HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2011
12. Jahrgang
PDF-Download

Schrifttum

Ali B. Norouzi: Die audiovisuelle Vernehmung von Auslandszeugen, Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht, Band 74, ISBN 978-3-16-149657-8, XVII, 295 Seiten, 69,00 €, Mohr-Siebeck, Tübingen 2010.

Die Technologie ist neu, aber das Recht alt. Oder in den Worten von Ali B. Norouzi: Die "Simultanität von faktischer Nähe und normativer Distanz" (S. 179): In diesem Spannungsfeld bewegt sich die hier zu besprechende Arbeit, eine Tübinger Dissertation, die von Joachim Vogel betreut worden ist. Vorbehalte gegen Videovernehmungen gibt es viele. Stellvertretend dafür etwa steht das Argument: "Einen Zeugen muss ich ‚live' sehen und ‚riechen'. Nur dann kann ich mir ein Bild von ihm machen." Auch mit solchen und ähnlichen Vorurteilen und Fehlverständnissen muss sich Verfasser auseinandersetzen (zur Irrelevanz non-verbalen Verhaltens entgegen praktischer Ansicht: S. 251 f.). Er kann deshalb nicht einfach das Banale behaupten, und etwa ausführen: Eine Videovernehmung ist allemal besser als eine kommissarische Vernehmung; sie kommt der herkömmlich unmittelbaren Vernehmung sehr nahe. Ausnahmen hiervon kann es geben. Nein, er muss sich durchquälen durch ein ganzes Gestrüpp an ernsthaften und scheinbaren Argumenten. Aber ich selbst habe erlebt, wie wirklichkeitsnah eine Videovorlesung sein kann, wenn die technischen Voraussetzungen stimmen. Selbst so etwas Rudimentäres (und Kostengünstiges!) wie eine Übertragung per Skype kann einen mit Gewinn an einer sonst zu verschiebenden Gremiensitzung teilnehmen lassen. Kurzum: Wenn man den neuen Medien gegenüber aufgeschlossen ist, kann man ihnen sehr viel, vor allem sehr viel Erleichterung, abgewinnen.

Dies ist auch die Grundeinstellung des Autors. Er nimmt sich des Themas freilich in grundsätzlicher Art an. Er verortet seine Lösung in einem transnationalen Strafprozessrecht und argumentiert durchweg überzeugend. Dies liegt auch am klaren Gedankengang insgesamt: Zunächst erarbeitet Norouzi im ersten Teil (S. 11 ff.) seine Ausgangspunkte zur Bewertung der audiovisuellen Vernehmung als nationales und transnationales Beweismittel. Der zweite Teil (S. 63 ff.) ist der Anordnung, der dritte Teil (S. 159 ff.) der Durchführung, der vierte Teil (S. 231 ff.) schließlich der Verwertung einer audiovisuellen Vernehmung von Auslandszeugen gewidmet. Die zentrale Frage dabei ist, umfassend zu prüfen, "ob die audiovisuelle Zeugenvernehmung rechtlich, also als Beweismittel im internationalen Strafprozessrecht, in der Lage sein kann, die grenzüberschreitenden Beweisaufnahmen zu verbessern." (Hervorhebung im Original)

Dazu entwirft Verfasser die Grundzüge eines transnationalen Strafverfahrensrechts und kennzeichnet die transnationale Videovernehmung damit, dass sich die beiden

beteiligten Rechtssysteme weder räumlich noch zeitlich trennen ließen. Treffend führt er aus: "Der Zeuge wird sowohl im Beweismittelstaat als auch im Forumstaat vernommen und sagt sowohl im Beweismittelstaat als auch im Forumstaat aus" (S. 9 sowie S. 159 ff). Eine zweite zentrale Überlegung besteht darin, dass die Verwertung des Protokolls einer kommissarischen Vernehmung im Wege der Verlesung erfolgt, während die audiovisuelle Vernehmung eines Auslandszeugen eben eine Vernehmung und keine Verlesung ist (S. 16).

