HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2009
10. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

1090. EGMR Nr. 29705/05 – Entscheidung vom 2. Juni 2009 (Kunkel v. Deutschland)

Recht auf Freiheit der Person und Recht auf Akteneinsicht (Recht auf ein faires Verfahren; Waffengleichheit; Gefährdung des Untersuchungszwecks; Untersuchungshaft; Haftprüfungsverfahren); Streichung aus dem Register nach Anerkennung der Verletzung durch die Bundesregierung (Widerspruch des Beschwerdeführers); Korruptionsverfahren; gerechte Entschädigung; redaktioneller Hinweis.

Art. 5 Abs. 1, Abs. 4 EMRK; Art. 6 EMRK; Art. 41 EMRK; § 147 Abs. 2 StPO; Art. 37 EMRK; Art. 38 Abs. 1 lit. b EMRK; § 299 StGB; § 331 StGB

1. Einzelfall der Anerkennung der konventionswidrigen Verweigerung der Akteneinsicht in deutschen Ermittlungsverfahren durch die deutsche Bundesregierung.

2. Der EGMR kann unter bestimmten Umständen eine Beschwerde nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention auch dann aufgrund einer einseitigen Anerkennung der behaupteten Verletzung durch die beschwerdegegnerische Regierung aus dem Verfahrensregister streichen, wenn der Beschwerdeführer die weitere Prüfung der Rechtssache wünscht. Zu diesem Zweck prüft der Gerichtshof die Anerkennungserklärung sorgfältig darauf, ob die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, eine weitere Prüfung der Beschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine der Konvention).


Entscheidung

1116. BVerfG 2 BvR 2580/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 6. Oktober 2009 (BGH/LG Münster)

Fristsetzung zur Stellung von Beweisanträgen im Strafverfahren; Ablehnung vom Hilfsbeweisanträgen erst im Urteil; Verschleppungsabsicht; richterliche Rechtsfortbildung; faires Verfahren; Beschleunigungsgrundsatz; Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege; Opferschutz; redaktioneller Hinweis.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 EMRK; § 244 Abs. 2 StPO; § 244 Abs. 3 StPO; § 244 Abs. 6; § 246 Abs. 1 StPO

1. Den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen zu setzen und hiernach gestellte Anträge im Einzelfall wegen Prozessverschleppung nach § 244 Abs. 3, Satz 2, 6. Alt. StPO abzulehnen (vgl. BGHSt 51, 333), stellt weder eine unzulässige richterliche Rechtsfindung dar (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), noch wird dadurch der Angeklagte in seinem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. 2. Die Fristsetzung zur Stellung von Beweisanträgen bedeutet keine Ausschlussfrist, sondern führt im Fall ihrer Nichtwahrung durch die Verfahrensbeteiligten dazu, dass das Gericht „signifikante Indizien“ für das Vorliegen einer Voraussetzung des Ablehnungsgrundes der Prozessverschleppung annehmen kann. Neben den objektiven Voraussetzungen des § 244 Abs. 3, Satz 2, 6. Alt. StPO, wonach die verlangte Beweiserhebung nach Ansicht des Gerichts nichts Sachdienliches zugunsten des Antragstellers erbringen kann und des weiteren geeignet ist, den Abschluss des Verfahrens wesentlich hinauszuzögern, muss in subjektiver Hinsicht gerade hinzukommen, dass sich der Antragsteller der Nutzlosigkeit der Beweiserhebung bewusst ist und er ausschließlich die Verzögerung des Verfahrens bezweckt.

3. Es ist auch weiterhin ausgeschlossen, einen Beweisantrag allein aufgrund eines zeitlich verzögerten Vorbringens abzulehnen.

4. Die Fristsetzung lässt die Pflicht zur Ermittlung des wahren Sachverhalts unberührt. Selbst wenn aus der Antragstellung nach Fristablauf und etwaigen weiteren Indizien das Vorliegen der Verschleppungsabsicht offensichtlich ist, muss das Gericht prüfen, zu welchem Ergebnis der Antrag führen kann. Nur wenn es überzeugt ist, dass die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches ergeben wird, darf es den Antrag nach § 244 Abs. 3, Satz 2, 6. Alt. StPO ablehnen.

5. Eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen kann im Allgemeinen erst dann gesetzt werden, wenn das Gericht seinerseits davon überzeugt ist, alles zur Erforschung der Wahrheit (§ 244 Abs. 2 StPO) Erforderliche unternommen zu haben. Dies setzt grundsätzlich eine Beweisaufnahme und regelmäßig ein bereits länger andauerndes Hauptverfahren voraus.

6. Die Ablehnung von Hilfsbeweisanträgen wegen Verschleppungsabsicht erst im Urteil verstößt nicht gegen das Grundrecht des Angeklagten auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs.1 und Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, wenn der Verteidigung zuvor eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen gesetzt worden ist.

7. Zwar hat der Angeklagte das Recht, sich an der Aufklärung des wahren Sachverhalts durch die Stellung von Beweisanträgen aktiv zu beteiligen (vgl. BVerfGE 57, 250, 279 f.). Jedoch ergeben sich aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens weder einzelne, mit Verfassungsrang ausgestattete Beweiserhebungsansprüche noch konkrete Folgerungen für die Behandlung eines Beweisantrags.

8. Verfahrensgestaltungen, die den Erfordernissen einer wirksamen Strafrechtspflege dienen, verletzen nicht von vornherein den grundrechtlichen Anspruch auf ein faires Strafverfahren, wenn verfahrensrechtliche Positionen des Angeklagten oder Beschuldigten dabei, gemessen am früheren Zustand, zurückgenommen werden (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Januar 2009 – 2 BvR 2044/07 –, NJW 2009, 1469, 1474).

9. An das Vorliegen sachlicher Gründe für den Zeitpunkt der Antragstellung dürfen keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Die Strafprozessordnung kennt weder einen Ablehnungsgrund der „mangelnden Plausibilität“, noch grundsätzlich das Erfordernis, Ausführungen zu zeitlichen Momenten der Antragstellung zu machen. Das Gericht hat im Einzelfall zu prüfen, von welcher Gewichtigkeit die Indizien für das Vorliegen der Verschleppungsabsicht sind und hiervon ausgehend die Anforderungen an ihre Widerlegung zu bemessen.


Entscheidung

1113. BVerfG 2 BvR 256/09 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 13. Oktober 2009 (OLG Bamberg/AG München/StA München I)

Freier Verteidigerverkehr (Abgrenzung; unmittelbarer Zusammenhang mit dem Strafverfahren; keine Übergabe verfahrensfremder Schriftstücke); Berufsfreiheit; Verletzung von Privatgeheimnissen (Postkontrolle; Unbefugtheit).

Art. 12 Abs. 1 GG; § 148 Abs. 1 StPO; § 119 Abs. 3 StPO; § 115 Abs. 1 Nr. 1 OWiG; § 203 StGB

1. Ein unbefugtes Handeln i.S.v. § 115 Abs. 1 Nr. 1 OWiG liegt dann nicht vor, wenn sich die Weitergabe von Post im Rahmen des durch § 148 StPO gestatteten ungehinderten Verkehrs zwischen dem Verteidiger und dem Beschuldigten hält. Dieser Verkehr ist jedoch nur zu Zwecken der Verteidigung frei (vgl. BVerfGE 46, 1, 12; 49, 24, 48).

2. Die Auffassung, nach der der freie Verteidigerverkehrs nur in der Weise ausgeübt werden kann, als er unmittelbar der Vorbereitung der Verteidigung dient, mithin nur solche Schriftstücke umfasst, die unmittelbar das Strafverfahren betreffen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

3. Bei § 115 Abs. 1 Nr. 1 OWiG handelt es sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Daher ist es unerheblich, ob ein nicht der Postkontrolle zugeführtes Schreiben im Ergebnis tatsächlich geeignet war, die Ordnung der Anstalt oder die effektive Strafverfolgung zu gefährden.


