HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2011
12. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

1. EGMR Nr. 13201/05 (1. Kammer) – Urteil 18. März 2010 (Krumpholz v. Österreich)

Selbstbelastungsfreiheit (Voraussetzungen für belastende Schlüsse aus dem Schweigen des Angeklagten bei der Verurteilung eines KFZ-Halters wegen Geschwindigkeitsübertretungen; Pflicht des Halters zur Offenbarung des Fahrers bei einer Geschwindigkeitsübertretung; Unschuldsvermutung: Beweislast des Staates); Zulässigkeit der Beschwerde (Opferstellung bei ausgeschlossenem Vollzug einer verhängten Strafe).

Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 EMRK; Art. 34 EMRK; Art. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 261 StPO; § 103 Abs. 1 Österreichisches Kraftfahrzeuggesetz

1.  Die Verurteilung des Halters eines KFZ für eine Geschwindigkeitsübertretung, die mit seinem KFZ begangen wurde, verstößt gegen Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 EMRK, wenn sie allein auf seiner Haltereigenschaft und auf seinem Schweigen zur Person des Fahrers während der Tat beruht. In diesem Fall liegt keine Situation vor, in der das Schweigen des Halters nur damit erklärt werden kann, dass ihm jede Verteidigung unmöglich ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Halter die Tat in Abrede stellt und erklärt, den Fahrer wegen der Nutzung des KFZ durch mehrere Personen nicht angeben zu können und die Verurteilung nur in einem schriftlichen Verfahren fällt.

2. Auch wenn sie nicht explizit in Art. 6 EMRK genannt sind, zählen das Schweigerecht und die Selbstbelastungsfreiheit zu den allgemein anerkannten internationalen Standards. Sie gehören zum Kernbereich des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK.

3. Der EGMR akzeptiert, dass die Verwertung des Schweigens des Angeklagten zu seinen Lasten nicht stets Art. 6 EMRK verletzt. Ob dies der Fall ist, muss jedoch für jeden einzelnen Fall beurteilt werden. Es kommt hier insbesondere darauf an, in welcher Situation belastende Schlüsse gezogen werden, welches Gewicht die nationalen Gerichte diesen Schlüssen beigelegt haben und welches Maß an Zwang der Situation zukam. Im Fall John Murray hat der EGMR eine Verletzung durch belastende Schlüsse aus dem Schweigen – die durch prozedurale Schutzinstrumente eingehegt waren – abgelehnt, weil der Staat eine prima facie gut begründete Anklage gegen Murray erhoben hatte, die zu ihrer Ausräumung unzweifelhaft eine Erklärung durch den Angeklagten erforderlich sein ließ.

4. Belastende Schlüsse aus dem Schweigen des Angeklagten können auch in einem System der freien Beweiswürdigung gestattet sein, soweit die Beweise gegen den Angeklagten so stark sind, dass der einzig sinnvoll mögliche Schluss aus dem Schweigen darin liegt, dass sich der Angeklagte gegen die Beweise nicht erfolgreich verteidigen kann, sondern der gesuchte Täter ist. Hieran sind aber strenge Maßstäbe zu stellen, damit die Beweislast des Staates nicht durch die Gerichte auf den Angeklagten übertragen wird.

5. Es verstößt nicht stets gegen Art. 6 EMRK, wenn der Halter eines KFZ unter Androhung einer Geldbuße verpflichtet wird, den Fahrer zu benennen, der das KFZ während eines Straßenverkehrsdelikts gefahren hat.


Entscheidung

121. BVerfG 1 BvR 1106/08 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 8. Dezember 2010 (OLG München)

Publikationsverbot für die Verbreitung rechtsextremistischen oder nationalsozialistischen Gedankenguts für die Dauer der Führungsaufsicht; Meinungsfreiheit (Wechselwirkungstheorie; Abwägung; Verhältnismäßigkeit).

