HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2010
11. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

1084. BGH 2 StR 371/10 - Beschluss vom 29. September 2010 (LG Köln)

BGHSt; mangelnde Beweiskraft des zu einer etwaigen Verständigung schweigenden Protokolls (Negativattest; Darlegungsanforderungen für den Beleg einer nicht protokollierten Verständigung im Freibeweisverfahren); Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts.

§ 273 Abs. 1a S. 3 StPO; § 302 Abs. 1 S. 2 StPO

1. Ein Protokoll, in dem weder vermerkt ist, dass eine Verständigung stattgefunden, noch dass eine solche nicht stattgefunden hat, ist widersprüchlich bzw. lückenhaft und verliert insoweit seine Beweiskraft. (BGHSt)

2. Beruft sich ein Angeklagter auf die Unwirksamkeit eines von ihm erklärten Rechtsmittelverzichts wegen einer vorausgegangenen Verständigung und schweigt das Protokoll dazu, so muss der Beschwerdeführer, um dem Revisionsgericht eine Überprüfung im Freibeweisverfahren zu ermöglichen, im einzelnen darlegen, in welchem Verfahrensstadium, in welcher Form und mit welchem Inhalt die von ihm behauptete Verständigung zustande gekommen ist. (BGHSt)

3. Der nach § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO zwingend vorgeschriebene Vermerk, dass eine Verständigung nicht stattgefunden habe, gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 274 Satz 1 StPO (BGH NStZ-RR 2010, 213). (Bearbeiter)


Entscheidung

1046. BGH 1 StR 266/10 - Urteil vom 19. Oktober 2010 (LG Bamberg)

BGHSt; Darlegungsvoraussetzungen an ein Einstellungsurteil wegen Verjährung (Verfahrensvoraussetzungen; Ermöglichung der Anfechtung durch Verfahrensbeteiligte und der Überprüfung durch das Revisionsgericht); gewerbsmäßiger und bandenmäßiger Betrug.

§ 260 Abs. 3 StPO; § 78 StGB; § 263 Abs. 5 StGB

1. In einem Einstellungsurteil wegen Verjährung sind die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des Verfahrenshindernisses in einer revisionsrechtlich überprüfbaren Weise festzustellen und zu begründen. (BGHSt)

2. Der Tatrichter ist verpflichtet, die Verfahrensvoraussetzungen zu prüfen und grundsätzlich so darzulegen, dass sie vom Revisionsgericht nachgeprüft werden können. Soweit zu dieser Überprüfung eine dem Tatrichter obliegende Feststellung von Tatsachen erforderlich ist, hat er diese rechtsfehlerfrei zu treffen und (gegebenenfalls) zu würdigen. Dieser Begründungszwang ergibt sich sowohl aus § 34 StPO wie aus der Natur der Sache. Würde man die pauschale, in tatsächlicher Hinsicht nicht näher belegte Angabe des Tatrichters, dass ein bestimmtes Verfahrenshindernis bestehe oder eine Verfahrensvoraussetzung fehle, für ausreichend erachten, so wäre der betreffende Verfahrensbeteiligte in Unkenntnis des vom Gericht als gegeben unterstellten, aber nicht mitgeteilten Sachverhalts in vielen Fällen gar nicht in der Lage, die Entscheidung sach- und formgerecht anzufechten. Ein derartiger sachlich-rechtlicher Mangel nötigt zur Aufhebung des Urteils und der ihm zugrunde liegenden Feststellungen. (Bearbeiter)


Entscheidung

1126. BGH 4 StR 646/09 - Beschluss vom 10. August 2010 (ThürOLG)

BGHSt; besondere Zuwendung für Haftopfer (Antrag vor rechtskräftiger gerichtlicher Rehabilitierungsentscheidung).

§ 17a Abs. 4 Satz 1 StrRehaG; § 12 StrRehaG; § 25 Abs. 1 Satz 4 StrRehaG; § 13 Abs. 4 StrRehaG; § 121 Abs. 2 GVG

Die besondere Zuwendung für Haftopfer nach § 17a StrRehaG ist auch dann ab dem auf die Antragstellung an die zuständige Verwaltungsbehörde folgenden Monat auszuzahlen, wenn der Antrag gestellt wird, bevor eine rechtskräftige gerichtliche Rehabilitierungsentscheidung vorliegt. (BGHSt)


Entscheidung

1114. BGH 4 StR 408/10 - Beschluss vom 20. September 2010 (LG Saarbrücken)

BGHR; Umfang des Verbrauchs der Strafklage (wiederholte Verwirklichung des Tatbestandes der Geldfälschung; entgegenstehende Rechtskraft; Inverkehrbringen); Strafzumessung bei Anstiftung zur Tat im Gegensatz zur Mittäterschaft.

