HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2012
13. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Gunter Widmaier

28.9.1938  -  11.9.2012

Es sei Gottes Grimm, lässt uns Luther im 90. Psalm lesen, "dass wir so plötzlich dahin müssen". Dieser Grimm offenbart sich stets zur Unzeit.

Noch im August teilten Gunter Widmaier und sein junger Partner Ali B. Norouzi den Freunden ihrer Sozietät mit, man habe sich entschieden, den Standort der Kanzlei nach Berlin zu verlegen. Kurze Zeit zuvor hatte Widmaier sich an die Ko-Autoren des von ihm herausgegebenen Münchener Anwaltshandbuchs Strafverteidigung gewandt und differenzierte Vorschläge zu der von ihm für das kommende Jahr geplanten Neuauflage gemacht. In diesem September sollte er den Vorsitz in der strafrechtlichen Abteilung des 69. Deutschen Juristentages, welche sich dem Thema "Strafrecht und Straftaten im Internet" widmet, führen. Lebensfluten und Tatensturm waren für Gunter Widmaier keine Frage des Alters.

Nie zuvor hat ein Anwalt die höchstrichterliche Rechtsprechung seiner Zeit in einem solchen Maße beeinflusst, ja regelrecht geprägt, wie es Gunter Widmaier vergönnt war. Seit Mitte der siebziger Jahre erreichten den Bundesgerichtshof seine Revisionen. Die Schriftsätze trugen immer eine Unterschrift, die keinen Buchstaben im Namen des Verfassers verschluckte und fast wie ein Emblem wirkte. Die Begründungen waren fokussiert und widmeten sich stets nur wenigen Beanstandungen, manchmal sogar nur einer einzigen Rüge. Hierzu gehörte Mut und Urteilskraft. Widmaier hatte beides. Mit klarem Blick sezierte er die Urteilsgründe und das sie umgeben-

de Verfahrensgeschehen. Es galt, den archimedischen Punkt zu finden, an welchem er den Hebel ansetzen konnte, um das angegriffene Urteil aus den Angeln zu ziehen.

Beispielhaft hierfür steht der Fall, welcher der Entscheidung des 5. Strafsenats in BGHSt 42, 15 zugrunde lag. Die rechtliche Fragestellung knüpfte an die ebenfalls von Widmaier erstrittene Grundsatzentscheidung des 4. Strafsenats in BGHSt 38, 372 zur Unverwertbarkeit der Angaben eines Beschuldigten im Falle einer ihm verwehrten Verteidigerkonsultation an. In diesem Falle aus dem Hamburger Kiezmilieu hatte der nur Italienisch sprechende Beschuldigte einen Verteidiger verlangt. Der vernehmende Kriminalbeamte verweigerte ihm dies zwar nicht ausdrücklich, beschränkte sich aber darauf, ihm ein Branchenverzeichnis des Telefonbuchs auszuhändigen. Nachdem die Kontaktaufnahme scheiterte, wurde die Vernehmung fortgesetzt und führt zu selbstbelastenden Angaben, die später dem Urteil zugrunde gelegt wurden. Über den in Hamburg damals schon bestehenden anwaltlichen Notdienst war der Beschuldigte nicht unterrichtet worden.

In der Sache gab der Bundesgerichtshof dem Anliegen Widmaiers und der Verteidiger der beiden Mitangeklagten recht und bejahte ein Verwertungsverbot, ließ das Verwertungsverbot allerdings im Ergebnis dann doch nicht greifen, weil die Instanzverteidiger der Verwertung in der Hauptverhandlung nicht widersprochen hatten.

Widmaiers Revisionsbegründung, die fast zum Erfolg geführt hätte, war in ihrer eingängigen Präsentation ein Kunstwerk, getragen von Logik und einem unerbittlichen Überzeugungswillen: Auf den ersten drei Seiten wird dem verblüfften Leser zunächst Punkt für Punkt dargelegt, weshalb die Verdachtsmomente gegen die (zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten) Angeklagten sich "zu einem geschlossenen Bild zusammenfügen". Er resümiert die vermeintliche Beweiskraft fast etwas salopp: "'Volltreffer' müsste man wohl sagen. So liest sich das angefochtene Urteil." Doch schon auf der nächsten Seite erfährt der Leser, dass er im falschen Film war: "Indessen gehen (fast) alle … Feststellungen auf bloßes und gänzlich ungesichertes Hörensagen zurück", was er dann kurz erläutert, um die Einleitung seiner insgesamt 64 Seiten umfassenden Revisionsbegründung mit den Spannung versprechenden Sätzen abzuschließen: "Damit erweist sich das angefochtene Urteil gerade an seiner Schlüsselstelle als brüchig und rechtlich nicht haltbar. Insoweit treffen sachlich-rechtliche und verfahrensrechtliche Einwendungen zusammen." Auf den weiteren 60 Seiten folgt dann die Ausführung des "quod erat demonstrandum".

Jeder, der das Glück hatte, mit Gunter Widmaier in dem einen oder anderen Fall gelegentlich zusammenzuarbeiten, weiß von ähnlichen Leistungen Widmaiers zu berichten. Die Güte seiner Argumente stand stets im Gleichklang mit der Macht ihrer Darstellung.

Ein weiteres zeichnete Gunter Widmaier aus: Er hielt nie inne und kämpfte für die Sache seiner Mandanten bis zum Schluss, an dem stets das eine oder das andere stand: entweder Verheißung eines Neuanfangs oder bitteres Ende. Und seine menschliche Größe zeigte er gerade in der Niederlage. Die Briefe an die Mandanten (sowie an die Instanzverteidiger), in denen er das Geschehene geduldig erläuterte, beschränkten sich nicht auf Trost, sondern waren immer darum bemüht, eine Perspektive zu weisen, die - wenn auch manchmal nur auf lange Sicht - Hoffnung ließ.

Unzählige Entscheidungen in der amtlichen Sammlung des Bundesgerichtshofs gehen auf Widmaiers Revisionen zurück, ebenso auch zahlreiche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf seine Verfassungsbeschwerde. Der gedankliche Glanz vieler dieser Entscheidungen ist letztlich ein Widerschein der intellektuellen Leuchtkraft ihres Initiators: Gunter Widmaier.

Gerhard Strate,

Hamburg, am 15. September 2012