HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2011
12. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Kenntnis der Finanzbehörde – tatsächlich alles irrelevant für die Steuerhinterziehung?

Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 14.12.2010 – 1 StR 275/10 = NJW 2011, 1299 = wistra 2011, 186 = HRRS 2011 Nr. 334

Von Rechtsanwalt Dr. Carsten Wegner, Berlin

Der 1. Strafsenat des BGH hat in seiner hier zu besprechenden Entscheidung vor allem eine Rechtsfrage zum objektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO entschieden, die bislang "offen« war und hinsichtlich derer unterschiedliche Ansichten vertreten worden sind:

  • Eine Strafbarkeit wegen vollendeter Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO aufgrund unrichtiger oder unvollständiger Angaben soll nicht deshalb entfallen, weil den zuständigen Finanzbehörden alle für die Steuerfestsetzung bedeutsamen Tatsachen bekannt waren und zudem sämtliche Beweismittel (§ 90 AO) bekannt und verfügbar waren.
  • 370 Abs. 1 Nr. 1 AO setze keine gelungene Täuschung des zuständigen Finanzbeamten voraus. Es genüge, dass die unrichtigen oder unvollständigen Angaben über steuerlich erhebliche
  • Tatsachen in anderer Weise als durch eine Täuschung für die Steuerverkürzung oder das Erlangen nicht gerechtfertigter Steuervorteile ursächlich werden.

Finanzbehördliches "Besser-Wissen" schützt also nach Ansicht des BGH nicht vor (Steuer-)Strafe. Sie kann – so der BGH – auch nicht durch eine verzögerte Einleitung des Ermittlungsverfahrens in Frage gestellt werden, denn es gebe keinen Anspruch des Täters, dass die Strafverfolgungsbehörden rechtzeitig gegen ihn einschreiten, um seine Taten zu verhindern.

1. In der Literatur ist die Entscheidung vom 14.12.2010 teilweise zustimmend, teilweise kritisch zur Kenntnis genommen worden.[1] Im Zentrum der Anmerkungen steht dabei die – schon länger diskutierte – Frage, ob die "Unkenntnis« als Tatbestandsmerkmal in den § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO hineinzulesen ist oder nicht und welche Wissenslage gegebenenfalls vorhanden sein muss, um – freilich abweichend von der aktuellen Entscheidung des 1. Strafsenats – zu dem Ergebnis zu gelangen, dass der notwendige Zurechnungszusammenhang zwischen Tathandlung (unzutreffende Steuererklärung) und Taterfolg (Steuerverkürzung) zu verneinen ist.[2]

Überzeugend zeichnet Wulf in seiner Besprechung die altbekannten Kritikpunkte an der nunmehr vom 1. Strafsenat eingenommenen Position nach und moniert – ebenso zutreffend – die Praxis des Senats, über "ergänzende Anmerkungen«, die die konkrete Entscheidung nicht tragen und demgemäß auch nicht angezeigt sind, seine (verschärfenden) Rechtspositionen zu deklarieren, um so bereits Einfluss auf die ermittlungsbehördliche Praxis in Steuerstrafsachen zu nehmen. Bemerkenswert ist ferner, dass Ransiek – der grundsätzlich der Position des Senats zur "Unkenntnis" als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal teilt – Zweifel daran äußert, ob bei einem umfassend wissenden Finanzbeamten, der gleichzeitig noch über die erforderlichen Beweismittel verfügt, die die Fehlerhaftigkeit der Steuererklärung belegen, tatsächlich noch ein objektiver Zurechnungszusammenhang besteht, wenn erklärungsgemäß – also fehlerhaft – beschieden wird. M.a.W.: Realisiert sich im Erfolg (Steuerverkürzung aufgrund einer Steueranmeldung oder behördlichen Festsetzung) noch die durch die fehlerhafte Erklärung geschaffene rechtlich missbilligte Gefahr oder unterbricht das eigenverantwortliche Handeln der Finanzbehörde den erforderlichen Zurechnungszusammenhang?[3]

Die vorliegende Anmerkung will diese andernorts schon aufgegriffene Diskussion nicht vollständig wiederholen. Es soll aber deutlich werden, dass die von Ransiek[4] herausstellten "prozessualen Gründe", die für die Entscheidung des BGH ursächlich gewesen sein sollen, um "der Verteidigung den Weg abzuschneiden" für Beweisanträge in die internen behördlichen Abläufe hinein, die angestoßene Diskussion nicht zu beenden vermögen und erst recht kein argumentatives Allheilmittel darstellen.

