HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2010
11. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Verhandlung über die Entlassung des Zeugen und Augenscheinseinnahme in Abwesenheit des gemäß § 247 StPO entfernten Angeklagten als Fälle des absoluten Revisionsgrundes nach § 338 Nr. 5 StPO

Anmerkung zu dem Vorlagebeschluss BGH 5 StR 460/08 (HRRS 2009 Nr. 1060) sowie zu dem Urteil BGH 5 StR 530/08 vom 11. November 2009 (HRRS 2009 Nr. 1061)

Von PD Dr. Jochen Bung, M.A., Humboldt-Universität zu Berlin

Das Absolute ist nicht relativ.[1] Wer dennoch eine Relativierung unternimmt, muss zeigen, dass sie nicht den Grundgedanken des Absoluten verletzt. Das gilt nicht nur für den prominenten Fall der Würdegarantie des Grundgesetzes, sondern für alle "absolut" gewährten Rechtspositionen und Verfahrensinstitute. Eine hervorgehobene Stellung haben zumal die absoluten Revisionsgründe der Strafprozessordnung. Ihr Grundgedanke ist, dass die Anfechtbarkeit eines Urteils wegen des Beruhens auf einer Gesetzesverletzung unwiderlegbar vermutet wird.[2] Diese absolute Vermutung ist dadurch gerechtfertigt, dass es um besonders schwere Rechtsverstöße geht, bei denen der Nachweis des Beruhens gleichwohl nur sehr schwer oder gar nicht geführt werden kann.[3]

Einen wichtigen Fall regelt § 338 Nr. 5 StPO, wonach ein Urteil "stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen[ist], wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat". Eine Person, deren Anwesenheit in der Hauptverhandlung das Gesetz vorschreibt, ist der Angeklagte, § 230 Abs. 1 StPO. Seine Anwesenheit hat normativ bekanntlich zwei Seiten, bedeutet zugleich Recht und Pflicht. Auf die Anwesenheitspflicht (vgl. § 231 StPO) oder das Verhältnis von Recht und Pflicht kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. Das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit im Verfahren ist im rechtsstaatlichen Strafprozess eine Selbstverständlichkeit und folgt aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), dem Recht auf Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK) und dem Interesse an der Wahrheitsermittlung.[4] Die Anwesenheit des Angeklagten ist überdies ein Menschenrecht: Nach Art. 14 Abs. 3 lit. d IPBPR hat "[j]eder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte […]das Recht, bei der Verhandlung anwesend zu sein und sich selbst zu verteidigen oder durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen".[5]

Dieses grundlegende Recht auf ununterbrochene prozessuale Präsenz[6] kann nur in streng begrenzten Ausnahmefällen eingeschränkt werden.[7] Bedeutsam im deutschen Strafverfahren sind die Ausnahmen in § 247 StPO, wonach die Zeugenvernehmung in Abwesenheit des Angeklagten stattfinden kann, wenn durch die Anwesenheit des Angeklagten die Bereitschaft des Zeugen (oder Mitangeklagten) zur wahrheitsgemäßen Aussage oder das Wohl des (minderjährigen oder erwachsenen) Zeugen gefährdet ist, § 247 S. 1 und 2 StPO. In diesen Fällen "kann[das Gericht]anordnen, dass sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt" (§ 247 S. 1 StPO).[8]

I. Prozessualer Status der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen

Ein Fall der Entfernung des Angeklagten aus Gründen des Zeugenschutzes liegt dem Vorlagebeschluss des 5. Strafsenats vom 11. November 2009 − BGH 5 StR 460/08[9] − zugrunde. In einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes war auf der Grundlage des § 247 S. 2 StPO die kindliche Zeugin und Nebenklägerin vor dem LG in Abwesenheit des Angeklagten vernommen worden. Der Vorlagebeschluss behandelt die Frage, ob die Fortdauer der Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Entlassung der Zeugin einen Verstoß gegen das Anwesenheitsrecht des Angeklagten (§ 230 Abs. 1 StPO) darstellt und eine auf Verletzung des § 247 StPO gestützte Verfahrensrüge gem. § 338 Nr. 5 StPO begründet.[10]

