HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2009
10. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Binnenmarktförderung durch Speicherpflichten?

Anmerkung zu EuGH, Az. C-301/06 = HRRS 2009 Nr. 297 (Vorratsdatenspeicherung)

Von Prof. Dr. Diethelm Klesczewski, Universität Leipzig

Mit dem hier zu besprechenden Urteil des EuGH geht die Auseinandersetzung um die Vorratsdatenspeicherung in eine neue Runde. Nicht nur die Gegner der Vorratsdatenspeicherung haben eine Niederlage erlitten. Zudem hat das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 249 Abs. 1 EGV, Art. 5 EUV) Schaden genommen.

Das Urteil des EuGH ist auf eine Nichtigkeitsklage der Republik Irland ergangen, welche auf den Kassationsgrund der Unzuständigkeit eingeschränkt war. Dementsprechend hatte der EuGH die streitgegenständliche Richtlinie 2006/64 EG nur auf ihre formelle Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Zwar sind im Verfahren auch Bedenken gegenüber der Vereinbarkeit der Richtlinie mit Art. 8 EMRK geäußert worden.[1] Diese Bedenken bestehen meines Erachtens auch zu Recht.[2] Doch hatte sich der EuGH mit diesen Fragen nicht zu befassen. Meine Anmerkung beschränkt sich daher ebenfalls auf die kompetenzrechtlichen Fragen.

Gegenstand des Verfahrens war die Richtlinie 2006/64 EG (I.). Der EuGH geht davon aus, dass Art. 95 EGV zu Recht als Rechtsgrundlage gewählt wurde (II.). An dieser Würdigung sieht er sich auch nicht gehindert durch sein eigenes Urteil über die Nichtigkeit des Beschlusses des Rates über den Abschluss eines Übereinkommens der EG mit den USA über die Verarbeitung von Fluggastdaten[3] (III.). Beide Argumentationslinien überzeugen nicht.

I.

Die Richtlinie 2006/64 EG bezweckt ausweislich ihres Art. 1 Abs. 1, die Vorschriften der Mitgliedsstaaten zur Verpflichtung von Diensteanbietern zur Vorratsdatenspeicherung zu harmonisieren, um sicherzustellen, dass diese Daten zur Verfolgung von schweren Straftaten zur Verfügung stehen. Die Vorgaben gehen dahin, Maßnahmen zu treffen, damit die Diensteanbieter Verkehrs- und Standortdaten für mindestens sechs Monate auf Vorrat speichern, Art. 1 Abs. 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 6. Dabei stellt es Art. 12 Abs. 1 den Mitgliedsstaaten frei, längere Speicherungsfristen oder auch die Speicherung anderer Datenarten vorzusehen. In Art. 5 Abs. 1 findet sich ein Katalog der vorzuhaltenden Daten, zu denen vor allem die Rufnummer oder Benutzerkennung der beteiligten Anschlüsse, Name und Anschrift der beteiligten Nutzer, Datum, Uhrzeit von Anfang und Ende des Kommunikationsvorgangs, den in Anspruch genommenen Dienst, bei mobilen Anschlüssen auch die Geräte- und Kartennummer sowie die Standortkennung zählen. Diese Daten sind freilich nur insofern zu speichern, soweit sie anfallen, wenn die betreffenden Kommunikationsdienste bereitgestellt werden, Art. 3 Abs. 1.

II.

Der EuGH sieht Art. 95 EGV als einschlägige Rechtsgrundlage für diese Richtlinie an. Dabei geht er im Ansatz richtig davon aus, dass sich die Wahl der Rechtsgrundlage auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen muss und dabei insbesondere Ziel und Inhalts in den Blick zu nehmen ist.[4] Darüber hinaus führt er auch zutreffend die Kriterien an, denen ein nach Art. 95 Abs. 1 EGV erlassener Rechtsakt zu genügen hat. Danach darf eine Binnenmarktrechtsangleichung nur dann durchgeführt werden, wenn Unterschiede in den nationalen Regelungen sich unmittelbar auf das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken, indem sie geeignet sind, die Grundfreiheiten zu beeinträchtigen oder den Wettbewerb zu verzerren.[5]

