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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 645

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 68/20, Beschluss v. 11.03.2020, HRRS 2020 Nr. 645


BGH 4 StR 68/20 - Beschluss vom 11. März 2020 (LG Bielefeld)

Anforderungen an einen Wiedereinsetzungsantrag (Anlastung von Versäumnissen eines Pflichtverteidigers; Nachholung der Revisionsbegründung als „reine Formvorschrift“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte).

Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK; § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Versäumnisse eines Pflichtverteidigers können dem Staat nur ausnahmsweise angelastet werden, da die Führung der Verteidigung Sache des Angeklagten und seines Verteidigers ist, einerlei ob er staatlich bestellt oder vom Mandanten ausgewählt und bezahlt wird. Für Behörden und Gerichte besteht eine Verpflichtung zum Eingreifen nur, wenn das Versagen eines Pflichtverteidigers offenkundig ist oder wenn sie davon unterrichtet werden.

2. So ist das Gericht an der Verwerfung eines Rechtsmittels nur gehindert und zum Eingreifen verpflichtet, wenn die eindeutige Missachtung einer reinen Formvorschrift durch den Pflichtverteidiger zur Folge hat, dass dem Betroffenen ein ihm an sich zustehendes Rechtsmittel genommen wird, ohne dass dies von einem höherrangigen Gericht bereinigt wird. Ein derartiges „offenkundiges Versagen“ macht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „positive Maßnahme seitens der zuständigen Behörden“ erforderlich, wozu beispielsweise die Aufforderung an die Pflichtverteidigerin gehört, ihren Schriftsatz zu ergänzen oder zu berichtigen.

3. Es kann hier dahinstehen, ob es sich bei der von § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO ausdrücklich geforderten Nachholung der Revisionsbegründung als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Wiedereinsetzung um eine „reine Formvorschrift“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte handelt.

Entscheidungstenor

1. Der Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 29. August 2019 wird als unzulässig verworfen.

2. Der Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts wird als unbegründet verworfen.

Gründe

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und unerlaubter Veräußerung von Betäubungsmitteln, sowie wegen Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, wegen Diebstahls sowie wegen versuchten Diebstahls mit Waffen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Es hat ferner eine Einziehungsentscheidung getroffen.

Durch Beschluss vom 11. Dezember 2019 hat das Landgericht die rechtzeitig eingelegte Revision des Angeklagten gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, weil weder er selbst zu Protokoll der Geschäftsstelle noch seine Verteidigerin einen Revisionsantrag gestellt oder die Revision begründet haben. Gegen diesen ? ihr am 17. Dezember 2019 zugestellten ? Beschluss hat die Verteidigerin des Angeklagten am 24. Dezember 2019 die Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 StPO beantragt. Sie hat ferner zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Revisionsbegründung beantragt.

II.

1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision ist unzulässig.

a) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auf Antrag demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden gehindert war, eine Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO). Innerhalb der Antragsfrist von einer Woche ist die versäumte Handlung nachzuholen (§ 45 Abs. 2 Satz 2 StPO). Letzteres ist nicht erfolgt. Weder das Schreiben des Angeklagten vom 19. Dezember 2019 noch der Antrag der Verteidigerin vom 24. Dezember 2019 enthält eine Begründung der Revision in der durch § 345 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Form. Eine Revisionsbegründung ist auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vorgelegt worden.

b) An der Verwerfung des Wiedereinsetzungsgesuchs ist der Senat nicht ausnahmsweise aus dem in Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) EMRK gewährleisteten Recht eines Angeklagten auf tatsächliche und wirksame Verteidigung als besonderer Aspekt des nach Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren (EGMR, Slg. 1999-I Nr. 27 - Van Geyseghem/Belgien, NJW 1999, 2353) gehindert. Die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geforderten Maßnahmen zur Kompensierung des hier vorliegenden Verteidigerverschuldens wurden im vorliegenden Fall ergriffen.