Voraussetzung für eine erfolgreiche Rüge ist hier, dass die Verhandlung über die Zeugenentlassung nicht mehr zur Vernehmung i.S.v. § 247 StPO gehört, hinsichtlich der ein zulässiger Ausschluss vorliegt, und dass es sich bei diesem Verfahrensvorgang um einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung i.S.v. § 338 Nr. 5 StPO handelt.[11] An der erforderlichen Wesentlichkeit kann im Hinblick auf den in Frage stehenden Vorgang kein Zweifel bestehen, denn als unwesentlich sind im Zusammenhang des § 247 StPO nur solche Teile der Hauptverhandlung anzusehen, die der Angeklagte auch im Falle seiner Anwesenheit nicht hätte beeinflussen können.[12] An einer solchen Einflusslosigkeit fehlt es im Fall der Entlassungsverhandlung jedoch schon aus gesetzlichen Gründen, nämlich durch die von § 248 S. 2 StPO vorgeschriebene Anhörung des Angeklagten über die Entlassung, die dem Angeklagten rechtliches Gehör gewähren und sein Fragerecht (§ 240 Abs. 2 StPO) sichern soll.[13] Zwar soll nach zum Teil vertretener Ansicht die Wesentlichkeit entfallen, wenn der Angeklagte ausdrücklich oder konkludent auf Fragen an den Zeugen verzichtet[14], doch begegnet diese Auffassung durchgreifenden Bedenken, weil in den Konstellationen der Verletzung des § 247 StPO niemals auszuschließen ist, dass der (nachträgliche) Verzicht des Angeklagten auf die Wahrnehmung seines Fragerechts auf einem Wissensmangel beruht, der auf die notwendigerweise selektive Unterrichtung gem. § 247 S. 4 StPO zurückzuführen ist.

Nach ständiger Rechtsprechung und nahezu unangefochtener Ansicht in der Literatur besteht auch kein Zweifel, dass die Verhandlung über die Entlassung des Zeugen nicht dem Vernehmungsbegriff des § 247 StPO unterfällt.[15] Es besteht grundsätzlich Einigkeit, dass § 247 StPO als Ausnahmebestimmung eng auszulegen ist.[16] Die Entfernungsanordnung kann sich auch auf eine einzige Frage an den Zeugen erstrecken[17], nach deren Beantwortung der Angeklagte sofort wieder zuzulassen ist. Zwar findet sich die Umschreibung, wonach sich der Ausschluss auf alle Verfahrensvorgänge bezieht, die mit der Vernehmung in enger Verbindung stehen oder sich daraus entwickeln.[18] Doch darf dies nicht in dem Sinne missverstanden werden, als könnten dem Vernehmungsbegriff Verfahrensvorgänge mit selbständiger verfahrensrechtlicher Bedeutung subsumiert werden.[19] Gegen dieses Missverständnis ist in solchen Fällen der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben.

II. Die Anfragebeschlüsse BGH 5 StR 460/08 und BGH 5 StR 530/08 vom 10. März 2009

Diese gut begründete und fest etablierte Rechtsprechung möchte der 5. Strafsenat des BGH ändern. Der Änderungswunsch artikuliert sich im Wesentlichen entlang zweier Argumentationslinien. Zum einen wird der Vorschlag einer erweiternden Lesart des Vernehmungsbegriffs in § 247 StPO gemacht. Zum anderen wird für die Möglichkeit der Heilung von Verfahrensfehlern im Zusammenhang der sich an die Wiederzulassung des Angeklagten unmittelbar anschließenden Unterrichtung gem. § 247 S. 4 StPO argumentiert, wobei es dem Senat vor allem darauf ankommt, dass Verletzungen der Unterrichtungspflicht nach § 247 S. 4 StPO lediglich eine Revision unter Rückgriff auf einen relativen Revisionsgrund nach § 337 StPO stützen.[20] Argumentationsstrategisch handelt es sich damit um eine Kombination aus direktem Angriff und Umgehungstaktik.

