HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2020
21. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

624. BGH 1 StR 89/19 – Urteil vom 16. Januar 2020 (LG Berlin)

BGHSt; Umsatzsteuerhinterziehung (Wegfall der Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung bei Verschweigen des tatsächlichen Abnehmers; erforderliche Feststellungen); Hinterziehung von Energiesteuer (keine Anwendbarkeit steuerrechtlicher Fiktionen oder Beweisvermutungen im Steuerstrafverfahren).

§ 370 Abs. 1 AO; § 6a Abs. 1 UStG; § 2 Abs. 3 EnergieStG; § 20 Abs. 1 Satz 2 EnergieStG; § 261 StPO; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Die Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung (§ 6a Abs. 1 UStG) von der Umsatzsteuer entfällt, wenn der liefernde Unternehmer seine tatsächlichen Abnehmer verschweigt. (BGHSt)

2. Eine Differenzbesteuerung nach § 20 Abs. 1 Satz 2 EnergieStG kommt nicht in Betracht, wenn die nach § 2 Abs. 3 Satz 1 EnergieStG versteuerten Energieerzeugnisse endgültig aus dem Steuergebiet verbracht worden sind; im Übrigen handelt es sich bei § 20 Abs. 1 Satz 2 EnergieStG um eine steuerliche Fiktion oder Beweisvermutung, die das abgabenrechtliche Verfahren erleichtern soll, die aber für das Steuerstrafverfahren unanwendbar ist. (BGHSt)

3. Weitere Feststellungen des Tatgerichts dazu, in welcher konkreten Weise sich die Abnehmer im Bestimmungsland steuerunehrlich verhalten hatten, zu einer insoweit positiven Kenntnis des Angeklagten und zu einem bewussten Zusammenwirken zwischen den Angeklagten und den Empfängern sind im Falle der Verschleierung des tatsächlichen Abnehmers für den Wegfall der Befreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung von der Umsatzsteuerpflicht nicht erforderlich. (Bearbeiter)

4. Steuerlichen Fiktionen oder Beweisvermutungen zulasten des Steuerpflichtigen, die das abgabenrechtliche Verfahren erleichtern sollen, gelten im Strafverfahren nicht. Für das Strafverfahren wegen Steuerstraftaten gelten, abgesehen von den Vorschriften der §§ 386 bis 412 AO, die allgemeinen Gesetze über das Strafverfahren, namentlich die Strafprozessordnung. Demgemäß entscheidet der Strafrichter nach den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO), ob ein (Verbrauch-)Steuertatbestand verwirklicht worden und daher eine (Verbrauch-)Steuerschuld entstanden ist. (Bearbeiter)


Entscheidung

622. BGH 1 StR 171/19 – Urteil vom 17. Dezember 2019 (LG Würzburg)

Betrug (Täuschung: Täuschung über Tatsachen durch Prognosen, Aufklärungspflichten bei einem Anlagegeschäft; Vermögensschaden: Gefährdungsschaden, Gesamtsaldierung).

§ 263 Abs. 1 StGB

1. Tatsachen sind alle gegenwärtigen oder vergangenen Ereignisse oder Zustände, die dem Beweis zugänglich sind (vgl. BGHSt 60, 1 Rn. 20). Bloße Werturteile wie Rechtsauffassungen, Meinungsäußerungen oder reklamehafte Anpreisungen sind demgegenüber grundsätzlich keine Tatsachen im Sinne von § 263 Abs. 1 StGB. Etwas anderes gilt dann, wenn sie zugleich einen greifbaren, dem Beweis zugänglichen Tatsachenkern enthalten (vgl. BGHSt 48, 331, 344). Welcher Inhalt einer Erklärung zukommt, hat der Tatrichter anhand des Empfängerhorizonts und der Erwartungen der Beteiligten zu ermitteln und festzustellen (vgl. BGHSt 51, 165 Rn. 20). Bei einer Äußerung zu zukünftigen Entwicklungen, mithin einer Prognose, hängt die Frage, ob diese tauglicher Täuschungsgegenstand im Sinne von § 263 StGB ist, davon ab, ob sie Behauptungen über konkrete gegenwärtige oder vergangene Verhältnisse, Zustände oder Geschehnisse enthält oder nicht. In einer Prognose kann daher trotz ihres Zukunftsbezuges bzw. des mit ihr verbundenen Werturteils eine Täuschung über Tatsachen liegen.

