HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2013
14. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Europäischer ordre public als Ablehnungsgrund für die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle?

Anmerkung zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 29. Januar 2013 (EuGH C-396/11 - Radu) = HRRS 2013 Nr. 198

Von Wiss. Mit. Dominik Brodowski, LL.M. (UPenn), Ludwig-Maximilians-Universität München

Nur auf den ersten Blick ist das Urteil des EuGH in der Rechtssache Radu trivial: Müsste man eine der Flucht verdächtige Person vor der Ausstellung eines Haftbefehls anhören, so würde man sie hierdurch in aller Regel in die Flucht schlagen. Daher kann es nicht Voraussetzung eines Europäischen Haftbefehls sein, die gesuchte Person vorab anzuhören[1] - und daher darf der ersuchte Staat die Auslieferung nicht verweigern, wenn eine solche Anhörung unterblieben ist.

Die entscheidenden Aussagen in Radu sind indes nicht im Tenor zu finden - und sie haben Sprengkraft: Der EuGH verneint, dass der ersuchte Staat die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern darf, selbst wenn dieser einen Verstoß gegen den europäischen ordre public[2] darstellt (II). Damit besteht die Sorge, dass § 73 S. 2 IRG - jedenfalls soweit er sich auf die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle nach dem RbEuHb[3] bezieht - europarechtswidrig ist (III). Zuvor verdient aber näherer Betrachtung, wie der EuGH die umfassenden und rechtsgrundsätzlichen Vorlagefragen auf eine Trivialität reduziert hat (I).

I. Die Reduktion auf eine triviale Vorlagefrage

Gelegentlich wird hierzulande und anderswo der Vorwurf laut, dass das rumänische Kriminaljustizsystem nicht vollständig den europäischen und internationalen Mindeststandards gerecht werde.[4] Das Berufungsgericht Constanţa drehte den Spieß um und suchte die Auslieferung des Herrn Radu, der mit vier[5] in Deutschland ergangenen Europäischen Haftbefehlen zur Strafverfolgung gesucht wurde, mit geschickten Schachzügen zu unterbinden: Mit den ersten vier Vorlagefragen wollte das Berufungsgericht Constanţa der Sache nach (generell) wissen, ob die Vollstreckung europäischer Haftbefehle unter Verweis auf Verstöße gegen Art. 5 Abs. 1, Abs. 3, Abs. 4 EMRK, Art. 6 GRC (Recht auf Freiheit und Sicherheit), gegen Art. 48 GRC (Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte) oder gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit abgelehnt werden darf. Hätte der EuGH solche Ablehnungsgründe verneint und damit § 73 S. 2 IRG den Boden entzogen, so ließe sich Deutschland eine unvollständige oder fehlerhafte Umsetzung des RbEuHb vorwerfen. Unter Anwendung des klassischen rechtshilferechtlichen Prinzips fehlender Gegenseitigkeit[6] hätte das vorlegende Gericht - so aus der fünften Vorlagefrage ersichtlich - die Auslieferung Radus verweigern wollen. Hätte der EuGH indes die Existenz solcher Ablehnungsgründe bejaht, so legt die sechste Vorlagefrage[7] nahe, dass das vorlegende Gericht unter Verweis auf einen (angeblichen oder vermeintlichen) Menschenrechtsverstoß Deutschlands oder unter Verweis auf eine unzureichende Umsetzung des RbEuHb in rumänisches Recht die Auslieferung Radus verweigern wollte. Schach matt?