Art. 5 Abs. 1 GG; § 68 Abs. 2 StGB; § 68f Abs. 1 S. 1 StGB; § 68c Abs. 1 StGB; § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StGB

1. Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst grundsätzlich - in den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG - auch die Verbreitung rechtsextremistischer Meinungen (vgl. BVerfGE 124, 300, 320).

2. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist nicht vorbehaltlos gewährleistet. Es findet gemäß Art. 5 Abs. 2 GG seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen. Hierunter fällt auch die Weisungsbefugnis im Rahmen der Führungsaufsicht gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 4 StGB, da dieser keine inhaltsbezogene Meinungsbeschränkung zum Gegenstand hat, die sich von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien richtet (vgl. BVerfGE 124, 300, 323). Auch im Übrigen bestehen an der Verfassungsmäßigkeit des Instituts der Führungsaufsicht keine grundsätzlichen Zweifel.

3. Auslegung und Anwendung der die Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetze sind Sache der dafür zuständigen Fachgerichte. Doch müssen sie hierbei das eingeschränkte Grundrecht interpretationsleitend berücksichtigen, damit sein Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die allgemeinen Gesetze gemäß Art. 5 Abs. 2 GG zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen (vgl. BVerfGE 7, 198, 205 ff.; 124, 300, 342).

4. Bei einer präventiven Zwecken dienenden Schrankenbestimmung ist für die insoweit maßgebliche Gefahrenprognose die Feststellung nachvollziehbarer tatsächlicher Anhaltspunkte vonnöten. Bloße Vermutungen reichen hierfür grundsätzlich - unabhängig von dem normativ geforderten Grad der Wahrscheinlichkeit der Gefahr - nicht aus. Des Weiteren ist eine am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierte Abwägung zwischen der durch die Meinungsäußerung drohenden Beeinträchtigung von Rechtsgütern einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch ihre Einschränkung andererseits erforderlich (vgl. zuletzt: BVerfGE 124, 300, 342 i.V.m. 331 ff.). Im Rahmen einer solchen Abwägung sind grundsätzlich die Art und die Schwere des Grundrechtseingriffs zu dem Eingriffsanlass, namentlich Rang und Qualität des mit der Norm verfolgten Schutzgutes sowie Grad der drohenden Gefahr, in einen angemessenen Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 120, 274, 326 f.).

5. Die „Verbreitung rechtsextremistischen oder nationalsozialistischen Gedankenguts“, enthält kein hinreichend bestimmtes Rechtskriterium, mit dem einem Bürger die Verbreitung bestimmter Meinungen verboten werden kann.

6. An einer verfassungsrechtlich erforderlichen Abwägung zwischen dem durch § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB geschützten öffentlichen Interesse und der Meinungsfreiheit fehlt es, wenn sich die Begründung auf den lediglich den Gesetzeswortlaut wiederholenden Satz beschränkt, die das Publikationsverbot enthaltende Weisung grenze den Beschwerdeführer in seiner zukünftigen Lebensführung in Freiheit nicht unzumutbar ein.

7. Zwar wäre es möglicherweise nicht von vornherein ausgeschlossen, einem verurteilten Straftäter, der seine Strafe voll verbüßt hat, für die Zukunft durch eine Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht nach § 68b Abs. 1 Nr. 4 StGB in Bezug auf bestimmte Situationen auch die Verbreitung von Meinungen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle zu verbieten. Bei Maßnahmen, die an den Inhalt einer Äußerung anknüpfen, bedarf es jedoch einer besonders sorgfältigen Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs einerseits und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit und dem Grad der Wahrscheinlichkeit insoweit drohender Rechtsgutverletzungen andererseits. Unverhältnismäßig sind jedenfalls an Meinungsinhalte anknüpfende präventive Maßnahmen, die den Bürger für eine gewisse Zeit praktisch gänzlich aufgrund seiner gehegten politischen Überzeugungen von der - die freiheitlich demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierenden - Teilhabe an dem Prozess der öffentlichen Meinungsbildung ausschließen; dies kommt einer Ab-

erkennung der Meinungsfreiheit selbst nahe, die nur unter den Bedingungen des Art. 18 GG zulässig ist.


Entscheidung

122. BVerfG 1 BvR 1739/04 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 10. Dezember 2010 (LG Hamburg/AG Hamburg)

Anordnung der Durchsuchung der Geschäftsräume eines Rundfunksenders (richterliche Prüfung und Begründung; Verhältnismäßigkeit; Prüfung im Einzelfall; Subsidiarität); Rundfunkfreiheit (juristische Person; Verein; Schutzbereich; Schranken; Redaktionsgeheimnis; Rechercheunterlagen; Kontakte; organisationsbezogene Unterlagen); Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes.

Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 5 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 103 StPO; § 105 StPO; § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 StPO; § 94 Abs. 1 StPO; § 94 Abs. 2 StPO; § 97 Abs. 2 S. 3 StPO; § 97 Abs. 5 S. 1 StPO; § 201 Abs. 1 StGB

1. Die Gewährleistungsbereiche der Presse- und Rundfunkfreiheit schließen diejenigen Voraussetzungen und Hilfstätigkeiten mit ein, ohne welche die Medien ihre Funktion nicht in angemessener Weise erfüllen können. Geschützt sind namentlich die Geheimhaltung der Informationsquellen und das Vertrauensverhältnis zwischen Presse beziehungsweise Rundfunk zu ihren Informanten (vgl. BVerfGE 20, 162, 176, 187; 117, 244, 258 f.) sowie die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit (vgl. BVerfGE 66, 116, 133 ff.; 117, 244, 258). Entsprechend dieser Zielsetzung fallen auch organisationsbezogene Unterlagen eines Presse- oder Rundfunkunternehmens, aus denen sich redaktionelle Arbeitsabläufe, redaktionelle Projekte oder auch die Identität der Mitarbeiter einer Redaktion ergeben, unter das Redaktionsgeheimnis.

2. Eine Durchsuchung in den Räumen eines Rundfunkunternehmens stellt - ebenso wie die Durchsuchung von Presseräumen - wegen der damit verbundenen Störung der redaktionellen Arbeit sowie der Möglichkeit einer einschüchternden Wirkung eine Beeinträchtigung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 117, 244, 259 f.) Überdies liegt in der Verschaffung staatlichen Wissens über den Inhalt redaktionellen Materials ein Eingriff in das von der Rundfunkfreiheit geschützte Redaktionsgeheimnis (vgl. BVerfGE 20, 162, 187; 117, 244, 259 f.).

3. Die Vorschriften über das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO und das Beschlagnahmeverbot nach § 97 Abs. 5 Satz 1 StPO sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht notwendig abschließende Regelungen (vgl. BVerfGE 20, 162, 189; 77, 65, 81 f.). Vielmehr ist auch dann, wenn im Einzelfall ein gesetzliches Zeugnisverweigerungsrecht nicht greift, im Zuge der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts, insbesondere im Zuge der regelmäßig gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung der Ausstrahlungswirkung des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 107, 299, 334; 117, 244, 262).

4. Eine Durchsuchung muss im Blick auf den bei der Anordnung verfolgten Zweck Erfolg versprechend sein. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (BVerfGE 96, 44, 51).

5. Stehen Beschlagnahmen in Presse- oder Rundfunkunternehmen in Rede, fällt in der Verhältnismäßigkeitsprüfung zusätzlich der mögliche oder wahrscheinliche Eingriff in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ins Gewicht (vgl. BVerfGE 20, 162, 187, 213). Die Beeinträchtigungen der Presse- und Rundfunkfreiheit sind auch dann in die Gewichtung einzustellen, wenn die Vorschriften der Strafprozessordnung ein pressespezifisches Beschlagnahmeverbot nicht vorsehen (vgl. BVerfGE 117, 244, 262) und sind insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen (BVerfGE 77, 65, 82 f.; 107, 299, 334). Geboten ist daher eine Abwägung zwischen dem sich auf die konkret zu verfolgenden Taten beziehenden Strafverfolgungsinteresse und - hier - den Belangen der Rundfunkfreiheit.