2. Sofern die an dem Anlagegeschäft interessierte Person zu erkennen gibt, dass sie selbst keine ausreichenden wirtschaftlichen Kenntnisse und keinen genauen Über-

blick über die wirtschaftlichen Zusammenhänge hat, erwartet sie – für den angesprochenen Dritten erkennbar – regelmäßig nicht nur die Mitteilung von Tatsachen, sondern auch deren neutrale, fachkundige und umfassende Bewertung und Beurteilung. In derartigen Fällen liegt das Zustandekommen eines Anlageberatungsvertrags nahe. In Fällen, in denen sich eine Person an einen in den Vertrieb oder Ankauf von Vermögensanlagen eingeschalteten Anlagevermittler wendet, geschieht dies demgegenüber regelmäßig in dem Bewusstsein, dass der werbende und anpreisende Charakter der Aussagen des Vermittlers im Vordergrund steht. Der Vermittler ist zwar auch in einem solchen Fall zu richtiger und vollständiger Information über diejenigen tatsächlichen Umstände, die für den Anlageentschluss des Interessenten von besonderer Bedeutung sind, verpflichtet, nicht aber zu einer umfassenden Bewertung und Beurteilung der jeweiligen Anlage. Jedenfalls geht die Verpflichtung zur Aufklärung des Interessenten aber ohnehin nur so weit, wie für den Vermittler oder Anlageberater erkennbar Beratungs- oder Aufklärungsbedarf besteht; Inhalt und Umfang der Aufklärungs- oder Beratungspflichten hängen von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere dem Wissensstand, der Risikobereitschaft und dem jeweiligen Anlageziel des Kunden ab.

3. Die Annahme eines gegenwärtigen Vermögensschadens ist nur bei der konkreten Gefahr eines zukünftigen Verlusts mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) vereinbar. (Abstrakte) Risiken genügen nicht. Denn dies widerspräche dem Charakter des Betrugs als Vermögensdelikt (vgl. BVerfGE 130, 1, 47 ff.). Das Tatgericht ist gehalten, den Vermögensschaden zu beziffern.

4. Der Bestand eines Auszahlungsanspruchs wird durch seine unterbliebene Geltendmachung nicht berührt. Allein die fortdauernde Unkenntnis von einem Anspruch vermindert den Wert des weiter bestehenden Anspruchs nicht in bezifferbarer Weise. Ein Schaden kann aber entstehen, wenn ein Anspruch durch einen täuschungsbedingten Vertragsschluss verloren geht.


Entscheidung

567. BGH 2 StR 588/18 – Beschluss vom 26. November 2019 (LG Aachen)

Untreue (Treubruchstatbestand; Prinzip der Gesamtsaldierung; Weiterleitung von Fremdgeldern auf das Geschäftskonto eines Rechtsanwaltes bei Unfähigkeit zur Rückzahlung; Berücksichtigung von Vorschriften der Berufsordnung für Rechtsanwälte; nachteilsausgleichende Kompensation aufgrund von Honoraransprüchen).

§ 266 Abs. 1 Var. 2 StGB; § 4 Abs. 2 Satz 1 BORA; § 8 RVG; § 10 RVG

1. Ein Rechtsanwalt, der sich im Rahmen eines bestehenden Anwaltsvertrags zur Weiterleitung bestimmte Fremdgelder auf sein Geschäftskonto einzahlen lässt und weder uneingeschränkt bereit noch jederzeit fähig ist, einen entsprechenden Betrag aus eigenen flüssigen Mitteln vollständig auszukehren, kann sich der Untreue in der Variante des Treubruchstatbestands (§ 266 Abs. 1 Var. 2 StGB) strafbar machen.

2. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) ist ein Rechtsanwalt verpflichtet, eingegangene Fremdgelder unverzüglich an den Berechtigten weiterzuleiten oder, falls dies ausnahmsweise nicht sofort durchführbar ist, den Mandanten hiervon sofort in Kenntnis zu setzen und dafür Sorge zu tragen, dass ein dem Geldeingang entsprechender Betrag bei ihm jederzeit für den Berechtigten zur Verfügung steht. Unbeschadet der Frage, welche konkrete Zeitspanne als unverzüglich anzusehen ist, was sich nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt, kann diese Verzögerung als solche regelmäßig noch keinen Vermögensnachteil begründen. Ebenso wenig kann allein der Verstoß gegen die Pflicht zur Führung eines Anderkontos und zur Weiterleitung von Fremdgeldern auf dieses (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 BORA) einen Nachteil begründen. Maßgeblich ist vielmehr, ob das Vermögen des Mandanten durch die Pflichtverletzung gemindert wird.