1. Diese Situation sieht der EuGH als gegeben an. Er kann dabei überzeugend auf die teilweise tief greifenden Unterschiede der nationalen Regelungen verweisen, welche die Kommission im Hinblick auf die Arten der zu speichernden Daten und namentlich auf die Länge der Speicherfristen anführt.[6] Diese Divergenzen sind durchaus geeignet, den Wettbewerb zwischen Diensteanbietern verschiedener Mitgliedsländern zu verzerren. Das Vorhalten und Betreiben von Verkehrsdatenbanken belastet die betroffenen Anlagenbetreiber in erheblichem Ausmaß. Die Vorratsdatenspeicherung führt zu einem Mehraufwand in mehrstelliger Millionenhöhe.[7] Dementsprechend stellt es einen spürbaren Wettbewerbsnachteil dar, wenn der eine Diensteanbieter in dem einen Mitgliedsland (z. B. Niederlande) Daten nur drei Monate auf Vorrat speichern muss, ein anderer in einem anderen Land (z. B. in Irland) dagegen bis zur vier Jahre.[8]

2. Für die Wahl von Art. 95 EGV als Rechtsgrundlage reicht jedoch ein solcher Bedarf zur Rechtsangleichung allein nicht aus. Nach dieser Vorschrift dürfen nur Rechtsakte erlassen werden, die nach Inhalt und Ziel gerade auf Verbesserung des Binnenmarktes gerichtet sind.[9] Nicht von Art. 95 EGV gedeckt sind insbesondere Maßnahmen, die einen negativen Binnenmarkteffekt haben, indem sie (wie z. B. ein Tabakwerbeverbot) bestimmte Wirtschaftstätigkeit unterbinden oder behindern.[10] So liegt der Fall aber hier. Die Richtlinie dient ja nicht dazu, die unterschiedlichen nationalen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung, die zu einer Wettbewerbsverzerrung führen, abzuschaffen. Stattdessen führt sie dazu, den Wettbewerbsnachteil, der in einer Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung besteht, europaweit zu generalisieren. Das lässt sich nicht auf Art. 95 EGV stützen.

3. Darüber hinaus ist zu bezweifeln, ob die Richtlinie wirklich geeignet ist, die festgestellten Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen. Diese sieht die Kommission vornehmlich darin, dass die Speicherfristen schwanken zwischen drei Monaten und vier Jahren.[11] Warum die Erhöhung der Mindestspeicherfrist gerade mal um drei Monate die Wettbewerbsverzerrungen signifikant soll mildern können, ist nicht plausibel, wenn ein mehrjährige Speicherdauer weiterhin in einzelnen Mitgliedsländern vorgeschrieben bleibt.