2. So hätte man sich in der Entscheidung des 1. Strafsenats zunächst einen Hinweis auf das durch § 370 AO geschützte Rechtsgut gewünscht. Nach ständiger Rechtsprechung soll es um die Sicherung des staatlichen Steueranspruchs gehen, d.h. des rechtzeitigen und vollständigen Steueraufkommens.[5] Warum die Kenntnis eines vom Staat angestellten oder verbeamteten Sachwalters, der diesen Sicherungsinteressen ausdrücklich verpflichtet ist, gar keinen Einfluss auf die Auslegung des objektiven Tatbestandes haben soll, erschließt sich nicht. Dies gilt umso mehr, als etwa im Rahmen der Rechtsprechung zu § 263 StGB anerkannt ist, dass ein Schaden bereits objektiv nicht gegeben ist, wenn das potenzielle Opfer nur zur Leistung Zug-um-Zug verpflichtet ist, der Vermögensinhaber es also selbst – und sicher – in der Hand hat, einen Nachteil für sich zu verhindern.[6] Der darin zum Ausdruck kommende Gedanke der "Sicherung" findet sich begrifflich auch in der allgemein anerkannten Definition zum Rechtsgut des § 370 AO (s.o.), ohne dass der BGH diesen Aspekt aufgreift.

Dem – denkbaren – Einwand, dass die Merkmale "Schaden" und "Steuerverkürzung" nicht gleichgesetzt werden könnten, sei bereits an dieser Stelle entgegengehalten, dass der BGH sich in seiner sog. Strafzumessungsentscheidung vom 2.12.2008 selbst dieser tatbestandlichen Parallele bedient, um daran anknüpfend zahlenmäßiges Grenzwerte für § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zu entwickeln, die sich an denen des Betruges orientieren.[7]

Aber auch im Bereich der sog. Straßen- und Elendskriminalität ist anerkannt, dass die reale Gefährdung von Vermögenswerten für eine vollendete Tatbestandsverwirklichung maßgeblich ist. So soll etwa nach einer Entscheidung des 4. BGH-Strafsenats[8] die polizeiliche Observation und Überwachung einer Geldübergabe eine vollendete Erpressung (§ 253 StGB) ausschließen und nur noch eine Bestrafung wegen des versuchten Delikts ermöglichen.[9] Warum vergleichbare Überlegungen nicht auch im Steuerstrafrecht anzustellen sind, lässt sich der Entscheidung vom 14.12.2010 nicht entnehmen.

3. Soweit bei einer ersten Lektüre des Beschlusses der Eindruck entstehen könnte, dass eine positive Kenntnislage der Finanzbehörde dem vermeintlichen Steuerstraftäter auch nicht auf der Rechtsfolgenseite hilft, ist ebenfalls Widerspruch angezeigt. Dies gilt in Steuerstrafverfahren umso mehr, als Besteuerungsverfahren nicht selten durch eine intensive Kommunikation gezeichnet

sind, die auch schon im Vorfeld einer Bescheidung beginnen kann. Soweit der 1. Strafsenat deshalb darauf hinweist, dass "ein Verhalten des Steuerfiskus (gleich einem Mitverschulden oder einer Mitverursachung des Verletzten) strafmildernd zu berücksichtigen sein (kann)", dies jedoch allenfalls dann der Fall sein kann, "wenn das staatlichen Stellen vorwerfbare Verhalten unmittelbar auf das Handeln des Angeklagten Einfluss genommen hat (etwa weil er bislang nicht tatgeneigt war oder ihm wenigstens die Tat erleichtert wurde) und den staatlichen Entscheidungsträgern die Tatgenese vorgeworfen werden kann", greift dies in mehrerlei Hinsicht zu kurz.