Entscheidung

1115. BVerfG 2 BvR 2438/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 15. Oktober 2009 (BGH/LG Karlsruhe)

Heimliche Ermittlungsmaßnahmen gegen Angehörige des Beschuldigten (Umgehung des Zeugnisverweigerungsrechts; Verwertung); Menschenwürde; Anspruch auf ein faires Verfahren.

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO; § 160a StPO; § 100f Abs. 2, 3 StPO

1. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht – auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte – ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde (vgl. BVerfGE 57, 250, 276; 64, 135, 145 f.).

2. Der in verschiedenen Vorschriften des Strafverfahrensrechts garantierte Schutz des Angehörigenverhältnisses (vgl. § 52 Abs. 1, Abs. 3, § 97 Abs. 1, § 100c Abs. 6, § 252 StPO) gehört in seinem Kernbestand zu den rechtsstaatlich unverzichtbaren Erfordernissen eines fairen Verfahrens.

3. Das Recht auf ein faires Verfahren erfordert nicht, dass Gespräche eines nach § 52 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen mit einem Dritten, welche ausserhalb einer Vernehmungssituation geführt wurden und bei denen das Zeugnisverweigerungsrecht auch nicht durch eine bewusste und gezielte Ausforschung der zeugnisverweigerungsberechtigten Person umgangen werden sollte, einem Verwertungsverbot unterliegen.

4. Die Menschenwürde des Beschuldigten, schützt auch einen Kernbereich vertraulicher Kommunikation und deren räumliches Substrat, das insbesondere in der Privatwohnung besteht (vgl. BVerfGE 109, 279, 313 f.). Daraus folgt jedoch kein besonderer Schutz von Gesprächen eines Angehörigen mit Dritten.

5. Das Verwertungsverbot des § 100c Abs. 6 StPO lässt sich nicht auf eine Konstellation übertragen, in der in Abwesenheit des Beschuldigten ein Angehöriger mit einem Dritten ein Gespräch in einem Pkw führt.

6. Die besondere Privilegierung von nach § 53 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Personen gemäß § 160a Abs. 1 Satz 2 und 5, Abs. 2 Satz 3 StPO gegenüber zeugnisverweigerungsberechtigten Personen nach § 52 StPO ist keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG.


Entscheidung

1114. BVerfG 2 BvR 547/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 8. Oktober 2009 (BGH/LG Marburg)

Faires Verfahren; Recht auf unmittelbare und konfrontative Befragung von Belastungszeugen (Fragerecht; anonyme Zeugen; Sperrung; Maßnahmen zum Schutz der Zeugen; Beweiswürdigung); redaktioneller Hinweis.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. d EMRK; § 68 StPO; § 247a StPO

1. Das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) ist nicht schon bereits dann verletzt, wenn die Aussage eines Belastungszeugen verwertet wird, den der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt konfrontativ befragen konnte. Entscheidend ist vielmehr, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und würdigung fair war. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob der Umstand, dass der Angeklagte keine Gelegenheit zur konfrontativen Befragung hatte, der Justiz zuzurechnen ist.

2. Ein Ausschluss des Fragerechts führt regelmäßig nicht zu einem Beweisverwertungsverbot im Hinblick auf die nicht konfrontierte Aussage. Vielmehr kann ein solches Defizit auch noch im Rahmen der abschließenden Beweiswürdigung ausgeglichen werden.

3. Es gibt keinen Verfassungsrechtssatz, der besagt, dass bei der Verwendung von Aussagen nicht konfrontativ befragter Zeugen die Beweiswürdigung des Strafrichters in jedem Fall auch dann Bestand haben muss, wenn die Aussage des nicht konfrontierten Belastungszeugen hinweg gedacht wird. Dies zu verlangen käme der Annahme eines Verwertungsverbots nahe, das von Verfassungs wegen gerade nicht geboten ist.

4. Die Leitlinien des BGH zur Handhabung des Beschuldigtenrechts auf konfrontative Befragung von Belastungszeugen und zur Verwertbarkeit nicht konfrontierter Aussagen bei der Urteilsfindung (vgl. BGHSt 46, 93, 94 ff.; 51, 150, 154) genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen.