HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2009
10. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Garantennot durch "Notinsel"?

Übernahme "sozialadäquater" Schutzfunktionen und strafrechtliche Garantenstellung

Von Dipl.-Jurist (Univ.) Florian Hertel, Wirtschaftsjurist (Univ. Bayreuth), Aberdeen

I. Einleitung

Die Stiftung "Hänsel+Gretel" startete vor einigen Jahren in Karlsruhe das Projekt "Notinsel": Durch eine einheitliche Kennzeichnung sollen Kindern im öffentlichen Raum Fluchtpunkte für Gefahrensituationen geboten

werden, an denen sie Hilfe erwarten können.[1] Das dabei verwandte Symbol zeigt die stilisierten Figuren dreier Kinder, darunter den Schriftzug "notinsel" und die Aussage "Wo wir sind, bist Du sicher." Es wird am Eingang von Geschäften oder anderen öffentlich zugänglichen Orten, wie bspw. Behörden, angebracht. Inzwischen gibt es "Notinseln" in 136 Kommunen im ganzen Bundesgebiet.[2]

Teilnehmer dieses Projekts werden mit dem Anbringen des Logos einen Beitrag für eine kinderfreundliche Umgebung setzen wollen. Das ist sicher ein lobenswertes Anliegen. Was ihnen jedoch kaum bewusst sein dürfte, sind eventuell sich daraus ergebende rechtliche Pflichten. So könnte die Kennzeichnung eines öffentlichen Raums als "Notinsel" zugleich die Übernahme einer Garantenstellung darstellen, mit weit reichenden Konsequenzen nicht nur strafrechtlicher, sondern auch schadensersatzrechtlicher Art.

Das gewählte Beispiel soll aufzeigen, wie schnell man nach der derzeit herrschenden Auffassung in der strafrechtlichen Unterlassenshaftung sein kann. Es gibt Anlass, über den hier konkret geschilderten Fall hinaus allgemein über die Dogmatik der Begründung strafrechtlicher Beschützungsverpflichtungen nachzudenken.

II. Reichweite und Begründung von Garantenstellungen

1. Arten der Garantenstellung

Das StGB fordert in § 13 Abs. 1 für eine Strafbarkeit durch Unterlassen, dass der Täter "rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt". Diese Einstandspflicht wird kurz als Garantenstellung bezeichnet.[3]

Üblicherweise werden diese Garantenstellungen in zwei Kategorien eingeteilt: Überwachungs- und Beschützergaranten.[4] Ersteren obliegt die Sicherstellung, dass von Gefahrenquellen keine Schäden ausgehen; mithin müssen sie eine unbegrenzte Anzahl von Menschen vor möglichen Schäden durch eine begrenzte Anzahl von Gefahrenquellen schützen.[5] Bei den Beschützergaranten liegt es genau umgekehrt: sie trifft die Pflicht, eine begrenzte Anzahl von Menschen vor einer nicht festgelegten Zahl von Gefahren zu bewahren.[6] Auf letztere Gruppe beschränkt sich die folgende Betrachtung.

2. Entstehensvoraussetzungen von Beschützergarantenpflichten

Grob lassen sich zwei Möglichkeiten zur Begründung einer Beschützergarantenpflicht unterscheiden: Die erste existiert unabhängig von einer konkludenten oder ausdrücklichen Übernahme und wird allgemein als Garantenpflicht aus "natürlicher Verbundenheit" bezeichnet. Beispiele sind die Schutzpflicht von Eltern für ihre Kinder oder von Ehegatten gegenüber einander.[7] Für die zweite Kategorie ist die Übernahme einer Schutzpflicht jedoch konstitutiv: Der Garant muss es tatsächlich auf sich nehmen, für das Wohlergehen eines anderen einzustehen – auf die Wirksamkeit einer eventuellen zivilrechtlichen Vereinbarung kommt es nicht an.[8]

Beispiele für solche Beschützergarantenpflichten kraft Übernahme sind der Leibwächter, der Bademeister, der Arzt,[9] der Lehrer, der Bergführer,[10] aber auch Mitarbeiter kommunaler Jugendämter und Sozialdienste[11]. Ihre Pflicht besteht jeweils gegenüber den in der konkreten Situation befindlichen Schutzbedürftigen, beispielsweise beim Lehrer gegenüber den gerade beaufsichtigten Schülern.[12]

