aller Regel - hinreichend belegt, ohne dass dies bei der Entscheidung nach § 268b StPO gesonderter Prüfung und Begründung bedarf. Der Senat hat bei der Entscheidung über die Haftbeschwerde gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts zu berücksichtigen, dass die Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung des, die zur Verurteilung des Angeklagten geführt hat, auf die eingelegte Revision allein noch der Überprüfung auf Rechtsfehler unterliegt. Er könnte daher von der Beurteilung des Oberlandesgerichts nur dann abweichen, wenn bereits jetzt erkennbar wäre, dass dessen Beweiswürdigung revisionsrechtlicher Prüfung nicht standhalten kann.

Entscheidungstenor

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftfortdauerbeschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 24. März 2020 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Der Angeklagte wurde am 1. Oktober 2018 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 28. September 2018 festgenommen und befindet sich seit diesem Tag - unterbrochen vom 25. Juli 2019 bis zum 21. August 2019 zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe - in Untersuchungshaft. Bereits zuvor war er nach vorläufiger Festnahme am 14. September 2018 aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Chemnitz nach § 127b Abs. 1 StPO, der teilweise die gleiche Sache zum Gegenstand hatte, vom 15. September 2018 bis zum 20. September 2018, danach bis zum 21. September 2018 aufgrund Untersuchungshaftbefehls des Amtsgerichts Chemnitz inhaftiert. Der Senat hat mit Beschluss vom 7. Mai 2019 (AK 13-14, 16-19/19) die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet.

Mit Urteil vom 24. März 2020 hat das Oberlandesgericht Dresden den Angeklagten wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Landfriedensbruch, zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Außerdem hat es den Haftbefehl nach Maßgabe des verkündeten Urteils aufrechterhalten und in Vollzug belassen.

Der Verteidiger des Angeklagten hat mit Schriftsatz vom 26. März 2020 Beschwerde gegen die Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts eingelegt und beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise ihn außer Vollzug zu setzen. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass ein Haftgrund nicht vorliege. Insbesondere seien die Haftgründe der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) und der Fluchtgefahr nicht (mehr) gegeben. Nach Anrechnung der Untersuchungshaft betrage der Zeitraum bis zum Zweidrittelzeitpunkt des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB nur noch circa 13 Monate. Mit einer bedingten Entlassung zu diesem Zeitpunkt könne der Angeklagte, der sich bislang im Vollzug der Untersuchungshaft disziplinarisch unauffällig gezeigt habe, rechnen. Im Hinblick auf diesen selbst bei Verwerfung der Revision des Angeklagten verbleibenden Strafrest und seine sozialen Bindungen sei eine Fluchtgefahr auch im Sinne des § 112 Abs. 3 StPO ausgeschlossen. Zudem verstoße die Fortdauer der Haft gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot. Der Angeklagte habe gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Revision eingelegt. Mit einem Abschluss des Revisionsverfahrens sei indes erst bei Erreichen des auf der Grundlage der Verurteilung durch das Oberlandesgericht errechneten Zweidrittelzeitpunkts zu rechnen. Zudem hätten die ohnehin aufgrund nach § 148 Abs. 2, § 148a StPO angeordneter Maßnahmen verschärften Haftbedingungen durch Regelungen, mit denen der Ausbreitung der Covid-19-Pandemie entgegengewirkt werden solle, erhebliche zusätzliche Einschränkungen erfahren. Auch bestehe in der Haft mehr als in Freiheit die Gefahr, an dem genannten Virus zu erkranken.

Das Oberlandesgericht Dresden hat dem Rechtsmittel mit Beschluss vom 31. März 2020 nicht abgeholfen.

II.

Das gemäß § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsmittel erweist sich als unbegründet.

1. Der Angeklagte ist der ihm mit dem Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 28. September 2018, der mit dem angefochtenen Haftfortdauerbeschluss aufrechterhalten worden ist, vorgeworfenen Straftaten weiterhin dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO). Das Oberlandesgericht hat ihn wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Landfriedensbruch, schuldig gesprochen, also die Überzeugung seiner Täterschaft gewonnen. Durch ein verurteilendes Erkenntnis wird der dringende Tatverdacht - in aller Regel - hinreichend belegt, ohne dass dies bei der Entscheidung nach § 268b StPO gesonderter Prüfung und Begründung bedarf. Hinzu kommt hier, dass die Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung des Oberlandesgerichts, die zur Verurteilung des Angeklagten geführt hat, auf die eingelegte Revision allein noch der Überprüfung auf Rechtsfehler unterliegt. Diesen Verfahrensstand hat der Senat bei der Bewertung des Tatverdachts gegen den Angeklagten zu berücksichtigen. Er könnte daher von der Beurteilung des Oberlandesgerichts nur dann abweichen, wenn bereits jetzt erkennbar wäre, dass dessen Beweiswürdigung revisionsrechtlicher Prüfung nicht standhalten kann. Dies ist nicht der Fall. Die schriftlichen Urteilsgründe liegen zwar noch nicht vor. Das Oberlandesgericht hat indes die Grundzüge seiner Überzeugungsbildung im Beschluss vom 31. März 2020 dargelegt. Die Beschlussgründe ergeben nicht, dass seine Beweiswürdigung zwingend oder mit großer Wahrscheinlichkeit durch Rechtsfehler beeinflusst ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Oktober 2005 - StB 15/05, NStZ 2006, 297 Rn. 1; vom 30. Mai 2018 - StB 12/18, NStZ-RR 2018, 255).