Norouzi ordnet die audiovisuelle Vernehmung den Beweisrechtsprinzipien zu (S. 15). Geradezu genüsslich formuliert er: "Der Zeuge wird vernommen, die Urkunde (hier das Protokoll der Vernehmung) verlesen. Diese Feststellung mutet, zugegeben, banal, an. Sie wirft aber den Verdacht auf, dass sich die räumliche, allein audiovisuell überbrückte Distanz bei Videovernehmung jedenfalls abstrakt und, verglichen mit dem Protokoll, nicht nennenswert auswirkt" (S. 16). Dies sind aus meiner Sicht die Botschaften der gesamten Arbeit. Konsequent ist es deshalb, wenn er die audiovisuelle Vernehmung zwar nicht als gleichrangig, aber "nahezu gleichwertig" (S. 36) einordnet und allenfalls ein geringfügiges Minus gegenüber der Direktvernehmung sieht. Vor allem ist sie kein Aliud wie die Protokollverlesung.

Das anspruchsvolle und zugleich bestens nachvollziehbare deduktiv-methodische Vorgehen zeigt sich beispielhaft auf S. 38 - 62. Verfasser destilliert Maximen aus dem nationalen Strafprozess für Interessenskonflikte und für den Interessensausgleich, um diese dann entsprechend auf Interessenskonflikte und den Interessensausgleich auf der Ebene des internationalen Strafprozessrechts zu übertragen und sie schließlich auf die transnationale Videovernehmung anzuwenden. Zu Recht betont er dabei, es sei naheliegend, die Videovernehmung als zentral für die Entwicklung in Europa anzusehen (S. 74).

Die eigene Lösung zum Verhältnis Videovernehmung - Protokollverlesung besteht darin, dass die Videovernehmung wegen der Konfrontationsmöglichkeit angeordnet werden muss, wenn sie möglich ist, weil sie das Konfrontationsrecht am besten wahrt (S. 115 ff., 125). Mit § 244 Abs 5 Satz 2 StPO geht Verfasser zu Recht sehr kritisch um, weil er jedenfalls bei einer Videovernehmung keine Berechtigung mehr hat (S. 128 ff.).

Im dritten Teil zur Durchführung der audiovisuellen Vernehmung wendet sich Verfasser der zentralen Frage zu, warum der Grundsatz "locus regit actum" bei der Videovernehmung nicht anwendbar und der Grundsatz "forum regit actum" das Zukunftsmodell sei (S. 186 - 193). Dem überzeugenden Plädoyer von Norouzi kann man sich nur mit größtem Nachdruck anschließen. Gerade die transnationale Videovernehmung macht nämlich die Friktionen und "Verfahrensbrüche" (S. 229) des bisherigen Prinzips besonders deutlich. Er schlägt eine Lösung vor (S. 183 ff.), die zwischen Geltungs- und Anwendungsbereich differenziert, weil die Strafprozessordnung keine den §§ 3 - 7 und 9 StGB vergleichbare Regelung kennt. Auch letzteres ist ein anregender Gedanke. Das Zukunftsmodell sieht er in Art. 4 des EU-Rechtshilfeübereinkommens (S. 186 ff). Nach Behandlung von Einzelfragen der Durchführung (S. 194 - 229) wendet sich Verfasser den Verwertungsproblemen zu (231 - 265) wobei Norouzi überzeugend argumentiert, dass "klassische" Verwertungsprobleme im Beweisrecht fallen, weil sich diese aus der Diskrepanz zwischen der lex loci und der lex fori ergeben.

Bisweilen stört mich persönlich an manchen Stellen eine vom Lesefluss ablenkende Vielzahl von Fußnoten (zB S. 16, Fn. 3 - 6 oder S. 17, Fn. 7 - 13) bzw. eine z. B. auf S. 21 in den Fn. 31 - 33 stattfindende Paralleldiskussion. Wenn man schließlich den Satz im Text S. 70 - 71 mit den Fn. 20 - 23 zusammen liest, kann man dies entweder als ein geradezu kleistisches Leseerlebnis empfinden oder man stutzt schlicht (Was will mir der Autor eigentlich sagen oder beweisen?). Aber das mag auch eine Frage des persönlichen Stils sein und ändert nichts an der wirklich beeindruckenden gedanklichen Leistung. Insgesamt handelt es sich um eine vorzügliche Arbeit, die sehr zum Nachdenken anregt. Sie liefert einen wirklichen Grundlagenbeitrag zum transnationalen Strafprozessrecht.

Univ. Prof. Dr. Otto Lagodny, Salzburg