3. Tilgt der Rechtsanwalt durch Verwendung auf dem Geschäfts- oder dem Anderkonto eingegangenen Fremdgelds private Verbindlichkeiten oder erfüllt er vom Anderkonto aus geschäftliche Verbindlichkeiten, die keinen Zusammenhang mit den Zahlungseingängen aufweisen, ist mit der Kontokorrentbuchung der Bank des Rechtsanwalts oder dem Abfluss des Zahlungseingangs von dessen Konto – abgesehen vom Falle des Vorhandenseins ausreichender Mittel zum in Aussicht genommenen Ausgleich – bei dem Berechtigten bereits ein endgültiger Vermögensschaden eingetreten. Infolge des kompensationslosen Abflusses, der mit dem Verlust der Fremdgelder einhergeht, liegt ein endgültiger Vermögensnachteil vor.

4. Ein Vermögensnachteil tritt nach dem Prinzip der Gesamtsaldierung nicht ein, wenn die Tathandlung selbst zugleich einen den Verlust aufwiegenden Vermögenszuwachs begründet. Hat der Täter einen Geldanspruch gegen das von ihm verwaltete Vermögen, so fehlt es an einem Schaden, wenn er über das Vermögen in entsprechender Höhe zu eigenen Gunsten verfügt. Honoraransprüche eines Rechtsanwalts können im Zusammenhang mit der zweckwidrigen Verwendung von Mandantengeldern grundsätzlich einen Nachteil ausschließen, wenn die Verwendung der Mandantengelder nicht mit dem Vorsatz rechtswidriger Bereicherung erfolgt, sondern dem Zweck dient, bestehende Honoraransprüche zu befriedigen.

5. Unbeschadet der Frage, ob es hierzu in jedem Fall der Einforderung einer nach § 8 RVG fälligen Forderung durch ausdrückliche Berechnung nach § 10 RVG bedarf oder ob eine Honorarforderung auch ohne ausdrückliche Abrechnung einen werthaltigen und zur Kompensation geeigneten Anspruch beinhaltet, ist in Fällen der vorliegenden Art Voraussetzung einer nachteilsausgleichenden Kompensation, dass ein Vermögenszuwachs auf Seiten des Treugebers zu verzeichnen ist, weil er durch die Untreuehandlung von einer Verbindlichkeit befreit wird. Dafür ist es grundsätzlich erforderlich, dass der Honoraranspruch entstanden ist, der Höhe nach feststeht und beziffert werden kann. Ansonsten fehlt es schon an einer möglicherweise in Betracht kommenden

Aufrechnungslage. Nicht ausreichend ist es hingegen, wenn sich der Rechtsanwalt nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Nichtauskehrung der dem Mandanten zustehenden Gelder, sondern irgendwann zu einem späteren Zeitpunkt darauf beruft, ihm hätten dem Auszahlungsbetrag entsprechende Gelder als Honorar für erbrachte Leistungen zugestanden. In diesem Fall fehlt es an der erforderlichen Verknüpfung von Honorarforderung und Einbehalt des Fremdgelds.


Entscheidung

628. BGH 1 StR 344/19 – Urteil vom 12. Februar 2020 (LG Bielefeld)

Steuerhinterziehung (steuerliche Erklärungspflicht als besonderes persönliches Merkmal); Einziehung (erlangtes Etwas bei der Hinterziehung von Verbrauchs- bzw. Warensteuern).

§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO; § 28 Abs. 1 StGB; § 73 Abs. 1 StGB

Bei der Hinterziehung von Verbrauchs- bzw. Warensteuern erlangt der Täter einen unmittelbar messbareren wirtschaftlichen Vorteil nur dann, soweit sich die Steuerersparnis im Vermögen des Täters dadurch niederschlägt, dass er aus den Tabakwaren einen Vermögenszuwachs erzielt.