HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2016
17. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1112. BVerfG 2 BvL 1/15 (Zweiter Senat) – Beschluss vom 21. September 2016 (LG Berlin)

Verfassungswidrigkeit der Blankettstrafvorschrift des Rindfleischetikettierungsgesetzes (konkrete Normenkontrolle; Richtervorlage; verfassungsgerichtliche Kontrolle unionsrechtlich determinierter Vorschriften bei Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten; Bestimmtheitsgebot; Freiheitsgrundrecht; Zulässigkeit gesetzlicher Verweisungen; Blankettstrafgesetze; hinreichende Bestimmtheit der Verweisungsnorm; Verweisung auf Rechtsverordnungen; Verweisung auf Unionsrecht; Erkennbarkeit des strafbewehrten Verhaltens bereits anhand des verweisenden Gesetzes; Bestimmtheit von Verordnungsermächtigungen; Unzulässigkeit pauschaler Blankoermächtigungen).

Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 100 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 13 Verordnung (EG) Nr. 1760/2000; § 1 RiFlEtikettG; § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG; § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG; § 1 Abs. 1 RiFlEtikettStrV

1. Zur Unvereinbarkeit einer Blankettstrafnorm mit den Bestimmtheitsanforderungen nach Art. 103 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG sowie nach Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. (BVerfG)

2. Innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Richtlinie oder eine Verordnung der Europäischen Union umsetzen, sind einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle jedenfalls insoweit zugänglich, als die Richtlinie oder die Verordnung den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum lässt. (Bearbeiter)

3. Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verlangt, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass der Normadressat im Regelfall bereits anhand des Gesetzeswortlauts voraussehen kann, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht. (Bearbeiter)

4. Allerdings sind Blankettstrafgesetze, bei denen der Gesetzgeber die Beschreibung des Straftatbestandes durch eine Verweisung auf andere Normen ersetzt, verfassungsrechtlich unbedenklich, sofern das verweisende Gesetz den Bezugspunkt der Verweisung hinreichend klar erkennen lässt. Dies gilt auch für Blankettstrafgesetze, die Zuwiderhandlungen gegen unmittelbar anwendbare Rechtsakte der Europäischen Union mit Strafe bewehren und zu diesem Zweck auf das Unionsrecht verweisen. (Bearbeiter)

5. Legt eine Blankettstrafnorm das strafbare Verhalten nicht vollständig selbst oder durch Bezugnahme auf ein anderes Gesetz fest, sondern erst durch Verweis auf eine Rechtsverordnung, so müssen die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger schon aufgrund des Gesetzes, nicht erst aufgrund der hierauf gestützten Verordnung erkennbar sein. Diese Anforderungen gelten sinngemäß auch für den Fall, dass ein Blankettstrafgesetz auf das Unionsrecht verweist. (Bearbeiter)

6. Die Blankettstrafnorm des § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG genügt den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen nicht, weil sie nicht hinreichend klar erkennen lässt, welche Verstöße gegen unionsrechtliche Vorgaben sanktioniert werden sollen, sondern es über § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG dem ermächtigten Bundesministerium überlässt, durch Rechtsverordnung die strafrechtlich zu ahndenden Tatbestände im Recht der Europäischen Gemeinschaft zu bezeichnen. (Bearbeiter)

7. Gesetze, die zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigen, müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen. Welche Anforderungen dabei an das Maß der Bestimmtheit zu stellen sind, hängt zum einen von der Intensität der Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen ab; zum anderen darf der Gesetzgeber berücksichtigen, ob – wie bei typischerweise der Umsetzung supranationaler Vorgaben – ein Bedürfnis besteht, Regelungen rasch und allgemeinverbindlich zu treffen. (Bearbeiter)

8. Zur näheren Bestimmung von Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Verordnungsermächtigung kann der Gesetzgeber auch Rechtsakte anderer Normgeber heranziehen und auch auf Normen und Begriffe des Rechts der Europäischen Union verweisen. Im Falle dynamischer Verweisungen sind der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit durch die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Bundesstaatlichkeit allerdings enge Grenzen gezogen. (Bearbeiter)

9. Die Verordnungsermächtigung des § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG genügt den Bestimmtheitsanforderungen nicht, weil sie eine unzulässige pauschale Blankoermächtigung des Verordnungsgebers zur Schaffung von Straftatbeständen bei Verstößen gegen gemeinschaftsrechtliche Regelungen zur Rindfleischetikettierung enthält. Die Bezugnahme auf europäische Rechtsakte im Anwendungsbereich des § 1 RiFlEtikettG beinhaltet insoweit keine ausreichende Eingrenzung. (Bearbeiter)