Die Argumente des 5. Strafsenats gehen auf eine Konzeption zurück, die Basdorf bereits in seinem Beitrag zur Salger-Festschrift 1995 dargelegt hat.[21] Sie sind in zwei Anfragebeschlüssen des 5. Strafsenats vom 10. März 2009 den anderen Senaten vorgelegt worden[22] und haben bereits eine kritische Resonanz in der Literatur gefunden.[23] Lediglich der 1. Strafsenat hat sich den Argumenten des 5. Senats angeschlossen, während in den Stellungnahmen des 2., 3. und 4. Strafsenats − mit z.T. variierender Argumentation − Skepsis und Ablehnung überwiegen.[24] Deswegen hat der 5. Strafsenat nun dem Großen Senat für Strafsachen gem. § 132 Abs. 2 GVG die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt, ob "die fortdauernde Abwesenheit des nach § 247 StPO während einer Zeugenvernehmung entfernten Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5[begründet]". In der thematisch eng damit zusammenhängenden Rechtsfrage des Anfragebeschlusses 5 StR 530/08 (absoluter Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO bei Augenscheinseinnahme in Abwesenheit des gemäß § 247 StPO entfernten Angeklagten?) wurde von einer Divergenzvorlage abgesehen. Vergleicht man die Argumentation des Vorlagebeschlusses mit der Darstellung im Anfrageverfahren hat der vorlegende Senat seine Argumentation auf die kritischen Einwände zumindest teilweise eingestellt. Gleichwohl bleiben die Argumente und damit auch die Einwände gegen den Vorschlag einer revisionsrechtlichen Neubehandlung des § 247 StPO im Kern unverändert bestehen.

Im Mittelpunkt der Anfragebeschlüsse steht noch die Idee, den Vernehmungsbegriff in Analogie zu der im Kontext des § 338 Nr. 6 StPO entwickelten "Zusammenhangsformel" zu konzipieren. Bei Rügen nach § 338 Nr. 6 StPO, mit denen ein zu weit gehender Ausschluss der Öffentlichkeit beanstandet wird, wenn dieser gem. § 171a bis § 172 GVG für die Dauer einer Vernehmung erfolgt ist, folgt die Rechtsprechung bislang einer Auffassung, wonach zur "Vernehmung" alle Verfahrensabschnitte zu rechnen sind, die mit der eigentlichen Vernehmung eng in Zusammenhang stehen oder sich aus ihr entwickeln.[25] Wenn die Wiederzulassung der Öffentlichkeit erst nach Entlassung des Zeugen im Lichte der Zusammenhangsformel noch rechtzeitig erfolge, dann sei eine solche Auslegung auch für § 338 Nr. 5 i.V.m. § 247 StPO "sachgerecht"[26].

Diese Auffassung, wonach Verfahrensabschnitte mit selbständiger verfahrensrechtlicher Bedeutung noch dem Vernehmungbegriff des § 247 StPO zugeschlagen werden können, ist nicht haltbar. Dabei kann dahin stehen, ob dies schon aus einem Wortlautargument folgt, wie der 2. und der 3. Strafsenat zu bedenken geben[27] oder ob das Wortlautargument, wie aus den Ausführungen des 4. Strafsenats hervorgeht, noch nicht hinreicht.[28] Jedenfalls aus der Systematik, nämlich insbesondere der Norm des § 248 StPO sowie der spezifischen Unterrichtungspflicht gem. § 247 S. 4 StPO, vor allem aber der normativ völlig unterschiedlichen Bedeutungen der Öffentlichkeitspräsenz und der Angeklagtenpräsenz, die ja wesentlich auch einen partizipativen Sinn hat,[29] ist die analoge Anwendung des im Kontext des § 338 Nr. 6 StPO gebräuchlichen Zusammenhangsarguments zurückzuweisen.[30]

III. Der Vorlagebeschluss BGH 5 StR 460/08 vom 11. November 2009

Unter dem Eindruck der Einwände des 2., 3. und 4. Strafsenats nimmt sich die Argumentation im Vorlagebe-