a) Bemerkenswert ist insoweit zunächst der Hinweis, wonach es keinen Anspruch eines Straftäters darauf gebe, dass "die Ermittlungsbehörden" rechtzeitig gegen ihn einschreiten, um seine Straftaten zu verhindern. Allein um diese Behörden geht es aber in den vorliegenden Sachverhaltskonstellationen gar nicht ausschließlich. Die sehr viel näher liegende Frage besteht vielmehr darin, welchen Pflichtenkreis die Finanzbehörde hat, sei es nach innen (Vermeidung von Vermögensschäden bzw. "Sicherung des staatlichen Steueranspruchs"), sei es nach außen. Gerade der letztgenannte Punkt drängt sich auf, wenn es etwa bei erkennbar mehrköpfigen unternehmerischen Entscheidungsstrukturen bzw. –hierachchien oder bei vermuteten "Steuerkarussellen" – die regelmäßig aus zahlreichen Unternehmen bestehen und auch gutgläubige Personen aufweist, die steuerlich unauffällig agieren – darum geht, einzelne Beteiligte zu schützen bzw. sogar auf von diesen an die Finanzverwaltung herangetragene Fragen oder Bedenken zu reagieren, damit diese auf die Sichtweise des Fiskus zum Sachverhalt reagieren, ggf. auch eine Geschäftsbeziehung beenden können.

Die allgemeine Aussage des 1. Strafsenats zu einem vermeintlich nicht bestehenden "Anspruch", deckt deshalb die Vielschichtigkeit steuerlicher Lebenssachverhalte und der sie begleitenden verfahrensrechtlichen Konstellationen nicht ab. Es ist daher absehbar, dass mit der Entscheidung vom 14.12.2010 noch nicht das letzte Wort zu § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO gesprochen ist. Umso bedauerlicher ist daher die wiederholt zu konstatierende Tendenz des 1. Strafsenats, das Steuerstrafrecht über obiter dicta "weiterzuentwickeln". Finanz- und Ermittlungsbehörden messen diesen Hinweisen in der Praxis regelmäßig nicht nur eine Bedeutung bzw. Bindungswirkung bei, die ihnen tatsächlich nicht zukommt. Vor allem ist immer wieder zu konstatieren, dass notwendige Differenzierungen – die sich in obiter dicta nicht vollumfänglich abbilden lassen können – nicht mehr hinreichend aufgegriffen werden. Dies ist umso misslicher, als das "wahre Leben" regelmäßig vielschichtiger und bunter ist, als es ein obiter dictum erahnen lässt, dem gerade kein ausgeschriebener und von allen Seiten eingehend beleuchteter Sachverhalt zugrundeliegt.

b) Aber auch jenseits dieser ganz grundsätzlichen Kritik an dem Beschluss vom 14.12.2010, die auf steuerliche Besonderheiten bzw. Verfahrensabläufe aufbaut, vermag die Entscheidung nicht zu überzeugen. So weist bereits Wulf[10] zutreffend darauf hin, dass bei den allgemeinen Vermögensdelikten anerkannt ist, dass die ungenügende Kontrolle durch Mitarbeiter eines privaten Vermögensinhabers strafmildernd wirkt. Vergleichbar hat selbst der 1. Strafsenat des BGH in einer Entscheidung vom 3.5.1983[11] ausgeführt, dass bei der Strafzumessung berücksichtigt werden kann, wenn ein betrügerisches Vorgehen des Täters durch ein sorgloses und nachlässiges Verhalten eines Finanzbeamten erleichtert worden ist; Jäger – Mitglied des 1. Strafsenats des BGH – greift diese Entscheidung in einer aktuellen Kommentierung ebenfalls noch auf.[12] Aus dem Beschluss vom 14.12.2010 erschließt sich nicht, warum diese allgemein anerkannten Grundsätze nicht auch – besser: erst recht – in den Fällen anzuwenden sind, in denen der Finanzbehörde sogar positiv bekannt war, dass die ihr vorliegende Steuererklärung oder –anmeldung objektiv unzutreffend ist, dann aber gleichwohl antragsgemäß beschieden wird und möglicherweise sogar noch Auszahlungen auf vermeintliche Erstattungsguthaben erfolgen.