6. Die Annahme der fachgerichtlichen Rechtsprechung, dass ein eventuelles Beschlagnahmeverbot in den Räumen einer Rundfunkanstalt gemäß § 97 Abs. 5 Satz 2, Abs. 2 Satz 3 StPO entfällt, wenn einzelne Mitarbeiter der Teilnahme an den Taten verdächtig sind, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für die Rechtsauffassung, dass auch der Mitgewahrsam eines zwar nicht beschuldigten, aber doch der aufzuklärenden Tat verdächtigen Zeugnisverweigerungsberechtigten das Beschlagnahmeverbot insgesamt entfallen lässt. Allerdings bleibt auch in diesen Fällen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG von Bedeutung (vgl. BVerfGE 117, 244, 262).

7. Eine Beschlagnahme von Beweismitteln in Redaktionsräumen oder Rundfunksendern - und eine hierauf gerichtete Durchsuchung - kommt nach den Vorgaben des Gesetzgebers gemäß § 97 Abs. 5 Satz 2, 2 HS StPO aber auch bei Entfallen eines Beschlagnahmeverbotes nur dann in Betracht, wenn die Ermittlung des Sachverhalts auf andere Weise wesentlich erschwert oder unmöglich wäre. Angesichts dessen sind die Fachgerichte gehalten, die Frage zu erörtern, ob die Taten nicht auch auf andere Weise hätten aufgeklärt werden können.

8. Zwar mag der Umstand, dass die Begründung eines Durchsuchungsbeschlusses nahezu wörtlich mit der Begründung des Antrages der Staatsanwaltschaft übereinstimmt, für sich genommen unerheblich sein. Auch sind umfangreiche Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit weder im Durchsuchungsbeschluss noch in der Beschwerdeentscheidung grundsätzlich und stets von Verfassungs wegen geboten. Aus grundrechtlicher Sicht ist es aber nicht mehr hinnehmbar, dass einem Durchsuchungsbeschluss keinerlei Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu entnehmen sind, obgleich sich Ausführungen hierzu einerseits wegen der ersichtlich geringen Schwere der in Rede stehenden Tat und andererseits wegen der mit einer Durchsuchung der Räume einer Rundfunkanstalt regelmäßig einhergehenden Beeinträchtigungen der Rundfunkfreiheit geradezu aufdrängten.

9. Auch wenn das einfache Recht den generellen Beschlagnahmeschutz in Redaktionsräumen bereits dann entfallen lässt, wenn nur einer der Medienmitarbeiter

Beschuldigter oder der Beteiligung verdächtig ist, so muss bei der Gewichtung der Schwere des Eingriffs im Einzelfall doch gleichwohl berücksichtigt werden, ob die Ermittlungsmaßnahme auf die räumliche Sphäre des oder der beschuldigten Journalisten beschränkt werden kann oder ob sie sich, insbesondere wenn sie wie hier der Aufdeckung der Identität eines unbekannten Medienmitarbeiters dient, zwangsläufig auf eine gesamte Redaktion erstreckt. Nicht jede strafrechtliche Ermittlung rechtfertigt einen solchen erheblichen Eingriff in die Rundfunkfreiheit.


Entscheidung

123. BVerfG 1 BvR 2020/04 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 10. Dezember 2010 (LG Hamburg/AG Hamburg)

Art und Weise der Durchführung einer Durchsuchung der Geschäftsräume eines Rundfunksenders (Anfertigung von Lichtbildern und Grundflächenskizzen; Verhältnismäßigkeit); Beschlagnahme und Sicherstellung von Redaktionsunterlagen (Anfertigung von Kopien); Löschung; Rundfunkfreiheit (juristische Person; Verein; Schutzbereich; Schranken; Redaktionsgeheimnis; räumlicher Bereich); Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes.

Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 5 Abs. 2 GG; Art. 14 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 103 StPO; § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 StPO; § 94 Abs. 1 StPO; § 94 Abs. 2 StPO; § 97 Abs. 2 S. 3 StPO; § 97 Abs. 5 S. 1 StPO; § 489 Abs. 2 StPO; § 201 Abs. 1 StGB

1. Die Gewährleistungsbereiche der Presse- und Rundfunkfreiheit schließen diejenigen Voraussetzungen und Hilfstätigkeiten mit ein, ohne welche die Medien ihre Funktion nicht in angemessener Weise erfüllen können. Geschützt sind namentlich die Geheimhaltung der Informationsquellen und das Vertrauensverhältnis zwischen Presse beziehungsweise Rundfunk zu ihren Informanten (vgl. BVerfGE 20, 162, 176, 187; 117, 244, 258 f.) sowie die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit (vgl. BVerfGE 66, 116, 133 ff.; 117, 244, 258). Entsprechend dieser Zielsetzung fallen auch organisationsbezogene Unterlagen eines Presse- oder Rundfunkunternehmens, aus denen sich redaktionelle Arbeitsabläufe, redaktionelle Projekte oder auch die Identität der Mitarbeiter einer Redaktion ergeben, unter das Redaktionsgeheimnis.

2. Die mit einer Beschlagnahme oder Sicherstellung einhergehende fortdauernde Entziehung des Besitzes des bei einer Durchsuchung aufgefundenen Gegenstandes berührt zwar nicht mehr die Unverletzlichkeit der Wohnung, sondern in aller Regel das Grundrecht des Betroffenen aus Art. 14 Abs. 1 GG, kann daneben aber auch weitere spezielle grundrechtliche Gewährleistungen beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 113, 29, 45; 124, 43, 57). Sind - wie hier - Unterlagen betroffen, die einen Inhalt aufweisen, der von der Rundfunkfreiheit vor staatlicher Kenntnisverschaffung geschützt ist, greift nicht nur deren Sicherstellung, sondern auch die Anfertigung von Ablichtungen hiervon zu Zwecken des Strafverfahrens - ungeachtet einer späteren Rückgabe der Originale an den Betroffenen - in die Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ein, da auf diese Weise an sich der Einsicht des Staates entzogene Informationen jederzeit und dauerhaft für diesen einsehbar werden (vgl. BVerfGE 117, 244, 271).

3. Die Anfertigung von Grundflächenskizzen und Lichtbildern der Räume eines Rundfunksenders im Zuge einer Durchsuchung, stellen einen Eingriff in die Rundfunkfreiheit dar, da mit einer bild- und skizzenhaften Dokumentation aller Räumlichkeiten des Rundfunksenders der mit der Durchsuchung verbundene Einbruch in die redaktionelle Sphäre des Medienunternehmens und die damit einhergehende einschüchternde Wirkung (vgl. BVerfGE 117, 244, 259) in gewissem Maße perpetuiert und vertieft wird.

4. Gegen die strafprozessualen Vorschriften über die Durchsuchung sowie die Sicherstellung und Beschlagnahme von Beweisgegenständen, §§ 94, 97, 103, 105 StPO bestehen aus Sicht der Rundfunkfreiheit auch insoweit keine verfassungsrechtlichen Bedenken, als sie die Durchsuchung von Redaktionsräumen sowie die Sicherstellung und Beschlagnahme von Gegenständen im Bereich von Presse und Rundfunk zulassen.