Entscheidung

1114. BVerfG 2 BvR 1275/16 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 13. Oktober 2016 (Brandenburgisches OLG)

Fortdauer der Untersuchungshaft (Freiheitsgrundrecht; Unschuldsvermutung; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen; keine Rechtfertigung von dem Staat zurechenbaren Verfahrensverzögerungen durch Schwere der Tat oder längerfristige Überlastung des Gerichts; Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung allenfalls in besonderen Ausnahmefällen; Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen; Offenlegung der angewendeten Maßstäbe; widersprüchliche Wertungen; Geltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben auch bei Haftverschonung); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis nach Außervollzugsetzung des Haftbefehls insbesondere bei freiheitsbeschränkenden Auflagen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 GG; Art. 6 Abs. 2 EMRK; § 116 StPO

1. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist zur Wahrung der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur dann zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.

2. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse. Damit steigen die Anforderungen sowohl an die Zügigkeit der Bearbeitung der Haftsache als auch an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund.

3. Im Rahmen der Abwägung zwischen Freiheitsanspruch und Strafverfolgungsinteresse sind in erster Linie die Komplexität der Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung. Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein.

4. Allein die Schwere der Straftat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermag jedenfalls bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen die Fortdauer einer ohnehin bereits lang andauernden Untersuchungshaft nicht zu rechtfertigen.

5. Anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – wie etwa die plötzliche Erkrankung eines Mitglieds der zur Entscheidung berufenen Strafkammer – kann eine nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts die Haftfortdauer niemals rechtfertigen. Dies gilt selbst dann, wenn die Überlastung auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt.

6. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.

7. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben gelten auch für einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl; auch Beschränkungen, denen der Beschuldigte durch Auflagen und Weisungen ausgesetzt ist, dürfen nicht länger andauern, als es nach den Umständen erforderlich ist.

8. Eine Haftfortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn sie, nachdem der zuständige Spruchkörper mehrfach fehlerhaft besetzt war und deshalb mit der Hauptverhandlung erneut begonnen werden musste, bereits die angewendeten Maßstäbe nicht klar erkennen lässt und widersprüchliche Ausführungen dazu enthält, ob und inwieweit jeweils von einer für das Beschleunigungsgebot in Haftsachen relevanten Verfahrensverzögerung ausgegangen wird.

9. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft besteht auch nach Außervollzugsetzung des Haftbefehls insbesondere dann fort, wenn der Beschuldigte durch Auflagen in seiner persönlichen Freiheit nach wie vor schwerwiegend beeinträchtigt ist.


Entscheidung

1111. BVerfG 1 BvR 1766/14 (3. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 30. Oktober 2016 (AG München)

Akteneinsichtsrecht für den Verletzten einer Straftat (Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung; unterlassene Anhörung als nicht heilbarer Verfahrensfehler); materielle Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Erfordernis der Erhebung einer erst nach Abschluss des Verfahrens zulässigen Beschwerde).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 GG; § 406e Abs. 1 StPO; § 406e Abs. 4 StPO

1. Die Gewährung von Akteneinsicht greift regelmäßig in das Recht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung ein, so dass die Staatsanwaltschaft zu einer vorherigen Anhörung des von dem Einsichtsersuchen Betroffenen verpflichtet ist. Die unterlassene Anhörung stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann.

2. Der Grundsatz der materiellen Subsidiarität erfordert es, vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gegen die Bewilligung von Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft nicht nur die – nach § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO zunächst unanfechtbare – Entscheidung des Ermittlungsrichters einzuholen, sondern auch von der – wenngleich erst nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens oder dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptverfahrens eröffneten – Möglichkeit der Beschwerde Gebrauch zu machen.


Entscheidung

1113. BVerfG 2 BvR 517/16 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 20. Oktober 2016 (OLG Hamm / LG Paderborn)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Begründungstiefe; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte; einzelfallbezogene Gefährlichkeitsprognose; Konkretisierung künftig zu erwartender Delikte; Grad der Wahrscheinlichkeit; steigende Anforderungen mit zunehmender Unterbringungsdauer; Erörterung besonderer Umstände; Therapiestillstand; Therapieverweigerung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d StGB

1. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden, zu denen in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts – einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters im psychiatrischen Krankenhaus – zählen.

2. Bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen, indem die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen werden. Dabei sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen.

3. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

4. Zu verlangen ist eine einzelfallbezogene Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen. Dabei ist auf das frühere Verhalten des Untergebrachten, die von ihm bislang begangenen Taten, die seit Anordnung der Maßregel eingetretenen Umstände, den Zustand des Untergebrachten sowie seine künftig zu erwartenden Lebensumstände abzustellen.