4. Welches sind nun aber gegebenenfalls die "unabweisbaren" Fälle, in denen sogar der 1. Strafsenat eine Strafmilderung erwägt? Gibt es also "Zwischentöne", mit denen strafzumessungsrechtliche Türen offen gehalten werden? Wenngleich sich insoweit eine schematische Lösung verbietet, sei auf verschiedene Punkte hingewiesen, die insbesondere die Verteidigung in den Blick nehmen muss, um Ausführungen des BGH zu vermeiden, wonach zu einzelnen Aspekte "auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens nicht[s]ersichtlich (ist)".

a) So ist es zunächst bemerkenswert, dass der Senat – wie eingangs zitiert – darauf hinweist, dass es keinen Anspruch eines Straftäters darauf gebe, dass "die Ermittlungsbehörden" rechtzeitig gegen ihn einschreiten, um seine Straftaten zu verhindern. Dem stellt der Senat an anderer Stelle entgegen, dass eine Strafmilderung im "Einzelfall" dann in Betracht kommen kann, wenn ein Einschreiten der "Finanz- und Ermittlungsbehörden" angezeigt bzw. – wie der Senat formuliert – "unabweisbar geboten" war. M.a.W.: Strafzumessungsrelevant können auch – aktive oder passive – Verhaltensweisen der Finanzbehörde sein.

b) Welches finanzbehördliche Verhalten ist aber im Hinblick auf eine drohende Steuerverkürzung "geboten"? Oder noch weitergehender gefragt: Ist irgendetwas denkbar, was nicht "unabweisbar geboten" sein kann, einen – zumal erkannten – steuerlichen Schadensfall für den Fiskus zu verhindern? Oder strafrechtlich gewendet: Welches ist das von einem Finanzbeamten erwartete bzw. "gebotene" Verhalten, das pflichtgemäß im Sinne von § 266 StGB wäre, um sich nicht dem Tatvorwurf einer Untreue auszusetzen, wenn er über fremde Vermögenswerte disponiert?[13] Soll eine Bescheidung tatsächlich

"geboten" sein, die erkennbar – und genau auf dieser Sachverhaltsalternative beruht das obiter dictum des 1. Strafsenats – zu einem rechtswidrigen Bescheid führt, der sich nachteilig auf die Vermögensverhältnisse des Fiskus auswirkt? Mehr noch: Kann es in irgendeiner Sachverhaltskonstellation "geboten" sein, Auszahlungen aufgrund eines erkannt rechtswidrigen Bescheides zu veranlassen?

Wer die beiden letzten Fragen – zutreffend – verneint, kommt gar nicht umhin, in einem vom 1. Strafsenat dem obiter dictum vom 14.12.2010 zugrundegelegten Sachverhalt zumindest strafzumessungsrechtliche Überlegungen anzustellen – und zwar zwingend.

c) Welche Handlungen im Einzelnen "geboten" in dem vorstehende Sinne sind, lässt sich strafverfahrensrechtlich, zunächst aber vor allem erst einmal steuerverfahrensrechtlich beantworten.

aa) Denkbar ist die Anordnung einer Außenprüfung (§§ 193 AO). Im Bereich der Umsatzsteuer sind darüber hinaus eine Umsatzsteuernachschau (§ 27b UStG), eine Umsatzsteuersonderprüfung oder auch eine Sicherheitsleistung (§ 18f UStG), von der die Auszahlung eines angemeldeten Guthabens abhängig gemacht wird, in Betracht zu ziehen. Alle vorgenannten Maßnahmen dienen der "Sicherung des staatlichen Steueranspruchs" (s.o.); dann aber stellen sie auch ein "gebotenes" Instrumentarium dar, das durch die Finanzverwaltung anzuwenden ist. Unterbleiben entsprechende Maßnahmen, kann dies nach den vom 1. Strafsenat selbst formulierten Grundsätzen strafzumessungsrechtliche Relevanz haben. Entsprechende Hintergründe hat das Tatgericht deshalb zwingend aufzubereiten.