Die Große Kammer des EuGH zog sich indes geschickt aus dieser Falle: Die fünfte Vorlagefrage erachtet sie für hypothetisch und daher für unzulässig, weil "die Bundesrepublik Deutschland den Rahmenbeschluss 2002/584,

wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, zum Zeitpunkt der Ausstellung dieser Haftbefehle umgesetzt"[8] hatte. Dass dies nicht notwendigerweise gleichzusetzen ist mit einer vollständigen und richtigen Umsetzung des Rahmenbeschlusses, lässt die Große Kammer (bewusst?) außer Acht. Im Übrigen bejaht sie trotz eines lakonisch[9] knapp formulierten Vorabentscheidungsersuchens und trotz Bedenken u.a. der rumänischen (!) Regierung die Zulässigkeit, streicht aber den Fragenkatalog im Rahmen der Begründetheit zusammen: Mangels entsprechender Erläuterungen in der Vorlageentscheidung lässt die Große Kammer Art. 5 EMRK und Art. 6 GRC außen vor sowie reduziert eine von Radu gerügte "Verletzung seiner Verteidigungsrechte" darauf, dass eine vorherige Anhörung im Ausstellungsmitgliedstaat unterblieben sei.[10] Eine so (miss)verstandene Vorlagefrage konnte der EuGH sodann ohne Schwierigkeiten beantworten: Eine vorherige Anhörung würde das System des Europäischen Haftbefehls "unweigerlich zum Scheitern bringen …, da einem solchen Haftbefehl, insbesondere um eine Flucht des Betroffenen zu verhindern, ein gewisser Überraschungseffekt zukommen muss"[11], rechtliches Gehör im Vollstreckungsmitgliedstaat gewährt werde und der RbEuHb in seinen Art. 3, 4 und 4a keinen solchen Ablehnungsgrund kenne.[12]

II. Ablehnungsgründe jenseits Art. 3, 4 und 4a RbEuHb?

Warum hat das Urteil dennoch Sprengkraft? In nie dagewesener Deutlichkeit[13] stellt die Große Kammer fest, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls "nur" gestützt auf Art. 3, 4 oder 4a RbEuHb[14] abgelehnt werden darf und darüber hinaus "nur" die in Art. 5 RbEuHb vorgegebenen Bedingungen gestellt werden dürfen. Sie erteilt damit in assertorischer Kürze den in Gesetzgebung,[15] Rechtsprechung[16] und Literatur[17] diskutierten weiteren Ablehnungsgründen eine Absage, gleich ob man diese auf eine (grobe) Unverhältnismäßigkeit, auf einen Verstoß gegen den europäischen ordre public oder auf einen Verstoß gegen europaweit anerkannte Menschenrechtsstandards stützen wollte. Damit stellt sich die Große Kammer zugleich gegen die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston:

Sharpston zufolge sind nämlich die "Justizbehörden eines Vollstreckungsmitgliedstaats gehalten ..., bei der Prüfung der Frage, ob sie einen Europäischen Haftbefehl vollstrecken sollen, die in der EMRK und der Charta niedergelegten Grundrechte zu berücksichtigen."[18] Dies resultiere aus dem in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb enthaltenen Verweis auf die Achtung der "allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind," zu denen auch die in der GRC und der EMRK verankerten Menschenrechte zählten.[19] Andernfalls drohe Art. 1 Abs. 3 RbEuHb zur "eleganten Plattitüde"[20] zu verkommen. Daher dürfe ihrer Auffassung nach der ersuchte Staat die Vollstreckung über die in Art. 3, 4 und 4a genannten Gründe "ausnahmsweise" auch dann ablehnen, "wenn nachgewiesen wird, dass die Menschenrechte der Person, die übergeben werden soll, bei oder nach dem Übergabeverfahren verletzt worden sind oder in Zukunft verletzt werden."[21] Soweit Verletzungen der Art. 5 und 6 EMRK und/oder der Art. 6, 47 und 48 GRC im Raume stehen, müsse "die in Rede stehende Rechtsverletzung dergestalt sein, dass die Fairness des Verfahrens fundamental zerstört wird."[22]