Die Übernahme einer solchen Garantenpflicht setzt, wie schon erwähnt, nicht etwa das Bestehen einer wirksamen zivilrechtlichen Verpflichtung oder ähnlichem voraus.[13] Entscheidend ist vielmehr allein die tatsächliche Übernahme des Schutzes für die bedrohten Rechtsgüter.[14] Wie aber ist eine solche "tatsächliche Übernahme" näher zu bestimmen? Eine bloße sittliche Pflicht genügt nicht.[15] Ebenso wenig ausreichend ist die bloße Tatsache, dass von Seiten des Bedrohten in das Eingreifen des potenziellen Garanten vertraut wird.[16] Es muss sich vielmehr um ein "berechtigtes" Vertrauen handeln, der Schutzbedürftige muss in das Eingreifen des Garanten vertrauen dürfen.[17] Hinweise darauf können sein, wenn auf andere Schutzmöglichkeiten verzichtet oder auf rechtlich anerkannte, sozial verfestigte Gewährleistungen vertraut wird.[18]

III. "Notinseln" im Lichte der überkommenen Beschützergarantendogmatik

Fallen nun die Betreiber von "Notinseln" unter die soeben aufgeführten Voraussetzungen? Wenn ja, so finden sie sich in einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit für das Unterlassen von Schutzmaßnahmen wieder, die weit über die für jeden geltende Norm der unterlassenen Hilfeleistung, § 323c StGB, hinaus geht. Des Weiteren könnten sich auch durchaus empfindliche zivilrechtliche Folgen ergeben.

1. "Notinsel"-Betreiber als Beschützer­garanten

Wer sich das Symbol der "Notinsel" ins Schaufenster oder an die Eingangstür hängt, gibt damit eine scheinbar eindeutige Botschaft kund: "Wo wir sind, bist Du sicher". Zusammen mit der Abbildung von Kinderfiguren wird damit der Öffentlichkeit bekannt gegeben, dass die im Geschäft oder einer ähnlichen Stätte anwesende erwachsene Person für das Wohlergehen Schutz suchender Minderjähriger sorgen werde. Eine Beschränkung auf beruhigendes Zureden oder ein Verständigen der Eltern ist dem nicht zu entnehmen. Vielmehr ist Zweck der Idee eben der Schutz vor allen möglichen Gefahren, seien es "Mitschüler, Diebe, Pädokriminelle".[19] Mit dieser Aussage soll gerade ein Vertrauen der Kinder auf den Erhalt von Schutz aufgebaut werden, die sich in einem derart sicheren Umfeld dann keine Gedanken mehr über andere Schutzmöglichkeiten machen müssen. Durch die inzwischen bundesweite Verbreitung der "Notinsel" kann auch von einer sozialen Verfestigung dieser Institution gesprochen werden, mit der eine Kenntnis der zu erwartenden Hilfe durch "Notinsel"-Betreiber in der Öffentlichkeit einhergeht.

All dies ergibt damit nach den aufgeführten Kriterien einen geradezu klassischen Fall einer Beschützergarantenstellung. Wer eine "Notinsel" unterhält, ist nach der überkommenen Auffassung also rechtlich verpflichtet i.S.d. § 13 Abs. 1 StGB, zu unterbinden, dass sich straftatbestandliche Erfolge zu Lasten Schutz suchender Kinder verwirklichen. Unter Umständen könnte dies sogar für den im Laden eines "Notinsel"-Betreibers arbeitenden Angestellten gelten. Dies würde zumindest nicht dadurch verhindert, dass eine solche Pflicht wohl kaum Eingang in den Arbeitsvertrag mit dem Ladeninhaber gefunden haben wird; eine vertragliche Verpflichtung ist ja gerade nicht Voraussetzung einer Überwachungsgarantenstellung.[20] Jedenfalls aber träfe die Garantenpflicht denjenigen, der sich zum Betrieb der "Notinsel" entschieden hat und diese unterhält.

2. Konsequenzen einer Stellung als Garant

Aus der Einstufung als Beschützergarant ergeben sich vielfältige Konsequenzen. Wie schon angedeutet können diese nicht nur strafrechtlicher, sondern letztlich auch zivilrechtlicher Art sein.

Was das konkret bedeutet, soll das folgende Beispiel verdeutlichen:

Das minderjährige K wird schon seit längerem vom 14-jährigen Mitschüler M "gemobbt". Eines Tages geht K mit seinem neuen MP3-Spieler durch die Stadt und trifft dabei auf den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden M. Dieser fordert K auf, ihm das Gerät "auszuleihen". K weigert sich und flieht nach einer kurzen Auseinandersetzung in ein mit dem Symbol "Notinsel" gekennzeichnetes Geschäft, in dem nur der Ladeninhaber I zugegen ist. M verfolgt das K und stellt es im Ladenraum. M reißt nach einem längeren Wortgefecht und diesbezüglichen Drohungen schließlich den MP3-Spieler an sich und wirft ihn genüsslich auf den Boden, wodurch das Gerät irreparabel beschädigt wird. I hat die Szene die ganze Zeit beobachtet und war sich bewusst, dass das Streitobjekt durch die Rangelei wohl letztlich entzwei gehen würde. Er hatte aber "keine Lust", sich in diesen "Dumme-Jungen-Streich" einzumischen.

a) Strafrechtliche Konsequenzen

Im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB ist der Beschützergarant tauglicher Täter so genannter unechter Unterlassungsdelikte. Wendet er den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs nicht ab, so ist er in gleichem Maße strafbar, wie wenn er den Erfolg durch positives Tun selbst herbeigeführt hätte.[21] Sachbeschädigung nach § 303 Abs. 1 StGB ist ein solches denkbares unechtes Unterlassungsdelikt. Der I könnte daher strafbar wegen Sachbeschädigung durch Unterlassen zu Lasten des K sein.

Für eine solche Strafbarkeit sind letztlich die folgenden Elemente erforderlich: der Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs, die Nichtvornahme der zur Erfolgsabwendung erforderlichen Handlung, die Möglichkeit, diese Handlung vorzunehmen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erfolgte Vermeidung des Erfolgs im Falle des Eingreifens (sog. Quasi-Kausalität[22]) und die Garantenstellung.[23] Hinzu kommen natürlich Vorsatz, Rechtswidrigkeit und Schuld. Bezogen auf den Beispielsfall ergibt sich, dass der MP3-Spieler des K zerstört ist, I nichts dagegen unternahm, obwohl er die Möglichkeit gehabt hätte, und ein Eingreifen des körperlich überlegenen I mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch zur Abwendung des Erfolgs geführt hätte. Wie dargelegt, ist I nach der überkommenen Auffassung auch Garant. Er war sich auch des möglichen Erfolgs bewusst und nahm diesen in Kauf, hatte somit zumindest bedingten Vorsatz. Auch wenn I nicht weiß, dass er rechtlich als Garant zu betrachten ist, hilft ihm das nicht weiter: es ist ausreichend, dass er sich der Umstände bewusst ist, die die Garantenpflicht für ihn begründen — hier also seines

Betreibens einer "Notinsel".[24] An Rechtswidrigkeit und Schuld bestehen keine Zweifel.

Gegen eine Strafbarkeit könnte man einwenden, dass es mit M ja bereits einen Täter gibt – schließlich hat dieser den MP3-Spieler des K eigenhändig zerstört. Das kann aber I nicht entlasten. Zwar ist höchst umstritten, nach welchen Kriterien der Unterlassende neben einem aktiv Handelnden entweder als sog. Nebentäter[25] oder als Teilnehmer zu behandeln ist — dies bedarf hier aber keiner näheren Ausführung.[26] Ausreichend ist die unbestrittene Feststellung, dass eine Strafbarkeit des Unterlassenden nicht deswegen ausscheidet, weil daneben noch eine dritte Person den Tatbestand durch positives Tun verwirklicht.[27]

Somit bestünde im Beispielsfall eine Strafbarkeit des I wegen Sachbeschädigung oder zumindest Teilnahme daran. Das hinterlässt beim "juristischen Laien" durchaus zu Recht ein ungutes Gefühl. Diese potenzielle Strafbarkeit ist dabei natürlich nicht auf Eigentumsdelikte beschränkt. Auch andere, unter Umständen schwerwiegendere Straftaten könnten so durch Unterlassen verübt werden, sei es Körperverletzung z. B. durch Fremde oder auch Eltern[28] und Schlimmeres.

b) Zivilrechtliche Konsequenzen

Dabei ist es mit einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit noch nicht getan. Damit einhergehen können auch zivilrechtliche Ansprüche. Um beim Beispielsfall zu bleiben: Was, wenn die Eltern des K den MP3-Spieler ersetzt haben möchten? Natürlich könnten sie sich auch an M wenden, jedoch dürfte dies mit einem nicht unerheblichen Durchsetzungsrisiko verbunden sein. Sicherer ist es da doch, Ersatz beim solventeren I zu suchen. Dieser haftet nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 303 Abs. 1 StGB, denn § 303 Abs. 1 StGB hat den Charakter eines dafür notwendigen Schutzgesetzes.[29]

Auch hier hilft I nicht weiter, dass neben ihm der Täter M existiert: Gemäß § 840 Abs. 1 BGB haftet er als Gesamtschuldner. Das gilt auch denn, wenn man sein Verhalten "nur" als Teilnahme, nicht als Täterschaft einstufen würde.[30] I müsste also für den entzwei gegangenen MP3-Spieler zahlen.

3. Fazit

Bei unreflektierter Betrachtungsweise der überkommenen Grundsätze sieht sich zumindest der Betreiber einer "Notinsel" damit erheblichen Risiken ausgesetzt, die im – zugegebenermaßen sehr unwahrscheinlichen – Extremfall sogar bis hin zur Strafbarkeit wegen eines Tötungsdelikts durch Unterlassen führen könnten, wenn nicht eingegriffen wird.

Es ist zweifelhaft, ob sich die wohlmeinenden Betreiber der "Notinseln" dieser Gefahren bewusst sind. Noch zweifelhafter ist, ob sie ihr gesellschaftlich begrüßenswertes Engagement weiter fortführten, wenn sie es wären. Dennoch sind die geschilderten Risiken auf Basis der überkommenen Meinung unausweichlich. Dass diese aber nicht zwingend ist, zeigt der nächste Teil.

IV. Ausweg: Teleologische Reduktion von Beschützergarantenstellungen bei "sozialadäquatem Verhalten"

Mit dem Schild "Notinsel" gekennzeichnete Geschäfte und Behörden sind keine besonders geschützten oder ausgewählten Sicherheitsräume. Vielmehr handelt es sich um gewöhnliche Geschäfte, die sich von anderen nur durch den entsprechenden Aufkleber an der Tür unterscheiden. In der Tat werden sich, sobald die "Notinsel" von einer Kommune eingeführt wurde, meist so gut wie alle Geschäfte dieser Initiative anschließen.[31] Im Grunde genommen wollen die "Notinsel"-Betreiber mit dem Anbringen des Signets nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringen: Dass in Not geratenen Kindern geholfen wird, so wie dies jeder davon Kenntnis erlangende Bürger tun sollte.[32] An dieser Erkenntnis liegt auch der Ansatzpunkt für einen sachgerechten Umgang mit der geschilderten Problematik.

Der Betreiber einer "Notinsel" verhält sich mit dem Anbringen des Schildes und der damit verbundenen Schutzzusage so, wie die Umgebung es von jedem Gesellschaftsmitglied erwarten würde. In der Tat fiele negativ auf, wer sich in einer Kommune, in der das System etabliert ist, dem Anschluss daran verweigert. Die Teilnahme

an der "Notinsel" wird daher sozial erwartet, sie ist "sozialadäquat". Auch wenn es bei einer ersten Analyse den Anschein haben mag, so ist mit dieser Teilnahme gerade nicht die Übernahme einer herausragenden, gegenüber anderen Gesellschaftsmitgliedern qualifizierten Schutzpflicht verbunden. Man mag argumentieren, dass mit der Eröffnung eines öffentlichen Raumes durch einen Geschäftsmann eben doch erhöhte Schutzpflichten verknüpft sind. Solche "Verkehrssicherungspflichten"[33] bestehen aber gerade nur für Gefahren, die aus dem Geschäft o. Ä. heraus anderen drohen, nicht für Gefahren, die von außen herein getragen werden. Es gehört nicht zum typischen Berufsbild eines Kaufmanns oder Angestellten, für die Sicherheit minderjähriger Kunden zu sorgen. Das unterscheidet ihn gerade vom Lehrer oder Bademeister, den "Prototypen" der Beschützergaranten kraft Übernahme.[34] Diese sind sich schon bei Wahl des Berufs bewusst, dass sie eine höhere Schutzverantwortung treffen wird als "normale" Gesellschaftsmitglieder.

Wenn aber letztlich durch die mittels des Anbringens eines "Notinsel"-Schildes nach außen erkennbare Übernahme einer Schutzpflicht nicht mehr kundgetan wird, als die "Pflicht eines jeden Bürgers" erfüllen zu wollen, so entspricht dies nicht dem Bild des § 13 StGB. Dieser sieht eine Strafbarkeit vor, wenn die Pflichten des Normadressaten zur Abwendung von Erfolgen gegenüber anderen gesteigert sind.[35] Wenn letztlich aber doch nur "Jedermannspflichten" übernommen werden, die nur aufgrund einer sozialen Erwartung gesondert gekennzeichnet werden, so ist für die massive Strafbarkeitsausdehnung des § 13 StGB kein Raum.

Die Ausscheidung solchen "sozialadäquaten" oder "berufstypischen" Verhaltens aus dem Katalog strafbarkeitsbegründender Vorgehensweisen ist dabei kein Neuland. Im Rahmen der Beihilfe, bspw. des Verkaufs eines Messers an den späteren Mörder, wurden diese ausführlich diskutiert.[36] Die dazu entwickelten Ansätze können auch hier fruchtbar gemacht werden: Wer eine Handlung vornimmt, die nach außen hin zwar wie die Übernahme einer gesteigerten Schutzverpflichtung wirkt, in Wirklichkeit aber nur die Manifestation eines von jedermann zu erwartenden und erwarteten Verhaltens darstellt, begründet damit für sich keine ausreichende Pflichtensteigerung, um in den Geltungsbereich des § 13 StGB einzudringen. Plakativ gesagt: Die Übernahme "sozialadäquater Verantwortung" mit dem Strafbarkeitsrisiko des § 13 StGB zu sanktionieren, ist schlicht sozial inadäquat und daher nicht geboten.

V. Zusammenfassung

Betreiber von Geschäften oder ähnlichen Institutionen und deren Angestellte, die das Zeichen der "Notinsel" anbringen, kommen dadurch nicht in die Gefahr weit reichender Strafbarkeitsrisiken nach § 13 StGB. Für die Übernahme einer Beschützergarantenstellung fehlt es dabei an dem Merkmal einer über das übliche Sozialverhalten hinausgehenden Schutzpflicht.

Dieses Ergebnis ergibt sich daraus, dass bloße "sozialadäquate" Einstandsbekundungen aus dem Bereich der Übernahme einer Beschützergarantenpflicht auszuscheiden sind. Dies findet in den von der herrschenden Meinung derzeit vertretenen Voraussetzungen für eine Beschützergarantenstellung nicht ausreichend Rechnung. Es ist des Weiteren nicht auf den geschilderten Fall der "Notinsel" beschränkt, sondern sollte als allgemeine Erwägung in die diesbezügliche Dogmatik einbezogen werden.


[1] Nähere Informationen zum Projekt unter www.notinsel.de.

[2] Eine detaillierte Aufstellung ist unter http://www.notinsel.de/notinsel_de/standorte/standorte.php abrufbar.

[3] Vgl. Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. (2006), § 13 Rn. 1.

[4] Stree, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 13 Rn. 9; Heuchemer, in: BeckOK-StGB, § 13 Rn. 35 ff.; vgl. BGH NJW 2003, 522, 525.

[5] Vgl. Heuchemer, in: BeckOK-StGB, § 13 Rn. 37; Freund, in: MüKo-StGB, 1. Aufl. (2003), § 13 Rn. 101.

[6] Vgl. Heuchemer, in: BeckOK-StGB, § 13 Rn. 36; Stree, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 13 Rn. 9.

[7] Weigend, in: LK, 12. Aufl. (2006), § 13 Rn. 26; Stree, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 13 Rn. 10; Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 5), § 13 Rn. 92.

[8] Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 5), § 13 Rn. 161; Stree, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 13 Rn. 26 ff.; vgl. BGH 2009, 3173, 3174, Rn. 23 ff. = HRRS 2009 Nr. 718.

[9] Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 5), § 13 Rn. 161.

[10] Stree, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 13 Rn. 10.