schluss etwas zurück, wenngleich der 5. Strafsenat der vorgetragenen Auffassung zur analogen Anwendung der Zusammenhangsformel "ungeachtet unterschiedlicher Wertigkeit von Angeklagten- und Öffentlichkeitspräsenz und abweichenden Wortlauts der Ausschließungsnormen unverändert zuneigt"[31]. Im Vorlagebeschluss geht der Senat "insoweit lediglich von einer etwas engeren Auslegung des Vernehmungsbegriffs, als von ihm noch in dem Anfragebeschluss zugrunde gelegt, aus"[32]. Die Kriterien des "etwas engeren" Vernehmungsbegriffs beschränken sich allerdings auf die Darlegung, dass der Begriff der Vernehmung in verschiedenen Zusammenhängen der Strafprozessordnung Verschiedenes bedeutet (Abschnitt 4.a des Beschlusses). Wichtiger für den Fortgang der Argumentation wird nunmehr die erwähnte zweite Argumentationslinie, wonach das Eingreifen des absoluten Revisionsgrundes nach § 338 Nr. 5 StPO für Fälle der Verletzung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten im Kontext des § 247 StPO schon deswegen nicht erforderlich sei, weil die Verletzung der Anwesenheit im Rahmen der Unterrichtung nach § 247 S. 4 StPO geheilt werden und eine Verletzung der Unterrichtungspflicht nur über § 337 StPO gerügt werden könne. Insbesondere könne die unzulässige Verkürzung des Fragerechts des Angeklagten durch vorzeitige Entlassung des Zeugen dadurch geheilt werden, dass im Rahmen der Unterrichtung gem. § 247 S. 4 StPO die Möglichkeit eingeräumt wird, das Fragerecht im Wege der erneuten Vorladung des Zeugen nachzuholen. Der Senat resümiert: "Danach entfällt jedes Bedürfnis, unter Annahme eines absoluten Revisionsgrundes wegen Nichtmitwirkung an einem effektivem Verteidigungshandeln lediglich vorgelagerten Formalakt[gemeint ist § 248 S. 2 StPO]ein ansonsten fehlerfreies Urteil aufheben zu müssen."[33]

Dieses Ergebnis und seine Begründung − letztlich: der Spurwechsel vom weiten Vernehmungsbegriff zu einem Begriff der Unterrichtung, der im Anschluss an den Gedanken der Heilung von Verfahrensfehlern offenkundig als Surrogat des weiten Vernehmungsbegriffs in Stellung gebracht wird − können nicht überzeugen. Die Reduzierung des absoluten auf einen relativen Revisionsgrund stellt keine ausreichende Kompensation für die aus der einschneidenden Rechtsbeschränkung einer Anordnung nach § 247 StPO hervorgehenden Risiken für den Angeklagten dar, zumal diese Anordnung selbst schon gemäß Art. 6 EMRK sehr fragwürdig ist und daher keine engherzige Handhabung ihrer Revisibilität verträgt.[34] Der 5. Strafsenat sieht dies offenkundig anders: "Der Gesetzgeber hat die grundlegende Beschneidung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten mit § 247 StPO in weitem Maße dem tatgerichtlichen Ermessen überantwortet[…]. Hierdurch bleibt der Angeklagte oftmals von den ganz entscheidenden, ihn belastenden Passagen der Hauptverhandlung ausgeschlossen[…]. Eine unzulängliche Unterrichtung des Angeklagten ist nur unter außerordentlich engen Voraussetzungen, insbesondere bezogen auf die inhaltlichen Mängel, über einen relativen Revisionsgrund zu beanstanden[…]Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht angemessen, die Position des (lediglich) verspätet[nämlich nach der Entlassung des Zeugen]unterrichteten Angeklagten gemäß der bisherigen Rechtsprechung durch den absoluten Revisionsgrund ohne Rücksicht darauf zu verstärken, ob er von seinem Fragerecht überhaupt Gebrauch machen wollte."[35]

Diese Argumentation überzeugt nicht, denn gerade "vor diesem Hintergrund", nämlich der Gefahr einer verfahrensfehlerhaft bewirkten Vereitelung des Fragerechts des Beschuldigten, kann es nicht ausschließlich darauf ankommen, was der Angeklagte will, denn vielleicht kann er gar nicht wissen, was er will, weil er wegen seiner Entfernung aus der Verhandlung und der anschließenden selektiven Unterrichtung aktuell nicht genug weiß. Die Vereite-

lung des Fragerechts durch den Verstoß gegen § 247 StPO bedeutet immer die Gefahr, dass der Angeklagte gar nicht imstande ist, eine vollverantwortliche Entscheidung darüber zu treffen, ob er von seinem Fragerecht Gebrauch machen soll oder nicht.