5. Handelt es sich um Gesetze, die die Rundfunkfreiheit beschränken, ist bei Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts das eingeschränkte Grundrecht zu beachten (vgl. BVerfGE 20, 162, 186 f.; 117, 244, 260 ff.), damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (BVerfGE 7, 198, 208 f.; 71, 206, 214; st. Rspr.). Auch die Sicherstellung und Beschlagnahme von Beweisgegenständen muss insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen (vgl. BVerfGE 20, 162, 186 f.; 113, 29, 53). Die Beschlagnahme muss zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein und in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Straftat und zur Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 113, 29, 53).

6. Stehen Beschlagnahmen in Presse- oder Rundfunkunternehmen in Rede, fällt in der Verhältnismäßigkeitsprüfung zusätzlich der mögliche oder wahrscheinliche Eingriff in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ins Gewicht (vgl. BVerfGE 20, 162, 187, 213). Die Beeinträchtigungen der Presse- und Rundfunkfreiheit sind auch dann in die Gewichtung einzustellen, wenn die Vorschriften der Strafprozessordnung ein pressespezifisches Beschlagnahmeverbot nicht vorsehen (vgl. BVerfGE 117, 244, 262) und sind insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen (BVerfGE 77, 65, 82 f.; 107, 299, 334). Geboten ist daher eine Abwägung zwischen dem sich auf die konkret zu verfolgenden Taten beziehenden Strafverfolgungsinteresse und - hier - den Belangen der Rundfunkfreiheit.

7. Ebenso, wie die Ermittlungsbehörden gehalten sind, auch eine angeordnete Durchsuchung auf das erforderliche Maß zu begrenzen, um die Integrität der Wohnung nicht mehr als erforderlich zu beeinträchtigen, ist auch eine übermäßige Beeinträchtigung der Rundfunkfreiheit bei Vollzug der Durchsuchung eines Rundfunksenders zu vermeiden.

8. Es bleibt offen, ob bei Ablichtungen von bei einer Durchsuchung aufgefundenen Schriftstücken als mildere Maßnahme gegenüber einer Beschlagnahme gleichfalls der Richtervorbehalt nach § 98 Abs. 1 StPO greift.

9. Aus verfassungsrechtlicher Sicht mag es vertretbar sein, wenn die Fachgerichte davon ausgehen, dass eine

Durchsuchungsanordnung es den Ermittlungsbehörden auch erlaubt, Lichtbilder und Skizzen von den durchsuchten Räumlichkeiten anzufertigen, soweit dies zum Zwecke des Ermittlungsverfahrens, etwa zur Dokumentation des Auffindeortes von Beweismitteln erforderlich ist. (Im vorliegenden Fall verneint.)


Entscheidung

120. BVerfG 2 BvR 871/04, 2 BvR 414/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 29. April 2010 (OLG Frankfurt am Main/LG Kassel/AG Kassel)

Steuerhinterziehung durch Verstoß gegen die Milch-Garantienmengen-Verordnung; Gesetzlichkeitsprinzip (Bestimmtheitsgrundsatz; Blankettstrafgesetz; Verordnungsermächtigung: Reichweite des Zitiergebots bei Verweisung auf Unionsrecht).

Art. 14 GG; Art. 12 GG; Art. 3 GG; Art. 80 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 371 Abs. 1 Nr. 1 AO; § 8 Abs. 2 MOG; § 12 MOG; Art. 2 EWGV Nr. 3950/92; § 1 MGV; § 3 MGV; § 7 MGV

1. Der Straftatbestand des § 370 Abs. 1 AO in Verbindung mit § 12 Abs. 1 MOG genügt den Anforderungen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 GG in noch hinreichender Weise. Dies gilt insbesondere auch, soweit daraus die Strafbarkeit der Hinterziehung der zusätzlichen Abgabe auf Milch nach der Verordnung Nr. 3950/92 in den Milchwirtschaftsjahren 1996/1997 bis 1998/1999 folgte.