5. Ein Fortdauerbeschluss genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn er sich ohne weitere Konkretisierung des von dem seit 22 Jahren Untergebrachten zu erwartenden Verhaltens und ohne Bestimmung des Wahrscheinlichkeitsgrades auf die Feststellung beschränkt, es sei weiterhin mit Sexualdelikten zum Nachteil von Frauen und Mädchen sowie mit sexuell übergriffigem Verhalten zu rechnen, das für die Betroffenen erhebliche physische und psychische Folgen haben könnte.

6. Eine Fortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen auch dann nicht, wenn das Gericht bei dem Untergebrachten einen Therapiestill-

stand oder eine Therapieverweigerung feststellt, jedoch nicht erörtert, welche Bedeutung dem für die Verhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung zukommt.


Entscheidung

1116. BVerfG 2 BvR 2921/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 3. November 2016 (OLG Zweibrücken / LG Landau in der Pfalz)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; integrative Betrachtung; Begründungstiefe; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte; einzelfallbezogene Gefährlichkeitsprognose; Konkretisierung künftig zu erwartender Delikte; Grad der Wahrscheinlichkeit; steigende Anforderungen mit zunehmender Unterbringungsdauer; Bezugnahme auf das Anlassdelikt; erörterungsbedürftige Aspekte im Einzelfall; Vollzugsverhalten; Bewährungsversagen; fehlende Behandlungsaussichten; milderes Mittel; Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht; Entlassung in eine Wohneinrichtung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d StGB

1. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden, zu denen in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts – einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters im psychiatrischen Krankenhaus – zählen.

2. Bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen, indem die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen werden. Dabei sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen.

3. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

4. Zu verlangen ist eine einzelfallbezogene Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen. Dabei ist auf das frühere Verhalten des Untergebrachten, die von ihm bislang begangenen Taten, die seit Anordnung der Maßregel eingetretenen Umstände, den Zustand des Untergebrachten sowie seine künftig zu erwartenden Lebensumstände abzustellen.

5. Die von einem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist durch den bloßen Verweis auf die Anlasstaten nicht in der gebotenen Weise konkretisiert, wenn dem Anlassurteil neben einer Brandstiftung auch Diebstähle zugrunde lagen. Auch die Bezugnahme auf die Brandstiftung wäre nicht ausreichend, wenn durch diese im Einzelfall keine Menschen gefährdet und lediglich Sachschaden verursacht worden ist.

6. Ein Schluss auf Art und Schwere zukünftig drohender Taten lässt sich insoweit auch nicht damit begründen, der Untergebrachte habe im Vollzug Mitpatienten gestoßen und beleidigt, wirke manipulativ und berechnend und unterliege Stimmungsschwankungen, ohne dass ein Zusammenhang mit den Anlasstaten herzustellen ist.

7. Bei einem insgesamt seit über 28 Jahren im Maßregelvollzug Untergebrachten sind insbesondere die von diesem bedrohten Rechtsgüter konkret zu benennen. Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit neuer Taten genügt der Verweis auf ein mehrfaches früheres Bewährungsversagen nicht, wenn dieses bereits über 20 Jahre zurückliegt. Außerdem ist auszuführen, welche Bedeutung die festgestellten geringen Behandlungsaussichten des Betroffenen für die Verhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung haben.

8. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch mildere Maßnahmen wie insbesondere durch geeignete Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann. Dies gilt vor allem dann, wenn der hinzugezogene Sachverständige eine Entlassung des Untergebrachten in eine geeignete Wohneinrichtung für möglich erachtet.


Entscheidung

1115. BVerfG 2 BvR 2275/16 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 16. November 2016 (LG Traunstein)

Verfassungswidrige Versagung wirksamen Eilrechtsschutzes im Strafvollzug (Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes; Recht auf wirksame Kontrolle auch im Eilverfahren; Eilantrag gegen eine Fesselungsanordnung; willkürliches Absehen von einer Anhörung der Justizvollzugsanstalt).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG

1. Angesichts der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes darf sich der Rechtsschutz auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpfen, sondern muss zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führen.

2. Eine Strafvollstreckungskammer verweigert den verfassungsrechtlich garantierten Eilrechtsschutz in willkürlicher Weise, wenn sie einen strafvollzugsrechtlichen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung verwirft, die Rechtmäßigkeit der von dem Gefangenen angegriffenen Fesselungsanordnung könne ohne vorherige Anhörung der Justizvollzugsanstalt nicht beurteilt werden.