Diese spezielle Frage müsste noch ausführlicher erörtert werden. Überwiegend wird nämlich angenommen, dass Verletzungen des § 247 StPO durch eine Verzichtserklärung des Angeklagten geheilt werden können.[36] So argumentiert der 4. Strafsenat in dem Anfrageverfahren, eine Heilung könne "dadurch erfolgen, dass der Angeklagte auf ausdrückliches Befragen[im Anschluss an seine Unterrichtung nach § 247 S. 4 StPO]mitteilt, keine Fragen mehr an den bereits entlassenen Zeugen stellen zu wollen."[37] Auf der anderen Seite macht der Senat unmissverständlich deutlich, dass er nicht bereit ist, auf die Absicherung des durch einen Verstoß gegen § 247 StPO bedrohten Fragerechts des Angeklagten durch den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO zu verzichten "Wird dem Angeklagten die Möglichkeit das Fragerecht auszuüben nach der Entlassung des Zeugen nicht eingeräumt[…], muss es bei dem absoluten Revisionsgrund verbleiben."[38] Denn die Herabstufung zu einem relativen Revisionsgrund würde "dem fundamentalen Recht des Angeklagten nicht gerecht, nicht ohne übergeordnete Gründe von der Verhandlung über seine Strafsache ausgeschlossen zu werden"[39].

IV. Heilung von Verfahrensfehlern durch unvollständige Wiederholung (BGH 5 StR 530/08)?

Den Gedanken der Heilung von Verfahrensfehlern muss man im vorliegenden Zusammenhang einer genaueren Betrachtung unterziehen, damit man nicht vorschnell dem schönen Klang der Rede von Heilung erliegt. Heilung von Verfahrensfehlern mit der Folge, dass das revisionsbegründende Beruhen entfällt, ist grundsätzlich nur unter der Voraussetzung einer vollständigen Wiederholung des fehlerhaften Verfahrensvorgangs "in einwandfreier Form" akzeptabel.[40] Auch von diesem Prinzip möchte der 5. Strafsenat abrücken. Er schlägt eine neue Linie vor, nach der zur wirksamen Heilung keine vollständige Wiederholung des Verfahrensvorgangs erforderlich ist. Das wird deutlich im Zusammenhang der Frage nach der Revisibilität einer in Abwesenheit des nach § 247 StPO entfernten Angeklagten durchgeführten Augenscheinseinnahme, also der Rechtsfrage des Anfragebeschlusses 5 StR 530/08 vom 10. März 2009. Der 5. Strafsenat hielt insoweit eine Divergenzvorlage an den Großen Senat nicht für erforderlich, weil er der Ansicht ist, zumindest sei der (mögliche) Verfahrensfehler geheilt, wenn dem Angeklagten − wie im vorliegenden Fall geschehen − das Augenscheinsobjekt im Rahmen der Unterrichtung nach § 247 S. 4 StPO gezeigt wird.

Auch diese Ansicht vermag nicht zu überzeugen, weil ihr, wie Schlothauer in einer Anmerkung zu dem Anfragebeschluss hervorgehoben hat, "ein rein mechanisches bzw. rechtstechnisches Verständnis des Beweiserhebungsakts der Augenscheinseinnahme"[41] zugrunde liegt. Der Beitrag des Augenscheinsobjekts zur prozessualen Wahrheit erschließt sich nicht in der privaten nachträglichen Besichtigung. Das Augenscheinsobjekt zeigt sich entgegen einer verbreiteten Fehlvorstellung nicht von sich selbst her, sondern ist deutungsabhängiger Bezugspunkt einer Kommunikation über seinen Beweiswert, von welcher der Angeklagte endgültig ausgeschlossen bleibt, wenn man eine "Heilung" durch nachträgliches Besichtigenlassen im Rahmen des § 247 S. 4 StPO annimmt.

In diesem Zusammenhang bezieht der 3. Strafsenat deutlich Stellung, wenn er hervorhebt, "dass die Verwertung des in Abwesenheit des Angeklagten erhobenen Augenscheinsbeweises nur dann statthaft ist, wenn die Augenscheinseinnahme in Anwesenheit des Angeklagten und auch im Übrigen fehlerfrei wiederholt wird, der Beweisgegenstand als solcher damit ordnungsgemäß in die Verhandlung eingeführt wird"[42]. Der vom anfragenden Senat vorgeschlagene Weg sei jedenfalls "keine fehlerfreie Wiederholung der Beweisaufnahme"[43].