Art. 103 Abs. 3 GG; § 146 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB; § 206a StPO; § 410 Abs. 3 StPO; § 26 StGB; § 46 StGB

1. Zum Umfang des Verbrauchs der Strafklage in Fällen der wiederholten Verwirklichung des Tatbestandes der Geldfälschung. (BGHR)

2. Ist der Angeklagte bereits wegen des Inverkehrbringens von Falschgeld hinsichtlich einer von ihm erlangten Falschgeldmenge rechtskräftig verurteilt, kann er infolge Art. 103 Abs. 3 GG nicht wegen eines erneuten Inverkehrbringens einer weiteren Teilmenge des erlangten Falschgeldes verurteilt werden. Stiftet er jedoch einen anderen zum Inverkehrbringen an, liegt kein Strafklageverbrauch vor. (Bearbeiter)

3. Die Tatbestandsvariante des Inverkehrbringens kann auch durch die Hingabe von Falschgeld als Sicherheit erfüllt werden. (Bearbeiter)

4. Mittäter nach § 146 Abs. 1 Nr. 3 StGB kann nur sein, wer bereits Mittäter des Delikts nach § 146 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StGB war. (Bearbeiter)


Entscheidung

1066. BGH 1 StR 520/10 – Beschluss vom 3. November 2010 (LG Landshut)

BGHSt; Beweiswert einer kombinierten Analyse von Kern-DNA und mitochondrialer DNA (Beweiswürdigung).

§ 261 StPO

1. Zum Beweiswert einer kombinierten Analyse von Kern-DNA und mitochondrialer DNA. (BGHSt)

2. Zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit bei einer mtDNA-Übereinstimmung darf auf die nach wissenschaftlichen Maßstäben geführte Innsbrucker Datenbank EMPOP zurückgegriffen werden. (Bearbeiter)

3. Untersuchungsergebnisse zu zwei unterschiedlichen am Tatort aufgefundenen Arten von Erbsubstanzen dürfen im Sinne der Produktregel als Faktoren miteinander kombiniert werden, so dass eine durch Multiplikation nochmals gesteigerte Wahrscheinlichkeit für die Täterschaft des Angeklagten sprechen kann. (Bearbeiter)


Entscheidung

1051. BGH 1 StR 373/10 – Beschluss vom 24. September 2010 (LG Mannheim)

BGHR; Spezialitätsgrundsatz bei Serienstraftaten (Europäischer Haftbefehl; Begriff der anderen Tat; Sachverhaltsschilderungen).

§ 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG; Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) - RB-EUHb

Zum Spezialitätsgrundsatz bei Serienstraftaten. (BGHR)


Entscheidung

1103. BGH 4 StR 285/10 – Urteil vom 28. Oktober 2010 (LG Arnsberg)

Beweiswürdigung (Grenzen der Revisibilität; kein Beweis des ersten Anscheins; keine in jeder Hinsicht erschöpfende Beweiswürdigung; Anforderungen an einen Freispruch); Körperverletzung mit Todesfolge.

§ 261 StPO; § 227 StGB

1. Eine Beweiswürdigung kann ihrer Natur nach nicht in dem Sinne erschöpfend sein, dass alle irgendwie denkbaren Gesichtspunkte und Würdigungsvarianten in den Urteilsgründen ausdrücklich abgehandelt werden. Dies ist von Rechts wegen nicht zu verlangen. Aus einzelnen denkbaren oder tatsächlichen Lücken in der ausdrücklichen Erörterung kann nicht abgeleitet werden, der Tatrichter habe nach den sonstigen Urteilsfeststellungen auf der Hand liegende Wertungsgesichtspunkte nicht bedacht (BGH, Urteil vom 23. Juni 2010 – 2 StR 35/10).

2. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn der Tatrichter einen Angeklagten freispricht, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (BGHSt 21, 149, 151). Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (BGHSt 29, 18, 20). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.).

3. Bei einem Freispruch unterliegt der Überprüfung auch, ob der Tatrichter überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat. Schließlich kann ein Rechtsfehler in einem solchen Fall auch darin liegen, dass das Tatgericht nach den Feststellungen nicht nahe liegende Schlussfolgerungen gezogen hat, ohne tragfähige Gründe anzuführen, die dieses Ergebnis stützen können. Denn es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten eines Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte vorhanden sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH NStZ 2008, 575 m.w.N.). Erkennt der Tatrichter auf Freispruch, obwohl nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten ein ganz erheblicher Tatverdacht besteht, muss er in seine Beweiswürdigung und deren Darlegung die ersichtlich möglicherweise wesentlichen gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Erwägungen einbeziehen und in einer Gesamtwürdigung betrachten (BGHSt 25, 285, 286).


Entscheidung

1064. BGH 1 StR 500/10 - Beschluss vom 3. November 2010 (LG Kempten)

Unbegründetes Befangenheitsgesuch (Ablehnungsverfahren; rechtliches Gehör: Überraschungsurteil; Spannungen zwischen Gericht und Verteidiger [„sich aufmandelnder Verteidiger“]; Aushändigung und Kopie einer eingeschränkten Aussagegenehmigung); Verhandlungsleitung und Sachlichkeitsgebot.

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 24 StPO; § 26a StPO; § 26 StPO; § 238 StPO; § 43a BRAO

1. Das Gesetz sieht für das Verfahren zur Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch lediglich die Herbeiführung einer dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters vor (§ 26 Abs. 3 StPO), die zur Gewährung des rechtlichen Gehörs dem Antragsteller mitzuteilen ist. Eine förmliche Beweisaufnahme über das Ablehnungsvorbringen findet hingegen nicht statt. Es ist vielmehr dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts überlassen, mit welchen Mitteln es sich Kenntnis von dem Bestehen oder Nichtbestehen der maßgeblichen Tatsachen verschaffen will. Haben sich die Tatsachen vor demselben Gericht ereignet, so kann dieses auf Grund eigener Wahrnehmungen ohne weiteres die Entscheidung treffen.