bb) Dem könnte in einem im obiter dictum zugrundegelegten Sachverhalt auch nicht entgegenhalten werden, dass bereits ein strafrechtlicher Anfangsverdacht zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens verpflichtet (vgl. § 152 Abs. 2 StPO) und dieses die steuerlichen Instrumente de facto suspendiert, also finanzbehördlich keine weiteren Maßnahmen "geboten" sind.

Zunächst würde verkannt werden, dass es nach ständiger Rechtsprechung des BFH[14] zulässig ist, z.B. auch während eines laufenden Ermittlungsverfahrens eine Betriebsprüfung anzuordnen oder zu erweitern. Vor allem aber müsste die Frage erlaubt sein, ob nicht spätestens mit einer solchen Argumentation – die de facto auf einen zu privilegierenden Schutz des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens vor einer Kenntnisnahme durch den Beschuldigten hinausläuft, indem kritische Nachfragen und Überprüfungen unterbleiben – offenkundig werden würde, dass eine zeitlich nachgelagerte Bescheidung nicht mehr zurechenbar auf die unzutreffende Steuererklärung zurückzuführen ist.[15]

cc) Dass es im uneingeschränkten Ermessen der Strafverfolgungsbehörden steht, ein Ermittlungsverfahren gegenüber dem Beschuldigten oder Dritten (z.B. einem Vertragspartner oder Kollegen des Beschuldigten) geheim zu halten, sollte unstrittig sein. Nichtsdestotrotz darf diese taktische Geheimhaltungsentscheidung nicht dazu führen, dass eine unzutreffende objektive Zurechnung des Taterfolges vorgenommen oder Dritte in die Irre geführt werden.

d) Materiell-rechtlich kommt eine weitere Ebene hinzu: Bei einem Delikt wie § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, das mit einem steuerlichen Verfahren einhergeht, in dem üblicherweise sehr viel kommuniziert wird, dürfen nicht die Regelungen aus dem Blick verloren werden, die es dem Steuerpflichtigen bzw. dem für ihn Handelnden ermöglichen, unter bestimmten Voraussetzungen wieder straffrei zu werden (§ 371 AO, § 23 StGB) bzw. verpflichten, korrigierende Erklärungspflichten postulieren, deren Verletzung wieder neue Sanktionsrisiken birgt (§ 153 AO). Insoweit verbieten sich nicht nur straf- oder finanzbehördliche Irreführungen. Vor allem darf das Bemühen um die Geheimhaltung eines bestehenden strafrechtlichen Anfangsverdachts nicht dazu führen, dass Erklärungen oder Nachfragen Dritter, die mit diesem Tatverdacht in irgendeiner Form verbunden sind, "im Sande verlaufen".

e) Allein diese wenigen Hinweise mögen verdeutlichen, dass das obiter dictum des 1. Strafsenats vom 14.12.2010 bei weitem nicht alle denkbaren Ausdifferenzierungen im Sachverhalt und in den verfahrensrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten des Fiskus in den Blick genommen hat, die sich aufdrängen. Genau dies müssen die Finanz- und Strafverfolgungsbehörden jedoch tun, wenn sie den Beschluss in einem von ihnen aktuell zu bearbeitenden Einzelfall auch in ihren die Entscheidung nicht tragenden Teilen zugrunde legen wollen.

5. Soweit steuer- und strafverfahrensrechtliche Interessen kollidieren, sind die Behörden gehalten, dies schriftlich zu dokumentieren, um so eine nachgelagerte Bewertung zu ermöglichen, ob einzelne steuerliche Entscheidungen tatsächlich noch zurechenbar auf eine vermeintlich fehlerhafte Erklärung zurückzuführen sind. Selbst auf der Grundlage der (fehlerhaften) Erwägungen des 1. Strafsenats wären die Behörden hierzu verpflichtet, weil nur dann verbindlich zu bewerten ist, ob (unabweisbar) "gebotene" Maßnahmen ergriffen wurden oder – dann: aus welchen Gründen? – unterblieben sind.