Der 5. Strafsenat weist dieses Argument ebenso wie die vom 3. Strafsenat ausgesprochene Empfehlung einer Vorlage an den Großen Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache nach § 132 Abs. 4 GVG zurück und begründet dies mit der nicht weiter belegten Feststellung, er sehe "bei Annahme einer Heilung in Form des hier in Frage stehenden Vorgehens keine Anhaltspunkte für ernste rechtsstaatliche Defizite"[44], die Gefahr drohe vielmehr von der Fortführung der "bisherigen überformalen Rechtsprechung"[45]. Auch die Anregung des 3. Strafsenats, das Verhältnis des § 338 Nr. 5 und Nr. 6 StPO in umgekehrter Richtung zu konzipieren, also sich von den strengeren Anforderungen des § 338 Nr. 5 i.V.m. § 247 StPO zu einer Aufgabe der Zusammenhangsformel bei § 338 Nr. 6 StPO bewegen zu lassen, folgt der 5. Strafsenat (erwartbar) nicht.[46]

V. Abschließende Stellungnahme

Das Urteil und der Vorlagebeschluss des 5. Strafsenats vom 11. November 2009 werfen außer den behandelten eher prozessrechtsdogmatischen weitere, überwiegend kriminalpolitische Fragen auf, die hier nicht behandelt, aber wenigstens angesprochen werden sollen. Der 5. Strafsenat argumentiert in einer bedenklich selbstverständlichen Weise aus dem in der kriminalpolitischen Diskussion häufig gebrauchten und nicht selten instrumentalisierten Schlagwort des Zeugen- und Opferschutzes.[47] Es steht zu befürchten, dass sich der Topos vom Zeugen- und Opferschutz in ähnlicher Weise wie jener der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zu einer Art Generalklausel zum Abbau von Beschuldigteninteressen etabliert. Was den Funktionstüchtigkeitstopos betrifft, spricht der 5. Strafsenat ohnehin eine klare Sprache, wenn er das Erfordernis der "zügigen Verfahrensförderung" und "Belange einer stringenten Gestaltung der Hauptverhandlung" gegen die Fortführung der "bisherigen überformalen Rechtsprechung" geltend macht. Hier erscheint allerdings der Hinweis angebracht, dass die vom Senat aufgezeigte Heilungsprozedur sicherlich nicht zu einer besseren Verfahrensökonomie führt: Unterrichtung über die Möglichkeit der erneuten Ladung des Zeugen, erneute Ladung des Zeugen, evtl. wieder mit der Ausnahme des § 247 StPO usw. Es ist rein logisch − und damit im Ergebnis unvernünftig − eine unendliche Iteration dieses prozeduralen Modus denkbar. Demgegenüber erscheint es auch aus prozessökonomischen Gründen sinnvoller, es bei der Regelung zu belassen, die Anwesenheit des Angeklagten bei allen Verfahrenshandlungen die nicht zur Vernehmung im strengen Sinne des § 247 StPO gehören, konsequent und ausnahmslos durch den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO abzusichern.

Daher ist zu hoffen, dass der Große Senat sich auf den guten Grund der "Absolutheit" der absoluten Revisionsgründe besinnt und eine Entscheidung gegen die vom 5. Strafsenat angeregte Änderung des Revisionsverständnisses trifft.


[1] Anders Herdegen, Das Absolute ist relativ, FAZ v. 18.12.2008.

[2] Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. (2009), § 338 Rn. 1 m.w.N.

[3] Vgl. Schroeder, Strafprozessrecht, 4. Aufl. (2007), § 32 Rn. 320.

[4] BVerfG NJW 2007, 2977, 2979 = HRRS 2009 Nr. 647 m. Bespr. Gaede GA 2008, 394 ff.

[5] Zur Ableitung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in seinem Prozess vgl. z.B. EGMR, Krombach v. FRA, Rep. 2001-II, §§ 84 ff.; m.w.N. Gaede, Fairness als Teilhabe − Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gem. Art. 6 EMRK (2007), S. 294 ff.

[6] Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 2), § 230 Rn. 5; HK-Julius, 3. Aufl. (2001), § 247 Rn. 1 (Neuauflage erschienen).

[7] Nach HK-Julius (Fn. 6), § 247 Rn. 1, handelt es sich bei § 247 StPO um "eine der rechtspolitisch sensibelsten Vorschriften der StPO[…], da das Gericht ermächtigt wird, den für eine wirksame Verteidigung unentbehrlichen Anspruch des Angeklagten auf ununterbrochene Teilnahme an der Hauptverhandlung[…]zu verkürzen, ohne das dies − wie z.B. in §§ 231 Abs. 2, 231a, 231b − Folge eines verantwortlichen Handelns des Angeklagten wäre".

[8] Zusätzlich normiert § 247 S. 3 StPO die Möglichkeit einer Entfernung des Angeklagten zu seinem eigenen Wohl "für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten[…], wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist". Zur Problematik dieses Ausnahmetatbestands im Hinblick auf die Angeklagtenautonomie siehe SK-Frister, 61. Lfg. (April 2009), § 247 Rn. 47.

[9] HRRS 2009 Nr. 1060.

[10] Für "offensichtlich unbegründet" hält der Senat die Rüge der Fortdauer der Abwesenheit des Angeklagten bei der Verhandlung über die Vereidigung der Zeugin (HRRS 2009 Nr. 1060 Rz. 3), und zwar unter Berufung auf BGHSt 51, 81, wonach es nach der Abschaffung der Regelvereidigung an der Wesentlichkeit dieses Verhandlungsteils fehlen soll, wenn die Frage der Vereidigung eines unvereidigt gebliebenen Zeugen weder kontrovers erörtert noch zum Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung nach § 238 Abs. 2 StPO gemacht wurde, vgl. dazu KK-Diemer, 6. Aufl. (2008), § 247 Rn. 7; Meyer-Goßner (Fn. 2), § 247 Rn. 20. Zustimmend zu dieser Rechtsprechungsänderung Müller JR 2007, 79, krit. dagegen SK-Frister (Fn. 8), § 247 Rn. 85 mit dem überzeugenden Hinweis, dass ein Einfluss des Angeklagten auf die gem. § 59 Abs. 1 S. 1 StPO als Ermessensentscheidung ausgestaltete Entscheidung des Vorsitzenden "durchaus denkbar ist", womit das Wesentlichkeitserfordernis erfüllt ist. Daher überzeugt die Schlussfolgerung von Frister, a.a.O., wonach die Entscheidung über die Vereidigung des Zeugen unverändert stets als wesentlicher Hauptverhandlungsteil i.S.v. § 338 Nr. 5 StPO anzusehen ist.

[11] Zum Erfordernis der Wesentlichkeit des Hauptverhandlungsteils im Zusammenhang des § 247 StPO vgl. LR-Gollwitzer, 25. Aufl. (2001), § 247 Rn. 53; KK-Diemer (Fn. 10), § 247 Rn. 16; SK-Frister (Fn. 8), § 247 Rn. 80.

[12] BGH NStZ 1986, 133; 1987, 335. Zur Begründung der Nichtanwendbarkeit des § 338 StPO, wenn das Beruhen des Urteils auf dem Mangel "denkgesetzlich" ausgeschlossen ist, Meyer-Goßner (Fn. 2), § 338 Rn. 36.

[13] SK-Frister (Fn. 8), § 247 Rn. 86, vgl. schon RGSt 46, 196, 198.

[14] BGH NJW 1986, 267; 1998, 2541, offen gelassen in BGH StV 2000, 238; weitere Nachweise bei SK-Frister (Fn. 8), § 247 Rn. 86 Fn. 280; vgl. auch KK-Diemer (Fn. 10), § 247 Rn. 16.

[15] BGH NJW 1986, 267; BGH NStZ 1995, 667; BGH StV 1996, 471; BGH StV 1996, 530; BGH StV 1997, 511; weitere Nachweise bei LR-Gollwitzer (Fn. 11), § 247 Rn. 53 Fn. 141.

[16] BGHSt 15, 194, 195; 21, 333, 333; 22, 18, 20; 26, 218, 220. Weitere Nachweise bei Meyer-Goßner (Fn. 2), § 247 Rn. 1. Nach LR-Gollwitzer (Fn. 11), § 247 Rn. 4, ist § 247 "[e]iner ausdehnenden Auslegung[…] grundsätzlich nicht zugänglich", vgl. auch BGHSt 15, 195 wonach keine erweiternde Auslegung von Vorschriften zulässig ist, die das Anwesenheitsprinzip durchbrechen.

[17] BGH MDR 1975, 544: Entfernung im Umfang von "dreieinhalb Zeilen des Protokolls".

[18] Aus BGH MDR 1975, 544 geht allerdings ganz deutlich hervor, dass diese Formel gerade nicht als erweiternde Lesart des Vernehmungsbegriffs angelegt ist.

[19] Meyer-Goßner (Fn. 2), § 247 Rn. 6.