2. Das Gericht kann daher bei der Ablehnung eines Befangenheitsgesuchs auch – ohne dem Verteidiger zuvor rechtliches Gehör zu gewähren – berücksichtigen, dass das Verhalten des Verteidigers bisher dadurch gekennzeichnet war, dass er mit der Verhandlungsführung des Vorsitzenden nicht einverstanden war, diesem mehrfach ins Wort fiel und sich gegenüber der Staatsanwältin an einem anderen Verhandlungstag unsachlich äußerte.

3. Dies gilt hinsichtlich des Instanzverteidigers, der die Hauptverhandlung selbst miterlebte, weil es ihn nicht überraschen konnte, dass das Tatgericht sein Auftreten bei der Bescheidung des Ablehnungsgesuchs berücksichtigte. Dies gilt aber auch für eine Verfahrensrüge, die ein anderer Verteidiger in der Revision erhebt. Der Revisionsverteidiger ist verpflichtet, sich bei seinem – insoweit auskunftspflichtigen – Kollegen über alle wesentlichen Vorgänge in der Hauptverhandlung zu erkundigen, um die Revision ordnungsgemäß begründen zu können.

4. Ein Verteidiger hat grundsätzlich keinen Anspruch auf Übergabe von Kopien der Ermittlungs- und Gerichtsakten. Er kann sie sich bei Akteneinsichtnahme selbst fertigen. Gleichwohl wird sinnvoller Weise häufig anders verfahren, wenn dies aus Gründen der Fairness, der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung angezeigt erscheint.

5. Einzelfall, in dem die Verwendung des Begriffs „aufmandeln“ seitens eines Strafkammervorsitzenden gegenüber dem Verteidiger des Angeklagten den Eindruck der Befangenheit nicht zu begründen vermochte. „Mandeln Sie sich nicht so auf“ beinhaltet zwar eine gewisse Kritik (etwa: spielen Sie sich doch nicht so auf). Gerade durch die Verwendung der lokalen Sprachform wird dem Vorwurf aber die Schärfe genommen.


Entscheidung

1038. BGH 3 StR 226/10 - Beschluss vom 19. August 2010 (LG Osnabrück)

Deal; Verständigung; Belehrung des Angeklagten über Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung (rechtsfehlerhaftes Unterlassen; Bindung des Gerichts; kein Verwertungsverbot für ein Geständnis); Dokumentation einer dem Urteil vorangehenden Verständigung in den Urteilsgründen; Beruhen.

§ 257c StPO; § 337 StPO; § 267 Abs. 3 StPO

1. Ein Urteil beruht auf einem Rechtsfehler, wenn es möglich erscheint oder nicht auszuschließen ist, dass es ohne den Rechtsfehler anders ausgefallen wäre. An dem Beruhen fehlt es nur, wenn die Möglichkeit, dass der Verstoß das Urteil beeinflusst hat, ausgeschlossen oder rein theoretisch ist.

2. Die Entscheidung über das Beruhen eines Urteils auf einem Rechtsfehler hängt insbesondere bei Verstößen gegen das Verfahrensrecht stark von den Umständen des Einzelfalls ab. Unterlässt das Gericht rechtsfehlerhaft die Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO, so kommt es darauf an, ob das Geständnis hiervon beeinflusst ist, ob also der Angeklagte das Geständnis nicht oder mit anderem Inhalt abgegeben hätte, wenn er vom Vorsitzenden über die Möglichkeit des Gerichts, sich unter bestimmten Voraussetzungen von der Verständigung zu lösen, und über die sich daraus ergebenden Folgen aufgeklärt worden wäre.

3. Die Überzeugungsbildung des Gerichts wird bei Urteilen nach Verständigung in aller Regel maßgeblich auf dem Geständnis des Angeklagten aufbauen.

4. Dass ein Angeklagter nicht mit einer Strafe aus dem zugesicherten Strafrahmen rechnen kann, wenn er den Tatvorwurf nicht erwartungsgemäß gesteht, ist so selbstverständlich, dass eine fehlende Belehrung darüber das Aussageverhalten des Angeklagten regelmäßig nicht zu beeinflussen vermag.

5. Ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht des § 257c Abs. 5 StPO führt nicht zu einem Verwertungsverbot hinsichtlich des nach dem Zustandekommen der Verständigung abgegebenen Geständnisses, da das Gesetz diese Wirkung allein an das Scheitern der Verständigung knüpft (§ 257c Abs. 4 StPO). Dementsprechend bleibt das Gericht jedoch trotz Verstoßes gegen § 257c Abs. 5 StPO an die Verständigung gebunden.

6. Es wird regelmäßig fernliegen, dass ein Urteil auf dem rechtsfehlerhaften (vgl. § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO) Unterlassen beruht, in den Urteilsgründen zu dokumentieren, dass dem Urteil eine Verständigung vorangegangen ist. Denn ob die schriftlichen Urteilsgründe diesen Hinweis enthalten, hängt von der richterlichen Sorgfalt bei deren Absetzung ab, die der Urteilsberatung und -verkündung zeitlich nachfolgt. Ausgeschlossen ist ein Beruhen des Urteils auf diesem Rechtsfehler jedoch nicht.


Entscheidung

1039. BGH 3 StR 287/10 - Beschluss vom 5. Oktober 2010 (LG Hannover)

Gespräche mit Verfahrensbeteiligten außerhalb der Hauptverhandlung (Verständigung; Besorgnis der Befangenheit; Recht auf ein faires Strafverfahren).

Art. 6 EMRK; § 257c StPO; § 24 StPO; Art. 20 Abs. 3 GG; § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO

1. Zwar ist es einem Richter auch nach den Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren grundsätzlich nicht verwehrt, zur Förderung des Verfahrens mit den Verfahrensbeteiligten auch außerhalb der Hauptverhandlung Kontakt aufzunehmen. Dabei hat er jedoch die gebotene Zurückhaltung zu wahren, um jeden Anschein der Parteilichkeit zu vermeiden.

Dies gilt mit Blick auf einen möglichen Interessenkonflikt in besonderem Maße, wenn Gespräche mit einem Angeklagten unter Ausschluss eines vom selben Tatkomplex betroffenen Mitangeklagten geführt werden, der von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht oder die Tatvorwürfe bestreitet.

2. Haben solche Gespräche stattgefunden, so muss der Vorsitzende auch bei einem ergebnislosen Verlauf und unabhängig davon, ob neue Aspekte im Sinne des § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO zur Sprache gekommen sind, hierüber in der Hauptverhandlung umfassend und unverzüglich unter Darlegung der Standpunkte aller beim Gespräch anwesenden Verfahrensbeteiligten informieren. Nur auf diese Weise kann von vorneherein jedem Anschein der Heimlichkeit und der hieraus entstehenden Besorgnis der Befangenheit vorgebeugt und dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren Rechnung getragen werden.


Entscheidung

1006. BGH 3 StR 226/10 - Beschluss vom 19. August 2010 (LG Osnabrück)

Urteilsgründe bei einer Verständigung (Mindestmaß an Sorgfalt; Angabe im Urteil; erforderliche Feststellungen; keine Heilung über die Anklageschrift; Einrücken); unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (eigennütziges Bemühen um ein eigenes Umsatzgeschäft); Revisionserstreckung auf Mitangeklagte.

§ 357 StPO; § 267 StPO; § 29a BtMG

1. Dass der Angeklagte seine Taten eingeräumt hat und dem Urteil eine Verständigung vorausgegangenen ist, ersetzt die erforderlichen Feststellungen nicht. Allein die Bereitschaft eines Angeklagten, wegen eines bestimmten Sachverhalts eine Strafe hinzunehmen, die das gerichtlich zugesagte Höchstmaß nicht überschreitet, entbindet das Gericht nicht von der Pflicht zur Aufklärung und Darlegung des Sachverhalts, soweit dies für den Tatbestand der dem Angeklagten vorgeworfenen Gesetzesverletzung erforderlich ist (BGH StV 2010, 60). Auch in einem solchen Fall bedarf es eines Mindestmaßes an Sorgfalt bei der Abfassung der Urteilsgründe (BGH, Beschluss vom 23. Juni 2010 - 2 StR 222/10).

2. Das Revisionsgericht ist nicht berechtigt, die im Urteil fehlenden Feststellungen unter Rückgriff auf die Anklageschrift oder die übrigen Aktenbestandteile zu ergänzen. Das gilt auch, wenn die Feststellungen durch „Einrücken“ eines Teils des Anklagesatzes in die Urteilsgründe aufgenommen worden sind. Eine solche Verfahrensweise des „Einrückens“ birgt die Gefahr, auf die richterliche Prüfung zu verzichten, ob die den objektiven und subjektiven Tatbestand erfüllenden Tatsachen in der Hauptverhandlung vollständig festgestellt worden sind. Sie gefährdet den Bestand des Urteils jedenfalls dann, wenn dem Anklagesatz nicht alle diese Tatsachen zu entnehmen sind oder wenn die Anklage nicht vollständig „eingerückt“ wird.


Entscheidung

1049. BGH 1 StR 359/10 - Beschluss vom 11. Oktober 2010 (LG München I)

Gewerbsmäßige Untreue; Verständigung (Angabe einer Strafuntergrenze; Protokollrüge); Voraussetzungen des Täter-Opfer-Ausgleichs; Strafzumessung und Wiedergutmachung (Schuldanerkenntnis).

§ 266 Abs. 1, 2 StGB; § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB; § 46a StGB; § 46 StGB; § 257c StPO

1. Der Senat neigt zu der Auffassung, dass bei Mitteilung eines möglichen Verfahrensergebnisses (§ 257c Abs. 3 Satz 2 StPO) stets ein Strafrahmen, also Strafober- und Strafuntergrenze, anzugeben ist (vgl. näher BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2010 - 1 StR 347/10 mwN).

2. Mit dem Hinweis, das Hauptverhandlungsprotokoll ergebe entgegen § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO nicht, ob eine Verständigung zustande gekommen sei, ist nicht prozessordnungswidriges Geschehen behauptet, sondern nur, dass das Protokoll nicht den Anforderungen des § 273 Abs. 1a StPO genüge. Eine „Protokollrüge“ ist unbehelflich, ein Urteil kann nicht auf dem Protokoll beruhen.

3. Ein nicht am tatsächlichen Schaden, sondern am Ermittlungsstand orientiertes und auch sonst zumindest sehr zögerliches Verhalten legt schon im Ansatz eine fakultative Strafrahmenmilderung gemäß § 46a StGB nicht ohne weiteres nahe. Allein ein Schuldanerkenntnis oder gar dessen bloße Ankündigung können keine Grundlage eines Täter-Opfer-Ausgleichs in der Alternative des § 46a Nr. 2 StGB sein.

4. Auch wenn die Voraussetzungen von § 46a StGB fehlen, kann eine auf Zwangsvollstreckung beruhende Schadensbeseitigung oder (hier) -verringerung im Blick auf den letztlichen Erfolgsunwert der Tat für die Strafzumessung Bedeutung gewinnen. Auch ein Schuldanerkenntnis, oder – soweit als glaubhaft bewertet – die Ankündigung künftigen Verhaltens kann bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.


Entscheidung

1036. BGH StB 38/09 - Beschluss vom 22. September 2009 (Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs)

Nachträglicher Rechtsschutz gegen Überwachung der Telekommunikation; Umfang der erforderlichen Akteneinsicht (angefochtene Entscheidungen in ungekürzter Form; Grundlagen der angefochtenen Entscheidung); rechtliches Gehör; in-camera-Verfahren.

§ 478 Abs. 1 StPO; § 120 Abs. 1 Nr. 6 GVG; § 101 Abs. 7 StPO; Art. 103 Abs. 1 GG; § 475 StPO; § 100a StPO

1. Im Rechtsbehelfsverfahren nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO richtet sich der Umfang des Akteneinsichtsrechts einer Person, die nicht am Ermittlungs- bzw. Strafverfahren im engeren Sinn beteiligt, sondern zufällig als Gesprächspartner von der heimlichen Überwachung der Telekommunikation betroffen ist, im Grundsatz nach §§ 475 ff. StPO mit der Einschränkung, dass bei Anwendung dieser Vorschriften in geeigneter Weise dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) Rechnung zu tragen ist. Deshalb hat sie das Recht, bevor eine Entscheidung in diesem Verfahren ergeht, Auskunft aus den Ermittlungsakten zu erhalten bzw. diese einzusehen, soweit dies für die konkrete Rechtsverfolgung unerlässlich ist. Ihrem Rechtsanwalt sind deshalb auf Antrag neben den vollständigen, ungekürzten Anordnungsbeschlüssen des Richters diejenigen Aktenteile und Beweismittel zur Verfügung zu stellen, auf die sich die zu

überprüfende Entscheidung stützt und die die Anordnungsvoraussetzungen belegen, insbesondere den Anfangsverdacht einer Straftat aus dem Katalog des § 100a StPO begründen.

2. Des Weiteren müssen ihr, soweit sich der Antrag auch gegen die Rechtmäßigkeit des Vollzugs der Maßnahmen richtet, die Aktenbestandteile zur Verfügung gestellt werden, aus denen sich Art und Weise ihrer Durchführung ersehen lassen. Außerdem müssen ihr die sie betreffenden Erkenntnisse aus der heimlichen Ermittlungsmaßnahme und etwaige Verschriftungen von Tonaufnahmen oder Zusammenfassungen dieser Erkenntnisse zugänglich gemacht werden.

3. Soweit im Einzelfall das öffentliche Interesse, die bisherigen Ermittlungsergebnisse ganz oder zum Teil geheim zu halten, um die Aufklärung von Straftaten nicht zu gefährden, einer Akteneinsicht entgegensteht, ist die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der heimlichen Ermittlungsmaßnahme solange zurückzustellen, bis das Geheimhaltungsinteresse entfallen ist und deshalb Akteneinsicht gewährt werden kann. Ein „in camera“-Verfahren, in dem das zur Entscheidung berufene Gericht von entscheidungserheblichen Tatsachen oder Beweismitteln Kenntnis erlangen würde, zu denen sich der Antragsteller nicht äußern konnte, ist im Strafprozess auch zu § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO mit Art. 103 Abs. 1 GG unvereinbar.


Entscheidung

1080. BGH 2 StR 354/10 - Beschluss vom 6. Oktober 2010 (LG Gießen)

Rechtsfolgen einer informellen Vereinbarung über mögliche Rechtsfolgen (Verfahrensabsprache; Deal; Vertrauensschutz; Würde des Gerichts); Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen nach dem Vollstreckungsmodell.

Art. 6 EMRK; Art. 13 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 257c StPO

1. Aus einer informellen Vereinbarung über mögliche Rechtsfolgen kann weder eine Bindung gemäß § 257c StPO noch ein durch das fair-trial-Gebot geschützter Vertrauenstatbestand entstehen.

2. Es ist zweifelhaft, ob durch die Beteiligung an einer solchen, § 257c StPO widersprechenden Absprache überhaupt ein Vertrauenstatbestand geschaffen werden könnte. Das gilt erst recht für „Angebote“ und Absprachen, welche sich auf Zusagen beziehen, die nach § 257c Abs. 2 schon ihrer Art nach gar nicht Gegenstand von Absprachen sein dürfen wie zum Beispiel einer „Halbstrafenaussetzung“ gemäß § 57 Abs. 2 StGB oder deren Befürwortung oder Beantragung.

3. Die Vorlage – gegebenenfalls mehrfach – „nachgebesserter Angebote“ von Seiten des Gerichts zur Erlangung von verfahrensabkürzenden Geständnissen ist regelmäßig nicht tunlich. Erfolgen solche Angebote in der Weise, dass ein immer günstigerer Verfahrensausgang angeboten wird, je länger Beschuldigte früheren Angeboten „nicht näher treten“, so führt dies sowohl in der Darstellung gegenüber den Verfahrensbeteiligten als auch in der öffentlichen Wahrnehmung leicht zu einem Eindruck eines „Aushandelns“ des staatlichen Strafausspruchs, das mit der Würde des Gerichts kaum vereinbar ist.


Entscheidung

1010. BGH 3 StR 370/10 - Beschluss vom 5. Oktober 2010 (LG Düsseldorf)

Beweiswürdigung und Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung (unzulässige Verwertung zulässigen Verteidigungsverhaltens); Teilschweigen; Nichtentbindung eines Verteidigers von der Schweigepflicht.

Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; § 261 StPO; § 136 StPO

1. Die Weigerung des Angeklagten, einen früheren Verteidiger von der Schweigepflicht zu entbinden, dessen frühere Stellungnahme im Verfahren sich der Angeklagte nicht im Rahmen seiner Einlassung zu eigen gemacht hat und auf den er auch nicht zu seiner Entlastung Bezug genommen hat, darf nicht zulasten des Angeklagten gewertet werden.

2. Schweigt ein Angeklagter nicht umfassend, sondern macht er zu einem bestimmten Sachverhalt eines einheitlichen Geschehens Angaben zur Sache und unterlässt insoweit lediglich die Beantwortung bestimmter Fragen, so kann dieses Schweigen (sog. Teilschweigen) nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von indizieller Bedeutung sein (BGHSt 38, 302, 307). Diese Grundsätze über die Verwertbarkeit des Teilschweigens können aber nicht unbeschränkt auf die Bewertung des sonstigen prozessualen Verhaltens eines Angeklagten, der sich zur Sache einlässt, übertragen werden. Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19. Januar 2000 (BGHSt 45, 367, 369) dürfen nachteilige Schlüsse aus der Wahrnehmung prozessualer Rechte durch einen Angeklagten jedenfalls dann nicht gezogen werden, wenn dieses Prozessverhalten nicht in einem engen und einem einer isolierten Bewertung unzugänglichen Sachzusammenhang mit dem Inhalt seiner Einlassung steht.

3. Handelt es sich bei dem Beweisthema, hinsichtlich dessen der ehemalige Verteidiger von seiner Schweigepflicht entbunden werden sollte, um ein vertrauliches, potentiell tatrelevantes Gespräch zwischen Angeklagtem und Verteidiger betraf, verstößt die nachteilige Wertung der Weigerung des Angeklagten, seinen Verteidiger von der Schweigepflicht zu entbinden, auch gegen das durch Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK und das Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich verbürgte Recht des Angeklagten auf Beiziehung eines Verteidigers (BGHSt 45, 367, 370).


Entscheidung

1115. BGH 4 StR 412/10 - Beschluss vom 5. Oktober 2010 (LG Halle)

Verfahrenshindernis der Spezialität (Auslieferungsbewilligung; Schweiz; Beachtung auf die Sachrüge).

§ 206a StPO; § 260 Abs. 3 StPO; Art. 38 Abs. 1 a des schweizerischen Rechtshilfegesetzes

1. Das aus der Spezialitätsbindung folgende Verfahrenshindernis ist auf die Sachrüge hin von Amts wegen zu beachten (BGHSt 19, 118, 119).

2. Die auslieferungsrechtliche Spezialität hindert im Verhältnis zur Schweiz grundsätzlich nicht, dass ein und dieselbe verfolgbare Tat unter einem anderen oder zu-

sätzlichen (auslieferungsfähigen) rechtlichen Gesichtspunkt gewertet wird, als die ausländischen Behörden nach ihren Rechtsvorstellungen bei der Auslieferung zugrunde gelegt haben (vgl. BGHR StPO vor § 1/Verfahrenshindernis Spezialität 3). Art. 38 Abs. 1 a des schweizerischen Rechtshilfegesetzes stellt für den Umfang der Auslieferungsbewilligung auf die „Handlung“ ab.


Entscheidung

1106. BGH 4 StR 307/10 - Beschluss vom 28. September 2010 (LG Bochum)

Erforderliche Feststellungen in den Urteilsgründen (geschlossene Darstellung; gesetzliche Merkmale der Straftat); versuchte Nötigung; Betrug; Nachstellung (Kausalität; Doppelverwertungsverbot).

§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 240 StGB; § 22 StGB; § 263 StGB; § 238 StGB; § 46 Abs. 3 StGB

1. Gemäß § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Das bedeutet, dass der festgestellte Sachverhalt – in einem geschlossenen Abschnitt – so darzustellen ist, wie er sich nach Überzeugung des Gerichts abgespielt hat; zum inneren und äußeren Tatgeschehen sind Tatsachen mitzuteilen, so dass dem Revisionsgericht die Überprüfung der rechtlichen Würdigung ermöglicht wird (BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Sachdarstellung 1; Beschluss vom 23. Juni 1993 - 5 StR 326/93).

2. Die bloße Benennung gesetzlicher Merkmale kann die Darlegung der zugrunde liegenden Tatsachen zum äußeren und inneren Tatgeschehen jedoch nicht ersetzen. Die gebotene rechtliche Überprüfung im Revisionsverfahren ist dem Senat so nicht möglich.

3. Die Beeinträchtigung der Lebensgestaltung muss bei § 238 StGB kausal durch die jeweilige Nachstellungshandlung herbeigeführt werden. Lediglich bei § 238 Abs. 1 Nr. 2 StGB reicht auch der Versuch der Kontaktaufnahme (mit Telekommunikationsmitteln) aus.

4. Bereits der objektive Tatbestand der Nachstellung setzt gravierende und ernstzunehmende Folgen für das Opfer voraus, die über durchschnittliche, regelmäßig hinzunehmende Beeinträchtigungen der Lebensgestaltung erheblich und objektivierbar hinausgehen (vgl. BGH NJW 2010, 1680, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt). Der straferschwerenden Berücksichtigung dieses Umstandes sind daher schon im Hinblick auf § 46 Abs. 3 StGB Grenzen gesetzt.


Entscheidung

1050. BGH 1 StR 369/10 - Beschluss vom 25. Oktober 2010 (LG Konstanz)

Beweiswürdigung beim Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Aussage gegen Aussage; mangelnde Aussagekonstanz; Begründungsbedarf).

§ 261 StPO; § 174 StGB

Der Tatrichter muss sich in der Fallkonstellation, in der „Aussage gegen Aussage“ steht, bewusst sein, dass er die Angaben der einzigen Belastungszeugin, die nicht durch zusätzliche Indizien belegt sind, einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen hat. Eine lückenlose Gesamtwürdigung der Indizien ist dann von besonderer Bedeutung (vgl. BGHR StPO § 261 Indizien 1, 2; BGH StV 1996, 582; 1997, 513; NStZ-RR 1998, 15). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 13; § 267 Abs. 1 Satz 1 Beweisergebnis 8; BGH StV 1995, 6, 7; 1997, 513). Dies gilt besonders, wenn die einzige Belastungszeugin in der Hauptverhandlung ihre Vorwürfe ganz (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1997 - 2 StR 591/97) oder teilweise nicht mehr aufrechterhält, der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird (vgl. BGH NStZ 1996, 294; NJW 1996, 206) oder sich sogar die Unwahrheit eines Aussageteils herausstellt. Der Tatrichter muss dann jedenfalls regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben.


Entscheidung

1057. BGH 1 StR 449/10 - Beschluss vom 3. November 2010 (LG Augsburg)

Aufklärungspflicht und Verständigung (unterbliebene Belehrung über die Rechtsfolgen der Verständigung; Vertrauensschutz; Aufklärungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten nach Abschluss einer Verständigung).

Art. 6 EMRK; § 257c Abs. 4, Abs. 5 StPO; § 244 Abs. 2 StPO

1. Eine Vereinbarung gemäß § 257c StPO lässt die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) unberührt, § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO. In diesem Sinne ist eine Überprüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten durch Anhörung eines Sachverständigen auch nach einer Verständigung unproblematisch, selbst wenn dem Angeklagten in früheren Urteilen bereits eine verminderte Schuldfähigkeit tatbezogen zugebilligt wurde. Es ist nicht ersichtlich, warum ein Angeklagter gehindert sein könnte, auf das Ergebnis einer Beweisaufnahme einzuwirken, die das Gericht trotz einer vorangegangenen, nicht etwa unzulässig auf eine „Punktstrafe“ gerichteten (vgl. BGHSt 51, 84, 86 mwN) Verständigung durchführt, also offenbar als für das Urteil bedeutsam ansieht.

2. Ob ein Urteil auch abseits der von § 257c Abs. 4 StPO erfassten Fallgestaltungen auf einer entgegen § 257c Abs. 5 StPO unterbliebenen Belehrung beruhen kann, bleibt offen.


Entscheidung

1048. BGH 1 StR 347/10 - Beschluss vom 8. Oktober 2010 (LG Regensburg)

Mangelnde Belehrung über Rechtsfolgen der Verständigung (Beruhen); gebotene Angabe einer Strafuntergrenze (mangelnde Beschwer des Angeklagten; Beschwer der Staatsanwaltschaft).

§ 257c Abs. 3 Satz 2, Abs. 4, Abs. 5 StPO; § 337 StPO

1. Die Vereinbarung einer bestimmten Strafe (sog. Punktstrafe) bleibt nach der gesetzlichen Neuregelung des Verständigungsverfahrens nach wie vor unzulässig. Es sprechen gewichtige Gründe dafür, dass das Gericht zudem gemäß § 257 Abs. 3 Satz 2 StPO nach fallbezogener Verengung des gesetzlichen Strafrahmens stets einen

konkreten Rahmen für die schuldangemessene Strafe, bestehend aus einer Strafober- und einer Strafuntergrenze, anzugeben hat.

2. Die Benennung einer Strafuntergrenze trägt vordringlich den Interessen der Staatsanwaltschaft Rechnung, deren Zustimmung für das Zustandekommen einer Verständigung im Unterschied zu der Rechtslage vor dem Inkrafttreten des § 257c StPO nunmehr unerlässlich ist. Fehlt es an der Angabe einer Strafuntergrenze durch das Gericht, kann dies in der Regel nur von der Staatsanwaltschaft im Rahmen einer Revision zum Nachteil des Angeklagten beanstandet werden. Eine Ausnahme davon ist jedenfalls dann nicht angezeigt, wenn weder Anhaltspunkte dafür ersichtlich noch vorgetragen sind, dass der Angeklagte im Fall der Angabe einer Strafuntergrenze durch das Gericht der Verständigung nicht zugestimmt hätte.


Entscheidung

1065. BGH 1 StR 510/10 - Beschluss vom 19. Oktober 2010 (LG Mannheim)

Unzulässiger Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Darlegung des Hindernisses bei einer Verfahrensabsprache; Verteidigerverschulden; Glaubhaftmachung); Recht auf ein faires Verfahren (effektive Verteidigung; Vertrauensschutz).

§ 44 StPO; § 257c StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG

Beruft sich der Angeklagte darauf, dass sein früherer Verteidiger aus ihm unbekannten Gründen keine Revision eingelegt habe, obwohl er ihn ausdrücklich darum gebeten habe, so genügt dies für den Vortrag eines Hindernisses nicht, wenn nicht zugleich behauptet wird, dass der Verteidiger die Einlegung des Rechtsmittels auch zugesagt habe. Auf entsprechende Darlegungen kann jedenfalls dann nicht verzichtet werden, wenn das Urteil auf einer Verständigung mit den Verfahrensbeteiligten beruht.


Entscheidung

1042. BGH 5 StR 319/10 - Urteil vom 27. Oktober 2010 (LG Berlin)

Überzeugungsbildung; Beweiswürdigung (lebensfremde Feststellungen; Grenzen der Revisibilität); Darlegungspflicht zum Vorleben des Angeklagten); Aufgabenverteilung zwischen Tatgericht und Revisionsgericht.

§ 261 StPO; § 267 Abs. 5 StPO; § 337 StPO

1. Nach der durch §§ 261 und 337 StPO vorgegebenen Aufgabenverteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht kommt es nicht darauf an, ob das Revisionsgericht – hätte es eine eigene Beweiswürdigung vorzunehmen - angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Daran ändert sich nicht einmal dann etwas, wenn eine vom Tatrichter getroffene Feststellung lebensfremd erscheinen mag.

2. Dem Revisionsgericht ist es verwehrt, einen vom Tatrichter im Rahmen der Beweiswürdigung hergestellten Zusammenhang von bewusst unwahrer Aussage im Randbereich und Qualitätsmängeln im Kernbereich der Aussage eines Zeugen in Frage zu stellen. Diesen Zusammenhang zu bewerten, gehört zum Kern tatrichterlicher Beweiswürdigung.


Entscheidung

1033. BGH 3 StR 562/08 - Beschluss vom 30. Juli 2009 (LG Krefeld)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Bande); Anwesenheit des Angeklagten; Beurlaubung (Verhandlung gegen mehrere Mitglieder einer Bande).

§ 231c StPO; § 230 Abs. 1 StPO; § 338 Nr. 5 StPO; § 29a BtMG; § 30a BtMG

Der Bundesgerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass von der Möglichkeit der Beurlaubung nach § 231c StPO nur äußerst vorsichtig Gebrauch gemacht werden sollte, weil diese Verfahrensmaßnahme leicht einen absoluten Revisionsgrund schaffen kann (BGH bei Holtz MDR 1979, 807; bei Miebach NStZ 1989, 219; BGHR StPO § 231c Betroffensein 1; BGH NStZ 1981, 111). Dem Senat erscheint es ausgeschlossen, von § 231c StPO im Rahmen eines Strafverfahrens Gebrauch zu machen, das sich gegen mehrere Angeklagte wegen bandenmäßiger Begehung von Straftaten richtet.


Entscheidung

1111. BGH 4 StR 388/10 - Beschluss vom 28. Oktober 2010 (LG Hagen)

Wirksame Revisionsrücknahme (Ermächtigung des Verteidigers: Nachweis; Verhandlungsfähigkeit).

§ 302 StPO

Eine bestimmte Form ist für die Ermächtigung zur Rücknahme der Revision nicht vorgeschrieben. Für den Nachweis der Ermächtigung, der noch nach Abgabe der Erklärung geführt werden kann, genügt die anwaltliche Versicherung des Verteidigers.


Entscheidung

1023. BGH 3 StR 350/09 - Beschluss vom 24. September 2009 (LG Kiel)

Entschädigung für erlittene Untersuchungshaft (grob fahrlässig verursachte Maßnahmen; dringender Tatverdacht).

§ 8 Abs. 3 Satz 2 StrEG, § 464 Abs. 3 Satz 3 StPO; § 5 Abs. 2 StrEG

1. Der Anspruch auf Entschädigung für erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen entfällt nur, wenn der Beschuldigte sie durch die Tat oder durch sein Prozessverhalten herausgefordert hat. Dazu muss er in ungewöhnlichem Maße die Sorgfalt außer Acht gelassen haben, die ein verständiger Mensch in gleicher Lage anwenden würde, um sich vor Schaden durch die Strafverfolgungsmaßnahme zu schützen.

2. Zum Ausschluss der Entschädigung für eine freiheitsentziehende Maßnahme genügt es nicht, dass der Beschuldigte sich irgendwie verdächtig gemacht hat, vielmehr muss er durch eigenes Verhalten einen wesentlichen Ursachenbeitrag zur Begründung des dringenden Tatverdachts geleistet haben.

3. Beim Ausspruch von Entschädigung für freiheitsentziehende Maßnahmen ist auch deren Zeitraum zu bezeichnen.