2. Das Gebot der Gesetzesbestimmtheit darf nicht übersteigert werden; die Gesetze würden sonst zu starr und kasuistisch und könnten der Vielgestaltigkeit des Lebens, dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalles nicht mehr gerecht werden. Generalklauseln oder unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht sind deshalb nicht von vornherein und immer verfassungsrechtlich zu beanstanden (vgl. BVerfGE 48, 48, 56 f.; 75, 329, 341 f.). Auch die Tatsache, dass zur Auslegung eines Strafgesetzes auf andere Gesetze zurückgegriffen werden muss, steht der Bestimmtheit des Strafgesetzes grundsätzlich nicht notwendig entgegen (vgl. BVerfGE 78, 205, 213). Die Beurteilung der Frage, ob der Tatbestand einer Strafnorm „gesetzlich bestimmt" im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG ist, kann auch davon abhängen, an welchen Kreis von Adressaten sich die Vorschrift wendet. Richtet sie sich ausschließlich an Personen, bei denen aufgrund ihrer Ausbildung oder praktischen Erfahrung bestimmte Fachkenntnisse regelmäßig vorauszusetzen sind und regelt sie Tatbestände, auf die sich solche Kenntnisse zu beziehen pflegen, so begegnet die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 2 GG dann keinen Bedenken, wenn allgemein davon ausgegangen werden kann, dass der Adressat aufgrund seines Fachwissens imstande ist, den Regelungsinhalt solcher Begriffe zu verstehen und ihnen konkrete Verhaltensanweisungen zu entnehmen (vgl. BVerfGE 48, 48, 57; stRspr).

3. Verweist der parlamentarische Gesetzgeber auf Rechtsverordnungen, muss er Sorge tragen, dass die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger schon aus dem Parlamentsgesetz voraussehbar sind und nicht erst aus der Verordnung, auf die verwiesen wird (vgl. BVerfGE 14, 174, 185 f. m.w.N.; vgl. auch BVerfGE 32, 346, 362). Droht das Blankettstrafgesetz Freiheitsstrafe an, verlangt Art. 104 Abs. 1 GG darüber hinaus, dass Art und Maß der Strafe im förmlichen Gesetz festgelegt werden und dem Verordnungsgeber auch auf tatbestandlicher Seite nur eine gewisse Spezifizierung des Straftatbestandes überlassen wird, was vor allem gerechtfertigt sein kann, wenn wechselnde und mannigfaltige Einzelregelungen erforderlich werden können (vgl. BVerfGE 14, 174, 186 f.; 14, 245, 251; 22, 21, 25; 23, 265, 269; 75, 329, 342). Diese Anforderungen lassen sich sinngemäß auf den Fall übertragen, dass förmliche Blankettstrafgesetze auf Vorschriften des Unionsrechts verweisen. Der Gesetzgeber muss also hier wie im Falle der Verweisung auf Rechtsverordnungen selbst sicherstellen, dass nur materiell wertwidrige Verhaltensweisen als strafbar erfasst werden; die Gewichtverteilung zwischen Blankettstrafgesetz und konkretisierendem Rechtsakt muss die vorrangige Bestimmungsgewalt des förmlichen Gesetzes wiedergeben.