Die so definierte finanzbehördliche Dokumentationspflicht erstreckt sich auch auf sämtliche Gespräche, die aufgrund einer steuerlichen Maßnahme (z.B. einer Außenprüfung) mit dem Steuerpflichtigen bzw. – sollte es sich hierbei um ein Unternehmen handeln – dessen Vertretern oder "intern" (z.B. OFD, Bundesfinanzdirektion, Ministerium etc.) geführt worden sind. Gerade dieser Aspekt ist vor dem Hintergrund der vom 1. Straf-

senat für notwendig erachteten (Ausnahme-)Bewertung erforderlich, weil im Rahmen dieser Gespräche regelmäßig Anfragen formuliert oder Sachverhalte berichtet werden, aus denen sich Rückschlüsse darauf ergeben, was "geboten" ist.


[1] Ransiek wistra 2011, 189; Wulf NStZ 2011, 408.

[2] Näher dazu Schmitz/Wulf in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 6/1 § 370 AO (2010), Rdnr. 238 ff. m.w.N.

[3] Näher zu den allgemeinen Grundsätzen der objektiven Zurechnungslehre Roxin, Strafrecht AT/I, 4. Aufl. (2006), § 11; ders. in FS Honig, 1970, S. 133 ff.; ders. ZStW 116 (2004), 929 ff.

[4] Wistra 2011, 189, 190.

[5] BGH NJW 2009, 528, 531 = wistra 2009, 107,110 = HRRS 2009 Nr. 127

[6] BGH NStZ-RR 2001, 328.

[7] BGH NJW 2009, 528 = wistra 2009, 107 = HRRS 2009 Nr. 127.

[8] StV 1998, 661, berichtigt in StV 1999, 94.

[9] Vergleichbares gilt nach Ansicht des BGH auch für weitere Delikte, etwa für die Hehlerei (BGHSt 43, 110 = NJW 1997, 2610; BGH NStZ-RR 2000, 266) oder das Inverkehrbringen von Falschgeld (BGHR StGB § 146 Abs. 1 Konkurrenzen 2; BGH wistra 2005, 303 = NStZ 2005, 686 = HRRS 2005 Nr. 534).

[10] NStZ 2011, 408, 409 m.w.M.

[11] Wistra 1983, 145.

[12] Klein, AO, 10. Aufl., § 370 Rdnr. 331.

[13] Zu keinem anderen Ergebnis wird der öffentlich-rechtliche Grundsatz einer gesetzmäßig handelnden Verwaltung kommen, dem jeder Beamte verpflichtet ist. Dieser Pflichtenkreis wird zivilrechtlich dadurch abgerundet, dass kein Beamter ein Interesse daran haben sollte, sich einem zivilrechtlichen Amtshaftungsrisiko auszusetzen, weil er einer Schadensabwendungsmöglichkeit für seinen Dienstherrn nicht nachgekommen ist, sondern den Vermögensnachteil durch den erkannt fehlerhaften Bescheid sogar aktiv handelnd herbeiführt.

[14] BStBl. 1999 II, S. 7.

[15] Soweit man im Strafrecht noch erwägen mag, dass es den Strafverfolgungsbehörden möglich sein kann, aus "ermittlungstaktischen Gründen" eine in das Versuchsstadium gelangte Straftat fortlaufen zu lassen, um hierdurch Strukturen und Hintermänner zu erkennen bzw. zu enttarnen (wodurch dann aber eine strafrechtlich Tatvollendung ausgeschlossen wird, s.o.), ist nicht erkennbar, auf welche Ermächtigungsgrundlage eine Finanzbehörde entsprechenden Überlegungen stützen können sollte, nachdem sie erkannt hat, dass eine ihr vorliegende Steuererklärung objektiv unrichtig ist.