Zudem hatte Sharpston festgestellt, dass Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 6 GRC auch Anforderungen an die Freiheitsentziehung der gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat (Art. 12 RbEuHb), sprich hinsichtlich der Auslieferungshaft stelle. Zwar sei nach der Rechtsprechung des EGMR in einem Auslieferungsverfahren eine Freiheitsentziehung in weitem Umfange konventionsgemäß; gleichwohl dürften Anlass und Dauer der Freiheitsentziehung nicht willkürlich seien.[23] Daraus folgert Sharpston

ein Verhältnismäßigkeitskriterium für die Anordnung von Auslieferungshaft. Dem widerspreche die häufig anzutreffende "Ausstellung von Europäischen Haftbefehlen für die Übergabe von Personen", die "wegen sehr geringfügiger Vergehen gesucht würden, die nicht schwer genug seien, um die für die Vollstreckung solcher Haftbefehle erforderliche Zusammenarbeit und die damit verbundenen Maßnahmen zu rechtfertigen."[24]

III. Konsequenzen für § 73 S. 2 IRG

Damit hatte Sharpston den Maßstab eines europäischen ordre public zu konkretisieren versucht, den auch § 73 S. 2 IRG als (Reserve-)Ablehnungsgrund für die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle durch Deutschland bereithält. Da der EuGH indes in seinem Urteil den Katalog der Ablehnungsgründe ausschließlich auf Art. 3, 4 und 4a RbEuHb beschränkt und auch über den Verweis in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb den europäischen Menschenrechtsstandard nicht als Ablehnungsgrund akzeptiert, entzieht er zugleich de facto [25] § 73 S. 2 IRG die europarechtliche Legalität. Da und soweit aber die Gewährung eines menschenrechtlichen Mindeststandards im Auslieferungsverkehr Deutschlands[26] und somit § 73 S. 2 IRG ein verfassungsrechtliches Gebot ist[27], erscheint ein offener Konflikt zwischen Luxemburg und Karlsruhe vorgezeichnet.


[1] Zum innerstaatlichen Recht vgl. § 33 Abs. 4 S. 1 StPO.

[2] Zu dieser Begrifflichkeit s. nur Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. (2012), § 83 Rdn. 1; Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß/Grotz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., 29. Lfg. (2012), § 73 Rdn. 39 ff.; 131 ff. m.w.N.

[3] Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates v. 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten i.d.F. CONSLEG 2002F0584 v. 28. März 2009.

[4] Zur Menschenrechtslage in Rumänien siehe etwa KOM(2013) 47 endgültig vom 30. Januar 2013; Europäische Agentur für Grundrechte, FRA Annual Report 2010 - Fundamental rights: challenges and achievements in 2010 (2011), insb. S. 146, 149 sowie U.S. Department of State, 2010 Human Rights Report: Romania, http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/2010/eur/154446.htm (Stand: 1. Februar 2013).

[5] Einer dieser Europäischen Haftbefehle betraf einen Sachverhalt, wegen dem sich Radu auch vor rumänischen Gerichten zu verantworten hat und dessen Vollstreckung daher gem. Art. 4 Nr. 2 RbEuHb abgelehnt werden konnte.

[6] Siehe hierzu nur Grützner/Pötz/Kreß/Vogel (Fn. 2), Vor § 1 Rdn. 73.

[7] Diese befasste sich mit der rumänischen Umsetzung des RbEuHb, welche (soweit ersichtlich) keine § 73 S. 2 IRG vergleichbare Vorschrift kennt.

[8] Urteilsgründe, Rz. 24.

[9] So GA Sharpston in der englischen Originalfassung ihrer Schlussanträge, Rz. 28.

[10] Urteilsgründe, Rz. 29 ff.

[11] Urteilsgründe, Rz. 40.

[12] Urteilsgründe, Rz. 36, 41 f.

[13] Urteilsgründe, Rz. 36. In den in Bezug genommenen Entscheidungen EuGH, Urt. v. 1. Dezember 2008 - C-388/08 PPU (Leymann/Pustovarov), Rz. 51 und EuGH, Urt. v. 16. November 2010 - C-261/09 (Mantello) = HRRS 2011 Nr. 970, Rz. 37 standen Fragen der Spezialität bzw. des ne bis in idem im Vordergrund, so dass sich die Frage nach einem menschenrechtlichen Ablehnungsgrund bzw. nach ein Ablehnungsgrund gestützt auf den europäischen ordre public nicht stellte.