[11] OLG Stuttgart NStZ 1998, 582.

[12] Stree, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 13 Rn. 30a.

[13] Stree, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 13 Rn. 28 m. Verw. a. RGSt 16 269.

[14] BGH NJW 2002, 1887, 1888; Stree, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 13 Rn. 28; Tag, in: Handkommentar Gesamtes Strafrecht, 1. Aufl. (2008), § 13 StGB Rn. 20.

[15] BGHSt 19, 167; Tag, in: Handkommentar Gesamtes Strafrecht (Fn. 14), § 13 StGB Rn. 14.

[16] Wohlers, in: NomosKommentar-StGB, 2. Aufl. (2005), § 13 Rn. 34.

[17] Wohlers, in: NomosKommentar-StGB (Fn. 16), § 13 Rn. 34.

[18] Weigend, in: LK (Fn. 7), § 13 Rn. 34; Wohlers, in: NomosKommentar-StGB (Fn. 16), § 13 Rn. 34; Otto NJW 1974, 528, 534.

[19] http://www.notinsel.de/notinsel_de/projekt/hintergrund.php?navid=3.

[20] Vgl. Fn. 8.

[21] Die fakultative Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB gemäß § 13 Abs. 1 StGB einmal außen vor gelassen.

[22] Vgl. Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 5), § 13 Rn. 201.

[23] Eine Prüfung der sog. Entsprechungsklausel entfällt nach h.M. bei reinen Erfolgsdelikten, vgl. Stree, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 13 Rn. 4; a.A. wohl Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 5), § 13 Rn. 190 ff.

[24] Vgl. Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 5), § 13 Rn. 225; Heuchemer, in: BeckOK-StGB, § 13 Rn. 71.

[25] Vgl. zum Begriff der Nebentäterschaft Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), 25 Rn. 100. Der Terminus als solcher wird vielfach für überflüssig gehalten, vgl. Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 5), § 13 Rn. 258 Fn. 359 m.w.N., ohne dass die Strafbarkeit des "Nebentäters" in solchen Konstellationen in Zweifel gezogen wird.

[26] Vgl. dazu ausführlich Becker HRRS 2009, 242, 244 ff. sowie Joecks, in: MüKo-StGB (Fn. 5), § 25 Rn. 233 ff.

[27] Vgl. Hardtung, in: MüKo-StGB (Fn. 5), § 224 Rn. 32 mit dem Beispiel des Gewährenlassens eines Elternteils, der das Kind verprügelt, durch den anderen; Eschelbach, in: BeckOK-StGB, § 340 Rn. 17 mit dem Beispiel des Nichteingreifens eines Polizisten bei Beobachtung einer Prügelei.

[28] Auch das Vorhandensein eines anderen Garanten hindert nicht die Strafbarkeit der weiteren Garanten, vgl. Hardtung, in: MüKo-StGB, § 224 Rn. 32.

[29] AG Schöneberg NJW-RR 1987, 1316, 1317.

[30] Vgl. BGH NJW 1984, 2087; Spindler, in: BeckOK-BGB, § 840 Rn. 3.

[31] Die Webseite der Stiftung gibt einen guten Überblick über die jeweils an den einzelnen Standorten vorhandenen Partner: http://www.notinsel.de/notinsel_de/standorte/standorte.php?navid=20. So sind bspw. in der baden-württembergischen Stadt Sinsheim bei 35.000 Einwohnern 78 "Notinseln" registriert, was praktisch dem gesamten Einzelhandel entspricht.

[32] Konsequenterweise spricht die Kinder-Seite der "Notinsel" dann auch davon, dass man sich seine eigenen "Notinseln" mit hilfsbereiten Menschen schaffen könne: http://www.notinsel.de/notinsel_de/kinder/notinsel.php?navid=17.

[33] Vgl. zum Begriff Stree, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 13 Rn. 43 sowie zur zivilrechtlichen Seite Wagner, in: MüKo-BGB, 5. Auflage (2009), § 823 Rn. 243.

[34] Vgl. Fn. 9 und 10.

[35] Vgl. Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 5), § 13 Rn. 74 ff. und 84.

[36] Vgl. nur Joecks, in: MüKo-StGB (Fn. 5), § 27 Rn. 41 ff.; Rackow, in: BeckOK-StGB, Lexikonbeitrag "Neutrale Handlungen".