[20] Dass die unterlassene, verspätete oder unzureichende Unterrichtung des Angeklagten nur nach § 337 StPO gerügt werden kann, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, BVerfG NJW 2002, 814; vgl. SK-Frister (Fn. 8), § 247 Rn. 89.

[21] Basdorf, Reformbedürftigkeit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 247 StPO, Salger-FS (1995), S. 203.

[22] BGH 5 StR 460/08, Beschluss v. 10.03.2009, HRRS 2009 Nr. 719 = StV 2009, 342; BGH 5 StR 530/08, Beschluss v. 10.03.2009, StV 2009, 226

[23] Eisenberg StV 2009, 344; Schlothauer StV 2009, 228; s. auch Wölky StraFo 2009, 397.

[24] BGH 1 ARs 6/09, Beschluss v. 22.04.2009, HRRS 2009 Nr. 836; BGH 2 ARs 138/09, Beschluss v. 17.06.2009, HRRS 2009 Nr. 759; BGH 3 ARs 7/09, Beschluss v. 07.07.2009, HRRS 2009 Nr. 887; BGH 4 ARs 6/09, Beschluss v. 25.08.2009, HRRS 2009 Nr. 865.

[25] BGH 5 StR 460/08, Beschluss v. 10.03.2009, HRRS 2009 Nr. 719 = StV 2009, 342 Rz. 7; BGH 5 StR 530/08, Beschluss v. 10.03.2009, HRRS 2009 Nr. 720 = StV 2009, 227 Rz. 6; jeweils m.w.N.

[26] BGH HRRS 2009 Nr. 719 Rn. 7.

[27] BGH 2 ARs 138/09, Beschluss v. 17.06.2009, HRRS Nr. 719 Rz. 4 und 6; BGH 3 ARs 7/09, Beschluss v. 07.07.2009, HRRS 2009 Nr. 887 Rz. 8: "Die Erhebung von Sachbeweisen in Abwesenheit des nach § 247 StPO ausgeschlossenen Angeklagten ist nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes nicht zulässig."

[28] BGH 4 ARs 6/09, Beschluss v. 25.08.2009, HRRS 2009 Nr. 865, äußert die Ansicht, "dass der Wortlaut des § 247 StPO der vom 5. Strafsenat beabsichtigten weiten Auslegung des Vernehmungsbegriffs nicht entgegensteht".

[29] Siehe zu dieser vom EGMR sehr deutlich gemachten Bedeutung der Teilhabe ermöglichenden Anwesenheit m.w.N. Gaede (Fn. 5), S. 294 ff., 299 ff.

[30] So im Ergebnis übereinstimmend auch der 2., 3. und 4. Strafsenat in den genannten Beschlüssen im Anfrageverfahren.

[31] BGH HRRS 2009 Nr. 1060 Rz. 14.

[32] BGH HRRS 2009 Nr. 1060 Rz. 16.

[33] BGH HRRS 2009 Nr. 1060 Rz. 19.

[34] Zur Vereinbarkeit des § 247 StPO mit Art. 6 EMRK vgl. statt vieler krit. m.w.N. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002), S. 675 ff.

[35] BGH HRRS 2009 Nr. 1060 Rz. 20 f.

[36] Für den Fall der Verhandlung über die Zeugenentlassung vgl. die Hinweise bei SK-Frister (Fn. 8), § 247 Rn. 86, insbes. Fn. 280.

[37] BGH 4 ARs 6/09, Beschluss v. 25.08.2009, HRRS 2009 Nr. 865 Rz. 7.

[38] Ebd.

[39] Ebd.

[40] Meyer-Goßner, StGB (Fn. 2), § 337 Rn. 39 m.w.N.; siehe in diesem Sinne auch zu Art. 6 EMRK, der die hier gegebenenfalls beeinträchtigten Rechte garantiert, Gaede (Fn. 5), S. 451 ff.: Heilung nur durch Verfahrenshandlungen, welche die Rechte nicht nur pro forma, sondern wirksam gewähren.

[41] Schlothauer StV 2009, 229.

[42] BGH 3 ARs 7/09, Beschluss v. 07.07.2009, HRRS 2009 Nr. 886 Rz. 6.

[43] Ebd.

[44] BGH HRRS 2009 Nr. 1061 Rz. 14.

[45] Ebd.

[46] A.a.O. Rz. 15.

[47] Dazu bereits krit. Eisenberg StV 2009, 345.