HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2010
11. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

106. BGH 1 StR 520/09 – Beschluss vom 24. November 2009 (LG Karlsruhe)

Hochradiger Affekt als Beeinträchtigung im Sinne des § 20 StGB; Beweisantrag auf Vernehmung eines Verteidigers zu Befundtatsachen für eine mögliche verminderte oder ausgeschlossene Schuldfähigkeit (Zulässigkeit; Aufklärungspflicht; Beruhen; Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung; Einschränkung des Verbots kumulativ herangezogener Ablehnungsgründe; Bedeutungslosigkeit); Ausnutzungsbewusstsein bei der Heimtücke.

§ 20 StGB; Art. 6 EMRK; § 244 Abs. 2, Abs. 3 StPO; § 337 StPO; § 211 StGB

1. Die Möglichkeit der Entbindung von einer Schweigepflicht zeigt ohne weiteres, dass ein Verteidiger grundsätzlich Zeuge sein kann, und zwar auch in dem Verfahren, in dem er den Angeklagten verteidigt. Der Senat neigt nicht zu der Auffassung, dass hiervon eine Ausnahme gilt, wenn sich die Aussage des Verteidigers auf den „Kernbereich“ der Verteidigung beziehen soll. Ein Angeklagter, der sich von einer solchen Aussage Wesentliches für seine Verteidigung verspricht, kann wirksam auf diesen Schutz verzichten, indem er den Verteidiger von seiner Schweigepflicht befreit.

2. Der Grundsatz, dass die Ablehnung eines Beweisantrags nicht auf mehrere, insbesondere sich gegenseitig ausschließende Gründe gestützt werden kann (BGH NStZ 2004, 51), ist nicht einschlägig, wenn ein Antrag auch schon aus formalen Gründen – hier: generelle Unzulässigkeit der Beweiserhebung sowie unzulänglicher Tatsachenvortrag – zurückgewiesen wurde. Die Informationsfunktion des Ablehnungsbeschlusses gemäß § 244 Abs. 6 StPO wird dann – anders als bei unterschiedlichen sachlichen Ablehnungsgründen – durch solche „gestuften“ Ablehnungsgründe nicht eingeschränkt, sondern erweitert.

3. Liegt ein in jeder Hinsicht zulässiger Beweisantrag vor, richtet sich seine Verbescheidung nicht nach der Aufklärungspflicht, sondern er kann nur nach Maßgabe von § 244 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 oder Abs. 5 StPO abgelehnt werden.


Entscheidung

99. BGH StB 28/09 – Beschluss vom 22. September 2009

Akteneinsicht in Ermittlungsakten des Generalbundesanwalts durch Drittbetroffenen einer heimlichen Ermittlungsmaßnahme; rechtliches Gehör; informationelle Selbstbestimmung; Verfahrensbeteiligter; militante gruppe; Beschwerde.

§ 475 StPO; § 101 StPO; § 147 StPO; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 1 GG

1. Personen, die an einem Ermittlungs- oder Strafverfahren beteiligt sind, in dem eine heimliche Ermittlungsmaßnahme angeordnet wurde, und die aufgrund ihrer Verfahrensstellung zur umfassenden Akteneinsicht berechtigt sind (§ 147, § 385 Abs. 3, § 397 Abs. 1 Satz 2, § 434 Abs. 1 Satz 2, § 442 Abs. 1, § 444 Abs. 2 Satz 2 StPO), können sich auf dieses Recht auch dann berufen, wenn sie die Akten nur zur Vorbereitung und Durchführung eines Verfahrens nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO einsehen möchten. An ihrer Stellung im Ermittlungs- bzw. Strafverfahren ändert sich durch die Inanspruchnahme der Rechtsschutzmöglichkeit nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO nichts.

2. Macht der Beschuldigte als (Dritt)Betroffener Akteneinsicht im nachträglichen Rechtsschutzverfahren nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO geltend, so sind ihm die Akten nach Maßgabe des § 147 StPO zur Verfügung zu stellen.

3. Das Verfahren nach § 475 StPO ist im Grundsatz auch auf Akteneinsichtsgesuche im Verfahren nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO anzuwenden, wenn die Antragsteller darüber hinausgehende Verfahrensrechte nicht innehaben. Denn die StPO stellt hiermit eine abschließende Regelung zur Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht an (Privat)Personen zur Verfügung, die weder als Beschuldigte noch in anderer Weise mit eigenen Verfahrens- und Akteneinsichtsrechten am Ermittlungs- bzw. Strafverfahren beteiligt sind.