[14] Diese Ablehnungsgründe betreffen - knapp zusammengefasst - Amnestien, Strafverfolgung gegen nach innerstaatlichem Recht nicht strafmündige Kinder, ne bis in idem, Verjährung, fehlende beiderseitige Strafbarkeit außerhalb der in Art. 2 Abs. 2 RbEuHb aufgeführten "Europadelikte" sowie das Primat des Territorial-staats zur Strafverfolgung.

[15] Neben § 73 S. 2 IRG sei insoweit exemplarisch verwiesen auf Sec. 37 European Arrest Warrant Act 2003 (Irland) und Kap. 2 § 4 Nr. 2 Lag 2003:1156 (Schweden) sowie auf den Kommissionsbericht SEK(2007) 979, S. 8 ff.

[16] High Court (Irland), Urt. v. 8.2.2012 -[2012] IEHC 57; sowie - jeweils nicht zu einem Auslieferungshindernis führend - U.K. Supreme Court, Urt. v. 30.5.2012 - Assange ./. The Swedish Prosecution Authority,[2012]UKSC 22, Rz. 85 ff.; OLG Karlsruhe StraFo 2007, 477; OLG Stuttgart NJW 2010, 1617 m. Anm. Spencer, Crim L.R. 2010, 480; unklar, da jeweils auf den nationalen ordre public abstellend, KG Berlin StraFo 2010, 191; OLG Celle StV 2008, 431; OLG Hamm StV 2011, 173 m. Anm. Burchard StRR 2011, 152.

[17] Exemplarisch Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. (2011), § 12 Rdn. 42; Böhm NJW 2006, 2592, 2595 f.; Grützner/Pötz/Kreß/Böse (Fn. 2), Vor § 78 Rdn. 20; Brand DRiZ 2011, 206; Burchard, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie des Europarechts, Bd. IX (2013) § 14 Rdn. 47 ff. (im Erscheinen); Davidson Crim. L.R. 2009, 3; Gaede, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie des Europarechts, Bd. IX (2013) § 3 Rdn. 47 ff. (im Erscheinen); Heard/Mansell NJECL 2 (2011), 133; Klip, European Criminal Law, 2. Aufl. (2012), S. 373 ff., 394 f; Weis NJECL 2 (2011), 124.

[18] GA Sharpston, Schlussanträge zu C-396/11 (Radu), Rz. 73.

[19] GA Sharpston, Schlussanträge zu C-396/11 (Radu), Rz. 63 ff.

[20] GA Sharpston, Schlussanträge zu C-396/11 (Radu), Rz. 70.

[21] GA Sharpston, Schlussanträge zu C-396/11 (Radu), Rz. 81, 97.

[22] GA Sharpston, Schlussanträge zu C-396/11 (Radu), Rz. 97.

[23] GA Sharpston, Schlussanträge zu C-396/11 (Radu), Rz. 57 unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 19. Februar 2009 - Nr. 3455/05 (A. u.a./Vereinigtes Königreich).

[24] GA Sharpston, Schlussanträge zu C-396/11 (Radu), Rz. 60 unter Verweis auf KOM(2011) 175 endgültig v. 11. April 2011, S. 8 f.

[25] De iure ist die Entscheidung des EuGH nur für das vorlegende Gericht bindend; nur de facto ergibt sich eine Wirkung erga omnes - s. nur Latzel/Streinz NJW 2013, 271, 272.

[26] S. hierzu nur BVerfGE 108, 129, 136; 113, 154, 162; 113, 273, 292 ff.

[27] S. hierzu Grützner/Pötz/Kreß/Vogel (Fn. 2), § 73 Rdn. 131: "verfassungsrechtlich nahe liegende, wenn nicht gar gebotene Grenze".