aa) Die Verteidigerin hat nicht, wie es ihre Pflicht gewesen wäre (vgl. BVerfG, NJW 1983, 2762, 2765; BGH, Beschluss vom 18. Januar 2018 - 4 StR 610/17 Rn. 2), die Revision des Angeklagten form- und fristgerecht begründet und auch beim Stellen des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Nachholung dieser versäumten Handlung unterlassen. Dieses Unterlassen gründet ersichtlich auf einem fehlerhaften Rechtsverständnis der Verteidigerin über die Wirkung einer Pflichtverteidigerbestellung. Die Beiordnung als Pflichtverteidiger endet entgegen der im Wiedereinsetzungsgesuch geäußerten Auffassung der Verteidigerin nicht etwa mit Einlegung der Revision, sondern wirkt über die erste Instanz hinaus für das gesamte Verfahren und erfasst damit auch die Revisionsbegründung (so ausdrücklich nun § 143 Abs. 1 StPO in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019, BGBl. I S. 2128); ausgenommen war bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung vom 17. Dezember 2018 (BGBl. I, 2018; S. 2571) lediglich die Revisionshauptverhandlung (zur früheren Rechtslage: Willnow in KK-StPO, 8. Aufl., § 141 StPO Rn. 10).

bb) Versäumnisse eines Pflichtverteidigers können dem Staat allerdings nur ausnahmsweise angelastet werden, da die Führung der Verteidigung Sache des Angeklagten und seines Verteidigers ist, einerlei ob er staatlich bestellt oder vom Mandanten ausgewählt und bezahlt wird. Für Behörden und Gerichte besteht eine Verpflichtung zum Eingreifen nur, wenn das Versagen eines Pflichtverteidigers offenkundig ist oder wenn sie davon unterrichtet werden (EGMR, Urteil vom 10. Oktober 2002 - 38830/97 - Czekalla/Portugal, NJW 2003, 1229; EGMR, Urteil vom 22. März 2007 - 59519/00 ? Staroszczyk/Polen, NJW 2008, 2317). So ist das Gericht an der Verwerfung eines Rechtsmittels nur gehindert und zum Eingreifen verpflichtet, wenn die eindeutige Missachtung einer reinen Formvorschrift durch den Pflichtverteidiger zur Folge hat, dass dem Betroffenen ein ihm an sich zustehendes Rechtsmittel genommen wird, ohne dass dies von einem höherrangigen Gericht bereinigt wird. Ein derartiges „offenkundiges Versagen“ macht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „positive Maßnahme seitens der zuständigen Behörden“ erforderlich, wozu beispielsweise die Aufforderung an die Pflichtverteidigerin gehört, ihren Schriftsatz zu ergänzen oder zu berichtigen (EGMR, Urteil vom 10. Oktober 2002 - 38830/97 ? Czekalla/Portugal, NJW 2003, 1229, 1230).

cc) Letzteren Anforderungen genügt der Verfahrensgang. Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei der von § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO ausdrücklich geforderten Nachholung der Revisionsbegründung als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Wiedereinsetzung um eine „reine Formvorschrift“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte handelt. Jedenfalls ist dem Erfordernis einer positiven Maßnahme durch die zuständige Behörde zur Beseitigung des „Versagens“ vorliegend Genüge getan: Die der Verteidigerin und dem Angeklagten zugestellte Zuschrift des Generalbundesanwalts vom 7. Februar 2020 weist eindeutig auf das Fehlen der Revisionsbegründung als ? einzigem ? Hindernis für die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsgesuchs hin. Die erforderlichen Reaktionen hierauf sind nicht erfolgt.

dd) Es liegt auch keine Häufung außerordentlicher Umstände vor, die eine darüber hinaus gehende Flexibilität in der Rechtsgewährung fordert, um sicherzustellen, dass der Zugang zum Gericht nicht konventionswidrig eingeschränkt wird (EGMR, Urteil vom 1. September 2016 - 24062/13 - Marc Brauer/Deutschland, NVwZ 2018, 635, 637). Denn anders als in dem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedenen Fall ist der Angeklagte hier nicht psychisch krank und auch nicht in einer persönlich schwierigen Lage, die durch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und Postzustellungsprobleme gekennzeichnet war. Vorliegend befindet sich der Angeklagte in Untersuchungshaft und ist ersichtlich zur Kommunikation mit Justizbehörden in der Lage, was sein Schreiben vom 19. Dezember 2019 als Reaktion auf die Zustellung des Beschlusses gemäß § 346 Abs. 1 StPO belegt.

2. Der fristgerechte Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 StPO ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Da Revisionsanträge nicht gestellt worden sind und die Revision entgegen § 344 Abs. 1 StPO nicht begründet worden ist, hat sie das Landgericht zu Recht gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 645

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 189; StV 2021, 148

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner