hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 1050

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 369/10, Beschluss v. 25.10.2010, HRRS 2010 Nr. 1050


BGH 1 StR 369/10 - Beschluss vom 25. Oktober 2010 (LG Konstanz)

Beweiswürdigung beim Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Aussage gegen Aussage; mangelnde Aussagekonstanz; Begründungsbedarf).

§ 261 StPO; § 174 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

Der Tatrichter muss sich in der Fallkonstellation, in der "Aussage gegen Aussage" steht, bewusst sein, dass er die Angaben der einzigen Belastungszeugin, die nicht durch zusätzliche Indizien belegt sind, einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen hat. Eine lückenlose Gesamtwürdigung der Indizien ist dann von besonderer Bedeutung (vgl. BGHR StPO § 261 Indizien 1, 2; BGH StV 1996, 582; 1997, 513; NStZ-RR 1998, 15). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 13; § 267 Abs. 1 Satz 1 Beweisergebnis 8; BGH StV 1995, 6, 7; 1997, 513). Dies gilt besonders, wenn die einzige Belastungszeugin in der Hauptverhandlung ihre Vorwürfe ganz (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1997 - 2 StR 591/97) oder teilweise nicht mehr aufrechterhält, der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird (vgl. BGH NStZ 1996, 294; NJW 1996, 206) oder sich sogar die Unwahrheit eines Aussageteils herausstellt. Der Tatrichter muss dann jedenfalls regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 29. März 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen unter Einbeziehung einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen aus einem Strafbefehl des Amtsgerichts Villingen-Schwenningen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt sowie von einem weiteren Tatvorwurf freigesprochen. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten.

I.

Das Rechtsmittel hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Die Beweiswürdigung im angefochtenen Urteil unterliegt durchgreifenden Bedenken.

Der Tatrichter muss sich in der Fallkonstellation, in der "Aussage gegen Aussage" steht, bewusst sein, dass er die Angaben der einzigen Belastungszeugin, die nicht durch zusätzliche Indizien belegt sind, einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen hat. Eine lückenlose Gesamtwürdigung der Indizien ist dann von besonderer Bedeutung (vgl. BGHR StPO § 261 Indizien 1, 2; BGH StV 1996, 582; 1997, 513; NStZ-RR 1998, 15). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 13; § 267 Abs. 1 Satz 1 Beweisergebnis 8; BGH StV 1995, 6, 7; 1997, 513; BGH, Beschluss vom 5. November 1997 - 3 StR 558/97). Dies gilt besonders, wenn die einzige Belastungszeugin in der Hauptverhandlung ihre Vorwürfe ganz (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1997 - 2 StR 591/97) oder teilweise nicht mehr aufrechterhält, der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird (vgl. BGH NStZ 1996, 294; NJW 1996, 206; BGH, Beschluss vom 1. April 1998 - 3 StR 22/98) oder sich sogar die Unwahrheit eines Aussageteils herausstellt. Der Tatrichter muss dann jedenfalls regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben.

Dies war hier angezeigt vor dem Hintergrund des Umstandes, dass die Geschädigte bei ihrer Aussage in der Hauptverhandlung den Tatvorwurf, welchen sie bis dahin am detailliertesten geschildert hatte, nicht mehr aufrecht erhielt. Das angefochtene Urteil wird daher den genannten Anforderungen an die Beweiswürdigung nicht in vollem Umfang gerecht.

Die Geschädigte hatte nämlich neben drei Taten, welche in der damals von der Geschädigten und deren Mutter bewohnten Wohnung begangen worden seien und bei denen der Angeklagte die Geschädigte in zwei Fällen aufgefordert habe, ihn manuell zu befriedigen, detailliert einen Vorfall bei einer gemeinsamen Autofahrt im Pkw des Angeklagten geschildert, bei welcher sie diesen auf seine Aufforderung mit der Hand bis zum Samenerguss habe befriedigen müssen, wobei der Angeklagte das Ejakulat in der Folge mit einem Tempotaschentuch abgewischt habe. Diesen letztgenannten - im Vergleich zu den anderen angegebenen Taten eher außergewöhnlichen - Vorfall konnte die Geschädigte im Gegensatz zur polizeilichen Vernehmung trotz Vorhalts der damaligen Aussagen in der Hauptverhandlung nicht mehr bestätigen. Vielmehr gab sie an, sie habe lediglich den Bauch des Angeklagten streicheln müssen; mehr sei nicht passiert. In ihrer Beweiswürdigung geht die Strafkammer über diesen Umstand, ohne dafür tragfähige Gründe anzuführen oder sich damit auseinanderzusetzen, hinweg. Allein die Angabe, die Zeugin habe sich an diesen Vorfall nicht mehr erinnern können, reicht nicht hin, um in ausreichendem Umfang darzulegen, weshalb sie der Zeugin trotz dieser markanten "Erinnerungslücke" die weiteren Tatvorwürfe geglaubt hat, zumal die diesbezüglichen Schilderungen recht detailarm wiedergegeben werden.

Zwar stützt sich das Landgericht zusätzlich auch auf die Schilderungen der Mutter, welche zwar zu den Tatvorwürfen selbst nichts berichten konnte, jedoch ausgesagt hatte, dass sie bemerkt habe, dass ihre Tochter sich Ende 2008 den Arm geritzt hatte, und im Mai 2009 habe sie erneut Schnitte bemerkt. Allerdings setzt sich das Gericht dabei nicht damit auseinander, dass zu beiden Zeitpunkten die Beziehung der Mutter der Geschädigten zu dem Angeklagten längst beendet und auch eine räumliche Trennung herbeigeführt worden war und beide in einer neuen räumlichen Umgebung lebten.

II.

Die Gesamtwürdigung der Beweise, die für und gegen die Glaubhaftigkeit der Tatschilderungen der einzigen Belastungszeugen sprechen, erscheint daher insgesamt unvollständig und leidet unter Darstellungsmängeln. Die Sache bedarf deshalb neuer tatrichterlicher Prüfung.

HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 1050

Bearbeiter: Karsten Gaede