4. Nimmt man all' dies zusammen, dann stellt es die Dinge auf den Kopf, den Zweck der Richtlinie 2006/64 EG primär in der Binnenmarktharmonisierung zu erblicken. Zwar trifft es zu, dass die Richtlinie den Mitgliedsstaaten allein Vorgaben macht, die Diensteanbieter zu einer bestimmten Art und Dauer der Vorratsdatenspeicherung zu verpflichten. Für sich genommen führt die Vorratsdatenspeicherung, so gesehen, nicht zu einer Strafverfolgung durch Behörden. Doch ist es schlicht unredlich zu behaupten, die Vorratsdatenspeicherung der Dienstanbieter sei eine Tätigkeit, die unabhängig von dem Zugang und der Verwendung dieser Daten durch Strafverfolgungsbehörden betrachtet werden könne. Dem widerspricht nicht nur die weitergehende Zielsetzung der Richtlinie, welche die Vorratsdatenspeicherung gerade zum Zwecke der Verfolgung schwerer Straftaten eingeführt wissen will, Art. 1 Abs. 1. Dem widerspricht auch und gerade der Umstand, dass nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, die alle Mitgliedsstaaten als bindend anerkennen (Art. 6 Abs. 1 EUV), Privatpersonen keine Verpflichtungen unabhängig davon auferlegt werden dürfen, dass sie ein legitimes öffentliches Interesse verfolgen. Die Verpflichtung der Diensteanbieter zu einer Vorratsdatenspeicherung setzt daher voraus, dass diese in verfassungsrechtlich zulässiger Weise zur Verwirklichung legitimer hoheitlicher Zwecke genutzt wird. Sie präsupponiert daher namentlich deren Verwendung zum Zwecke der Strafverfolgung o. ä. Sie lässt sich daher nicht ohne diesen Zweckbezug auferlegen. Folglich ist ihre Zulässigkeit bedingt dadurch, dass Strafverfolgungsbehörden von Rechts wegen Zugang zu diesen Daten haben und diese auf verarbeiten dürfen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Kurz: die Verpflichtung der Diensteanbieter zu einer Vorratsdatenspeicherung im Wege der europaweiten Rechtsangleichung setzt eine Harmonisierung durch eine Maßnahme polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit in der "dritten Säule" (Art. 29 ff. EUV) voraus, wie sie ja zuvor vergeblich versucht worden ist.[12]

III.

Der EuGH sieht sich auch nicht durch sein Urteil zum Beschluss über das Abkommen mit den USA zur Übermittlung von Fluggastdaten an der hier zu besprechenden Entscheidung gehindert. In diesem Abkommen erhält eine Behörde in den USA zunächst den Zugriff auf alle Daten, welche die Fluggesellschaften in Europa über ihre Fluggäste erheben und speichern, bis ein System gefunden ist, dass die Fluggesellschaften der Behörde die entsprechenden Daten übermittelt. Zusätzlich werden die Fluggesellschaften verpflichtet, die von ihnen erhobenen Fluggastdaten in einer seitens der US-amerikanischen Behörde festgelegten Weise zu verarbeiten. Der EuGH hat hierzu festgestellt, dass es sich bei der Übermittlung der Daten um eine Datenverarbeitung handelt, die dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Strafverfolgung dient. Dementsprechend hat er die auf Art. 95 EGV gestützte Angemessenheitserklärung für nichtig erklärt.

Diese Erwägungen will der EuGH nun nicht auf seine Würdigung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung übertragen. Während es bei dem oben genannten Abkommen um eine Übermittlung von personenbezogenen Daten innerhalb eines von staatlichen Stellen geschaffenen Rahmens zum Schutze der öffentlichen Sicherheit handle, befasse sich die Richtlinie ausschließlich mit Tätigkeiten der Diensteanbieter. Diese Unterscheidung leuchtet nicht ein.[13] Zwar wurde das Abkommen zwischen hoheitlichen Stellen geschlossen. Doch die Verpflichtungen, um die es in ihm vor allen Dingen geht, bestehen in einer Indienstnahme privater Fluggesellschaften. Diese sollen nach Vorgaben der US-amerikanischen Behörde Daten in bestimmter Weise verarbeiten, zum Zugriff bereitstellen und, nachdem die technischen Voraussetzungen geschaffen sind, selbständig übermitteln. Genauso liegt es hier: Mit der Richtlinie 2006/64 EG sollen Diensteanbieter zu einer bestimmten Speicherung von Daten ihrer Kunden auf Vorrat verpflichtet werden, um vor allem die Strafverfolgung zu ermöglichen. Dass die Richtlinie selbst keine Verpflichtungen zur Regelung hoheitlichen Handelns auf diesem Gebiet enthält, ist irrelevant, weil - wie gezeigt - diese Tätigkeit vorausgesetzt werden muss, damit eine Vorratsdatenspeicherung überhaupt rechtsstaatlich zulässig privaten Diensteanbietern vorgeschrieben werden kann.

IV.