4. Das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG soll nicht nur die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage kenntlich und damit auffindbar machen. Es soll auch die Feststellung ermöglichen, ob der Verordnungsgeber beim Erlass der Regelungen von einer gesetzlichen Ermächtigung überhaupt Gebrauch machen wollte. Die Exekutive muss durch Angabe ihrer Ermächtigungsgrundlage sich selbst des ihr aufgegebenen Normsetzungsprogramms vergewissern und hat sich auf dieses zu beschränken. Es kommt daher nicht nur darauf an, ob sie sich überhaupt im Rahmen der delegierten Rechtssetzungsgewalt bewegt, vielmehr muss sich die in Anspruch genommene Rechtssetzungsbefugnis gerade aus den von ihr selbst angeführten Vorschriften ergeben. Außerdem dient Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG der Offenlegung des Ermächtigungsrahmens gegenüber dem Adressaten der Verordnung. Das soll ihm die Kontrolle ermöglichen, ob die Verordnung mit dem ermächtigenden Gesetz übereinstimmt. Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG statuiert insoweit ein rechtsstaatliches Formerfordernis, das die Prüfung erleichtern soll, ob sich der Verordnunggeber beim Erlass der Verordnung im Rahmen der ihm erteilten Ermächtigung gehalten hat (BVerfGE 101, 1, 42). Hieraus folgt aber nicht, dass der Verordnunggeber dann, wenn er sich auf eine nationale Verordnungsermächtigung stützt, die ihrerseits (teilweise) auf unionsrechtliche Vorschriften verweist, neben der nationalen Verordnungsermächtigung grundsätzlich auch diese unionsrechtlichen Vorschriften zitieren müsste. Nur wenn unionsrechtliche Vorschriften, auf die eine nationale Verordnungsermächtigung verwiese, eine oder mehrere zusätzliche eigenständige Ermächtigungsgrundlagen enthielten, wäre der Verordnungsgeber nach Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG verpflichtet, auch die entsprechenden unionsrechtlichen Vorschriften zu nennen.

5. § 8 Abs. 1 Satz 1 und § 12 Abs. 2 Satz 1 MOG genügten jedenfalls in Verbindung mit den Bestimmungen der Verordnung Nr. 3950/92 noch den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes nach Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. Ob der Maßstab, den Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG für die hinreichende Bestimmtheit von Inhalt und Ausmaß einer gesetzlichen Ermächtigung zum Erlass von Verordnungen aufstellt, für den Fall anwendbar ist, dass insoweit eine unionsrechtliche Bindung der Bundesrepublik Deutsch-

land gegeben ist, die den Gestaltungsspielraum des deutschen Gesetzgebers ergreift, kann weiter offen bleiben.

6. Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers können sich aus den allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen an den Einsatz von Verweisungen ergeben. Verweisungen sind als vielfach übliche und notwendige gesetzestechnische Methode anerkannt, sofern die Verweisungsnorm hinreichend klar erkennen lässt, welche Vorschriften im Einzelnen gelten sollen und wenn die in Bezug genommenen Vorschriften dem Normadressaten durch eine frühere ordnungsgemäße Veröffentlichung zugänglich sind (vgl. BVerfGE 47, 285, 311). Auch dynamische Verweisungen sind nicht schlechthin ausgeschlossen, wenngleich ein besonders strenger Prüfungsmaßstab im Einzelfall geboten sein kann. Bei fehlender Identität der Gesetzgeber bedeutet eine dynamische Verweisung mehr als eine bloße gesetzestechnische Vereinfachung; sie führt zur versteckten Verlagerung von Gesetzgebungsbefugnissen und kann daher Bedenken unter bundesstaatlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Gesichtspunkten ausgesetzt sein (BVerfGE 47, 285, 312).

7. Die Anwendung des § 7b MGV aF beinhaltet keinen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG und führt auch nicht zu einer verfassungsrechtlich unzulässigen Ungleichbehandlung.

8. Das Bundesverfassungsgericht übt seine Grundrechtskontrolle über in Deutschland angewandtes Unionsrecht grundsätzlich nicht mehr aus, solange und soweit die Europäische Union einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist (BVerfGE 73, 339, 387; 102, 147, 162 f.; 123, 267, 399). Eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Richtlinie in deutsches Recht umsetzt, wird insoweit nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen, als das Unionsrecht keinen Umsetzungsspielraum lässt, sondern zwingende Vorgaben macht (vgl. BVerfGE 118, 79, 95 ff.). Entsprechend kann auch eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die nicht zur Umsetzung, sondern zur Ergänzung und Durchführung zwingenden Unionsrechts erlassen worden ist, insoweit nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüft werden, als sich eine Verfassungsbeschwerde gegen die vom Unionsgesetzgeber getroffenen Festlegungen richtet.