2. Es besteht weiterhin jedenfalls der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO).

Der Angeklagte hat mit einer nicht unerheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen, die einen Fluchtanreiz als nicht fernliegend erscheinen lässt. Selbst wenn es zu einer Aussetzung der vom Oberlandesgericht verhängten, noch nicht rechtskräftigen Gesamtfreiheitsstrafe zum Zweidrittel-Zeitpunkt kommen sollte, hätte der Angeklagte noch eine mehr als einjährige Freiheitsentziehung zu erwarten. Zudem liegt eine bedingte Entlassung des Angeklagten nach Verbüßung von zwei Dritteln der Gesamtfreiheitsstrafe nicht ohne weiteres auf der Hand. Dass er sich bislang möglicherweise beanstandungslos in der Haft geführt hat, stellt nur ein Indiz für die nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu erstellende Legalprognose dar, in die ebenso die zahlreichen Vorverurteilungen des Angeklagten zu teilweise verbüßten Freiheitsstrafen, unter anderem wegen Körperverletzungsdelikten, und mögliche Feststellungen zu seiner Verstrickung in die rechtsradikale Szene einzustellen sein werden. Auch die soziale Einbindung des Angeklagten, die einer erneuten Straffälligkeit entgegenstehen könnte, kann nach dem jetzigen Kenntnisstand eine positive Prognose nicht offensichtlich begründen. Der Angeklagte ist geschieden und hat zu seinem Sohn aus dieser Ehe keinen Kontakt mehr. Zwar hat er inzwischen eine neue Lebensgefährtin. Doch hat diese Beziehung ebenso wie die berufliche Einbindung ihn in der Vergangenheit nicht von den Taten, derer er nach wie vor dringend verdächtig ist, abgehalten. Somit ist eine bedingte Entlassung des Angeklagten nach jetzigem Kenntnisstand zumindest offen.

Der Zweck der Untersuchungshaft kann weiterhin nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 Abs. 1 StPO).

3. Die Fortdauer der Untersuchungshaft steht der Schwere der - wenn auch bisher nicht rechtskräftig - abgeurteilten Taten und der zu erwartenden Strafe derzeit auch nicht außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Soweit der Angeklagte die Unverhältnismäßigkeit der Haftfortdauer daraus ableitet, dass bei Abschluss des Revisionsverfahrens der Zweidrittelzeitpunkt bereits erreicht sein dürfte, ist - ungeachtet dessen, dass sich die Dauer des Rechtsmittelverfahrens zum jetzigen Zeitpunkt kaum prognostizieren lässt - auf die Erwägungen unter II.2. zu verweisen.

Ebenso vermögen die besonderen Beschränkungen, denen der Angeklagte in der Haft unterliegt, die Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft nicht zu begründen. Die auf der Grundlage der § 148 Abs. 2, § 148a StPO angeordneten Beschränkungen sind den Straftaten, die der Angeklagte begangen haben soll, geschuldet. Etwas anderes folgt auch nicht aus zusätzlichen Einschränkungen im Haftalltag durch Maßnahmen der Vollzugsanstalt, mit denen der Ansteckung mit dem Covid-19-Virus und dessen Verbreitung innerhalb der Haftanstalt entgegengewirkt werden soll. Zwar betreffen den Angeklagten - wie den Großteil der Bevölkerung - Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie, die ihn in seiner Bewegungsund Handlungsfreiheit, die in der Haft ohnehin beschränkt sind, weiter einschränken. Doch sind diese Maßnahmen, soweit sie als solche keiner rechtlichen Beanstandung unterliegen, hinzunehmen. Zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft führt die damit möglicherweise verbundene gesteigerte Haftempfindlichkeit nicht. Dies gilt schließlich auch hinsichtlich der behaupteten, bislang indes nicht belegten gesteigerten Gefahr einer Ansteckung in der Haft.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 608

Bearbeiter: Christian Becker