Mit seiner Entscheidung sprengt der EuGH also die Ketten, welche Art. 95 EGV der Rechtsangleichung setzt. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass er dieses Urteil an einem Tag verkündete, an dem das BVerfG über die Verfassungsbeschwerde gegen den Lissabon-Vertrag verhandelte. Die Verfassungsbeschwerde gegen die Umsetzung der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie bietet dem BVerfG nun die Gelegenheit, diesen Kompetenzanmaßungen entgegen zu treten.


[1] EuGH C-301/06, Irland gegen EP/Rat der EU, Rn. 34 = HRRS 2009 Nr. 297; m. Anm. v. W. Frenz DVBl. 2009, 354; Th. Petri EuZW 2009, 214.

[2] D. Klesczewski, in: Festschrift für Gerhard Fezer hrsg. v. E. Weßlau u. W. Wohlers, 2008, S. 19, 24 f.

[3] EuGH C 317/04 u. C-318/04, EP gegen Rat der EU, Slg. 2006, I S. 4721 = NJW 2006, 2029 (Fluggastdatenübermittlung) m. Anm. v. I. Geis, E. Geis MMR 2006, 530, P. Szczekalla DVBl 2006, 896; m. Bespr. v. A. Jour-Schröder EuZW 2006, 550; S. Simitis NJW 2006, 2011; U. Ehricke, Th. Becker, D. Walzel RDV 2006, 149.

[4] EuGH C-301/06, Irland gegen EP/Rat der EU, Rn. 60 Rn. 34 = HRRS 2009 Nr. 297; zuvor schon: EuGH C-440/05, EG Kommission gegen Rat der EU, Slg. 2007, I S. 9097, Rn. 91 = HRRS 2008 Nr. 262 (Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung durch Schiffe), m. Anm. v. J. Eisele JZ 2008, 251; I. E. Fromm ZIS 2008, 168.

[5] EuGH C-380/03, Deutschland gegen EP/Rat der EU, Slg. 2006 I S. 11573 (Tabakwerbung II.), m. Anm. v. J. F. Lindner BayVBl 2007, 304; T. Stein EuZW 2007, 54; Ch. Maierhöfer JZ 2007, 46 3.

[6] EuGH C-301/06 Irland gegen EP/Rat der EU, Rn. 50 Rn. 34 = HRRS 2009 Nr. 297; insofern zust. W. Frenz DVBl. 2009, 374.

[7] Klesczewski, aaO. (Fn. 2), S. 30 f.

[8] Vgl. EuGH C-301/06 Irland gegen EP/Rat der EU, Rn. 50 Rn. 34 = HRRS 2009 Nr. 297.

[9] EuGH, C-376/98, Deutschland gegen EP/Rat der EU, Slg. 2000, I S. 8419 = NJW 2000, 3701 (Tabakwerbung I) ; m. Anm. v. V. Götz JZ 2001, 34; K. Zapka DÖD 2001, 110; B. Wägenbaur EuZW 2000, 701; m. Bespr. v. Ch. Calliess Jura 2001, 311; R. Streinz JuS 2001, 288; vgl. w. W. Kahl, in: Ch. Callies/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 95 Rn. 17; Th. Oppermann , Europarecht, 3. Aufl. (2005), § 18 Rn. 17.

[10] EuGH, C-376/98, Deutschland gegen EP und Rat der EU, Slg. 2000, I S. 8419 = NJW 2000, 3701 (Tabakwerbung I); zust. W. Kahl, in: aaO. (Fn. 8), Art. 95 Rn. 18; D. Classen, in: Th. Oppermann/D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. (2009), § 33 Rn. 10.

[11] Vgl. EuGH C-301/06 Irland gegen EP/Rat der EU, Rn. 50 Rn. 34 = HRRS 2009 Nr. 297.

[12] Klesczewski, aaO. (Fn. 2), S. 21; auf diese Vorgeschichte weist zutreffend hin: Th. Petri EuZW 2009, 214.

[13] Genauso Th. Petri EuZW 2009, 214, 215.