4. Werden (Dritt)Betroffene ohne eigene verfahrensrechtliche Stellung gemäß § 101 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO benachrichtigt und über ihre Rechtsschutzmöglichkeit belehrt, so sind sie im Sinne des § 475 Abs. 1 Satz 1 StPO berechtigt, auf einen entsprechenden Antrag Auskunft zu erhalten oder Einsicht in die Ermittlungsakten zu nehmen, soweit sie von der Rechtsschutzmöglichkeit Gebrauch machen und die Aktenkenntnis für eine effektive Durchführung des Verfahrens erforderlich ist. Eine dauerhafte gänzliche oder teilweise Versagung der Einsicht in die insoweit relevanten Aktenteile kommt nicht in Betracht, da dies den Antragsteller im Verfahren nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO in seinem Recht auf rechtliches Gehör verletzten würde.

5. Die Versagungsgründe der § 475 Abs. 1 Satz 2, § 477 Abs. 2 Satz 1 StPO sind nicht auf dieses Akteneinsichtsrecht zur Durchsetzung prozessualer Rechte in einem Rechtsbehelfsverfahren, sondern auf den Schutz datenschutzrechtliche Belange Dritter zugeschnitten. Daher sind sie im Lichte des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) des (Dritt)Betroffenen verfassungskonform auszulegen.

6. Das öffentliche Interesse, weiter effektiv und gegebenenfalls im Verborgenen zu ermitteln, kann mit dem Rechtsschutzinteresse des Betroffenen dadurch zum Ausgleich gebracht werden, dass Akteneinsicht zunächst versagt und die Entscheidung in dem Rechtsbehelfsverfahren zurückgestellt wird, bis die Akteneinsicht ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks gewährt werden konnte und der Antragsteller Gelegenheit hatte, sich umfassend zu äußern.

7. Das Geheimhaltungsinteresse der Strafverfolgungsbehörden kann ein sachgerechter Verzögerungsgrund sein, der eine Zurückstellung des Akteneinsichtsgesuchs rechtfertigen kann. Zwar hat auch der Antragsteller im Verfahren nach § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO Anspruch auf eine angemessen zügige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des beendeten Grundrechtseingriffs. Diesem Feststellungsinteresse muss aber nicht mit gleicher Eilbedürftigkeit nachgekommen werden wie einem Anfechtungsbegehren, das sich gegen einen fortdauernden Eingriff richtet.


Entscheidung

117. BGH 2 StR 433/09 – Beschluss vom 9. Dezember 2009 (LG Koblenz)

Absoluter Revisionsgrund der Abwesenheit des Angeklagten (Vernehmungsbegriff; Entlassung des Zeugen); nicht bindender Anfragebeschluss (Divergenz; Großer Senat); redaktioneller Hinweis.

§ 338 Nr. 5 StPO; § 247 StPO; § 132 Abs. 3 GVG

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats, an der dieser festhält, gehört die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen nicht mehr zur Vernehmung, sondern bildet einen selbständigen Verfahrensabschnitt (vgl. zuletzt Beschluss vom 17. Juni 2009 – 2 ARs 138/09 m.w.N.). Eine angeordnete Entfernung des Angeklagten nach § 247 StPO erfasst nur die eigentliche Vernehmung des Zeugen, nicht aber die sich anschließende Verhandlung über die Entlassung. Wird ein Angeklagter erst nach der Entlassung einer Zeugin wieder in den Sitzungssaal geführt und über den Inhalt der Vernehmung unterrichtet, muss dies zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen.

2. Ein Anfragebeschluss hindert diejenigen Senate, die an der bisherigen Rechtsprechung festhalten wollen, nicht, auf dieser Grundlage weiter zu entscheiden (vgl. § 132 Abs. 2, 3; § 138 Abs. 1 Satz 3 GVG; BGHR GVG § 132 Anfrageverfahren 1; NStZ-RR 2004, 281). Nichts anderes kann aber gelten, wenn die Rechtsfrage dem Großen Senat zur Entscheidung vorgelegt worden ist. Die in dem Vorlagebeschluss geäußerte Rechtsansicht dient der Herbeiführung einer Rechtsprechungsänderung, ist aber selbst noch keine bindende Entscheidung, von der nur bei eigener Anrufung des Großen Senats abgewichen werden könnte.


Entscheidung

114. BGH 2 StR 363/09 – Urteil vom 2. Dezember 2009 (LG Hanau)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit (keine bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts; Beruhen; Ausführungen in den Urteilsgründen).

§ 244 Abs. 3 StPO; § 337 StPO

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsachen abgelehnt wird, die Erwägungen anführen, aus denen der Tatrichter ihnen keine Bedeutung beimisst. Wird die Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Umständen gefolgert, so müssen die Tatsachen angegeben werden, aus denen sich ergibt, warum die unter Beweis gestellte Tatsache, selbst wenn sie erwiesen wäre, die Entscheidung des Gerichts nicht beeinflussen könnte (BGH NStZ 1997, 503; NStZ-RR 2002, 68 f.; StV 2005, 113, 115 m.w.N.; StV 2007, 176; StraFo 2007, 378; StraFo 2008, 162). Der Beschluss muss es den Verfahrensbeteiligten, insbesondere dem Antragsteller, ermöglichen, sich auf die durch die Ablehnung des Beweisantrags geschaffene Prozesslage einzustellen. Die erforderliche Begründung entspricht grundsätzlich den Begründungserfordernissen bei der Würdigung von durch Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen.


Entscheidung

107. BGH 1 StR 563/09 – Beschluss vom 9. Dezember 2009 (LG Karlsruhe)

Erteilung des letzten Worts (Darlegungsanforderungen der Verfahrensrüge; nachträgliche Klarstellung des Inhalts eines Hauptverhandlungsprotokolls).

§ 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ; § 274 StPO

Einzelfall der nachträglichen Klarstellung des Inhalts eines unklaren Hauptverhandlungsprotokoll und „verschwiegener Revisionsvortrag“.


Entscheidung

100. BGH 1 StR 167/09 – Urteil vom 9. Dezember 2009 (LG Koblenz)

Grenzen der Hinweispflicht bei veränderten Sachverhaltsumständen; Steuerhehlerei; Hinterziehung von Branntweinsteuer; Würdigung von Urkunden, die im Wege des Selbstleseverfahrens eingeführt wurden.

§ 265 StPO; § 374 AO; § 261 StPO; § 249 Abs. 2 StPO

1. Eine Hinweispflicht entsprechend § 265 StPO besteht grundsätzlich nur dort, wo – wie in den Fällen einer Änderung der Tatzeit, der Tatbeteiligten, des Tatopfers oder der Tathandlung – die Abweichung solche Tatsachen betrifft, in denen die Merkmale des gesetzlichen Straftatbestandes gefunden werden (BGH StV 1988, 472, 473; NStZ 2000, 48, 49). Soweit es um Änderungen der Tatbeteiligten geht, handelt es sich etwa um Fälle, in denen das Gericht nicht von eigenhändiger Täterschaft oder von anderer unmittelbarer Tatbeteiligung ausgegangen ist (BGH, Beschl. vom 28. Oktober 1976 – 4 StR 476/76 = MDR 1977, 108 f.; BGH MDR 1980, 107 f.; BGH NStZ-RR 2002, 98).

2. Die Frage, wer genau Vortäter des Vortäters der Steuerhehlerei der Angeklagten ist, führt nicht dazu, dass die Tat aufgrund der Abweichung eine andere, in ihrem Wesen von der angeklagten Tat verschiedene Verwirklichung des identischen Strafgesetzes darstellt (vgl. BGH, Beschl. vom 28. Oktober 1976 – 4 StR 476/76). Eine diesbezügliche verfahrensgegenständliche Abweichung erweist sich lediglich als Konkretisierung des Geschehensbildes der Tat im weiteren Sinne, mit der ein Angeklagter zu rechnen hat und die ihn grundsätzlich nicht überraschen

kann, wenn er die Verhandlung verfolgt, deren Beweisergebnis die Feststellung dieser Konkretisierung rechtfertigt (BGH NStZ 2000, 48 f. m.w.N.). Allein der Umstand, dass in der Hauptverhandlung angefallene neue Erkenntnisse zum Vortäter des Vortäters – je nach den Umständen des Falles – neue Möglichkeiten der Verteidigung eröffnen können, führt nicht dazu, dass diese neuen Erkenntnisse eine gerichtliche Hinweispflicht auslösen würden.

3. Eine (Dritt)Bereicherungsabsicht ist beim Ankauf bemakelter Ware zum Marktpreis gegeben, wenn die Ware mit Gewinn weiterverkauft werden soll (BGH NStZ 1981, 147). Auch wenn Einnahmen mittelbar erzielt werden, ist gewerbsmäßiges Handeln gegeben.

4. Grundsätzlich stellt jede Ankaufshandlung bemakelter Gegenstände i.S.v. § 374 AO eine selbstständige Tat in materieller Hinsicht dar.


Entscheidung

129. BGH 4 StR 435/09 - Beschluss vom 10. Dezember 2009 (LG Kaiserslautern)

Rechtsfehlerhaft unterbliebene Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (Umgang mit Sachverständigengutachten).

§ 63 StGB

Der Tatrichter ist zwar nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen, da dieses stets nur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann. Will er aber eine Frage, für deren Beantwortung er sachverständige Hilfe in Anspruch genommen hat, im Widerspruch zu dem Gutachten beantworten, muss er die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung erlaubt, ob er das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat. Hierzu bedarf es einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit den Darlegungen des Sachverständigen, insbesondere zu den Gesichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (vgl. BGH aaO; BGH, Beschluss vom 25. April 2006 – 1 StR 579/05 = NStZ-RR 2006, 242, 243; Beschluss vom 13. September 2001 – 3 StR 333/01 m.w.N.)